Zionismus oder der Kampf um die
nationale Wiedergeburt
Von
Julius H. Schoeps
[aus: Zionismus. Texte zu seiner
Entwicklung, Dreieich, Wiesbaden 1983, hrsg. v. Julius H. Schoeps]
Zionismus und Assimilation
Die häufig geäußerte Annahme, die Juden hätten fast zwangsläufig
den Zionismus als nationale Emanzipationsbewegung begrüßen müssen, unterschätzt
zumeist den Stellenwert der Assimilation und Emanzipation in der historischen
Entwicklung. Gabriel Riesser, einer der entschiedensten Vorkämpfer der vollen
staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland, schrieb bereits
1831 in einer Streitschrift: "Wir sind nicht eingewandert, wir sind
eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf Heimat;
wir sind entweder Deutsche, oder wir sind heimatlos." [32] Dieser Ausspruch
Riessers entspricht der Einstellung der meisten Juden, die sich in Deutschland
verwurzelt fühlten und sich um die Emanzipation bemühten. Wie die historische
Entwicklung beweist, wurde zwar die staatsbürgerliche Gleichstellung
schrittweise erreicht, die Assimilation ist aber nirgendwo in diesem Sinne
geglückt, dass der Jude als solcher in der deutschen Umwelt restlos
untergegangen wäre. In vereinzelten Fällen mag Taufe und Mischehe zu einem
solchen Ergebnis geführt haben, im allgemeinen blieb aber der durch viele
Jahrhunderte gebildete und ererbte jüdische Wesenskern bei aller Anpassung des
äußeren Leben und der geistigen Einstellung erhalten. Dass ein vollständiges
Aufgehen im Deutschtum nicht erreicht wurde, ist wohl hauptsächlich damit zu
begründen, dass die Juden zwar durchaus zur Assimilation bereit waren, jedoch
nicht unter der Bedingung der völligen Aufgabe ihres Jude-Seins, was letzten
Endes von der Umwelt als unvereinbar mit der deutschen Nationalität ausgelegt
wurde. Dichter wie Heinrich Heine und Jakob Wassermann haben in ihren Schriften
Zeugnis abgelegt von der aus diesem Zwiespalt resultierenden inneren
Unsicherheit vieler Juden. Selbst Walther Rathenau, von der Möglichkeit der
Symbiose zwischen Deutschtum und Judentum zutiefst überzeugt, wurde "ein
beklommenes Gefühl der Einengung und Verlassenheit [...] nicht los" [33] und
fühlte sich immer von neuem schmerzlich daran erinnert, "dass er als Bürger
zweiter Klasse in die Welt getreten ist und dass keine Tüchtigkeit und kein
Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann." [34]
Emanzipation und Assimilation haben jenen Typus des entwurzelten Juden
geschaffen, der nirgends zugehörig, sich einer ständigen Identitätskrise befand.
Ob es nun die Entscheidung für den Zionismus oder für das Deutschtum war, beide
Einstellungen waren jeweils Ausdruck einer notwendigen persönlichen
Entscheidung, die von subjektiven Überzeugungen, Erfahrungen und Empfindungen
motiviert wurde. Es ist deshalb durchaus verständlich, dass diejenigen Juden,
die sich zur Assimilation und für das Deutschtum entschieden, sich durch eine
besondere Art gesellschaftlichen und politischen Wohlverhaltens auszeichnen
wollten. Das konnte sich in einem mitunter übertrieben und demonstrativ zu Schau
getragenen Patriotismus, getreu Rathenaus Vorschlag äußern: "Wer sein
Vaterland liebt, der darf und soll ein wenig Chauvinist sein." [35] Oder es
konnte häufig zu der politischen Tendenz führen, die jüdische Gemeinschaft
überhaupt zu verleugnen. In der Regel wollten aber die Juden, auch wenn sie sich
zu Deutschland bekannten, wie es Jakob Toury treffend zum Ausdruck gebracht hat,
"ihr jüdisches Stammes- oder religiöses Empfinden respektiert wissen, selbst
wenn sie persönlich sich dessen nur noch schwach bewusst waren." [36]
Eine Gründung wie der "Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens",
der als ein Abwehrinstrument gegen den Antisemitismus 1893 ins Leben gerufen
worden war, hatte zwar zu einem Erstarken des jüdischen Gruppenbewusstseins um
die Jahrhundertwende beigetragen, stand jedoch, als Herzls Judenstaatsgedanke
aufkam, diesem ablehnend gegenüber. Das Assimilationsjudentum sah im Zionismus
eine rückläufige Bewegung, die die Entwicklung des Judentums zu einer freien,
allweltlichen, rein universal-religiösen Gemeinschaft aufhalte. Gleichzeitig
wurde im Zionismus eine Gefahr für die staatsbürgerliche Stellung der in
Deutschland lebenden Juden erblickt, die seit der Emanzipation gerade durch
Aufgabe der nationalen Hoffnungen des Judentums errungen worden war. "Der
[zionistische] Standpunkt", so formulierte es Ludwig Holländer, "schlägt
nicht nur unsere innerste Überzeugung geradezu ins Gesicht, sondern widerspricht
auch vollkommen unseren Wünschen und unseren Hoffnungen. Er ist uns so fremd wie
möglich" [37] Noch deutlicher wird die ablehnende Haltung des
Assimilationsjudentums an Vereinigungen, wie dem "Verband nationaldeutscher
Juden" oder dem "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten", in denen sich zunehmend
national-deutsch-konservative Juden organisiert hatten, die nicht daran dachten,
Zionisten zu werden, sondern sowohl Deutsche wie Juden sein und bleiben wollten.
In diesen Verbänden wurde keinerlei historische oder kulturelle Gemeinsamkeit
mit den Millionen Juden außerhalb Deutschlands anerkannt. Die Vorstellung, die
Juden seien eine Nation unter anderen, stieß bei den nationaldeutschen Juden auf
Ablehnung.
"Jüdisch-national ist derjenige Jude", so formulierte der Berliner
Rechtsanwalt Max Naumann, "der mit jedem anderen Gliede des über die Welt
zerstreuten jüdischen Stammes sich durch unlösliche Bande des Blutes verknüpft
fühlt, der innerhalb der Gesamtheit der Menschen den engeren Kreis der
Stammesgenossen als Gefühlsgemeinschaft der Kultur eine Nationalität ableitet."
[38] Diesen Anschauungen entsprechend wurden die deutschen Zionisten vom Verband
der nationaldeutschen Juden aufgefordert, "entweder auszuwandern oder als
Fremde sich so zu verhalten wie jeder Ausländer." [39]
Die Vereinbarkeit der jüdisch-nationalen Heimstätte in Palästina mit der
Zugehörigkeit zum Wohnvaterland ist nicht nur von den
nationaldeutsch-konservativen Juden, sondern auch von vielen Zionisten als
logische Unmöglichkeit angesehen worden. Jakob Klatzkin argumentierte in diesem
Sinne, indem er auf die Unmöglichkeit hinwies, als Jude in der Diaspora zu leben
und zu wirken. Entsprechend dieser Einstellung wurde auf dem Posener
Delegiertentag 1912 gegen erbitterten Widerstand der Beschluss durchgesetzt,
dass jeder deutsche Zionist die Übersiedlung nach Palästina in sein
Lebensprogramm aufzunehmen habe.[40] Und es war ebenfalls kein Widerspruch in
dieser Einstellung, wenn manche Zionisten forderten, die Juden sollten sich der
Teilnahme an den Wahlen zu öffentlichen Körperschaften ihrer Wirtsvölker
enthalten oder nur höchstens sich daran zu beteiligen, soweit jüdische
Interessen zu vertreten wären.[41] Wenn auch die meisten Zionisten nicht so
radikal wie Klatzkin in ihrer Forderung an das Diaspora-Judentum waren, so sind
sie sich doch mit ihm in der Auffassung einig, dass der Jude nur in Palästina
ein "würdiges, freies und schöpferisches Leben" erwarten kann. Der hier
zugrundliegende Nations- und Gemeinschaftsbegriff, der Judentum und Deutschtum
voneinander ausschloss, hat zu mancherlei geistreichen und tiefsinnigen
Überlegungen Anlass gegeben. Die Gedankengänge Martin Bubers, Max Brods, Gustav
Landauers und vieler anderer sind noch heute überzeugend und lehrreich,[42]
nicht zuletzt deshalb, weil sie beweisen, dass innerhalb der zionistischen
Organisation tiefgehende Unterschiede in den Grundanschauungen über die
Beziehungen zwischen Nation, Individuum und Menschheit vorhanden waren.
Der ohne Zweifel vorhandene völkische Anspruch des Zionismus brachte die
Nationaljuden in eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den antisemitischen
deutsch-völkischen Theoretikern. Vor allem als der Nationalsozialismus in
Deutschland aufkam, hatten die Zionisten großen Zulauf, denn ihre "völkische"
Interpretation des Judentums entsprach dem herrschenden "Zeitgeist". Die nach
den Nürnberger Gesetzen ausgegebene zionistische Devise:
"Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!" [43] musste das deutschgesinnte
Judentum in völlige Ratlosigkeit versetzen und ihre schlimmsten Befürchtungen
bestätigen. Diese Devise entsprach schließlich der Forderung der deutschen
Machthaber nach Dissimilation der beiden "Völker". So paradox es klingen mag,
aber Nationalsozialisten und Zionisten haben sich hier in der Auffassung
entgegengearbeitet, das Deutschtum der Juden sei als etwas Widernatürliches zu
betrachten oder allenfalls als ein Irrtum, der schleunigst korrigiert werden
müsse.
Der Fortgang der Geschichte hat zwar die zionistische Position in vieler
Hinsicht bestätigt. Ob aber der zionistische Anspruch, nur ein nationaler
jüdischer Staat könne die Erfüllung des Judentums darstellen, nicht auf Kosten
der assimilationswilligen Juden gegangen ist, mag als Frage dahingestellt
bleiben. Die hierzu geführten Auseinandersetzungen, die die innerjüdische
Diskussion in den frühen 30er Jahren bestimmt haben, sind heute kaum mehr
nachzuvollziehen oder stoßen auf völliges Unverständnis. Fest steht aber, dass
die meisten deutschen Juden in ihrem Selbstverständnis den Prozess der
Assimilation abgeschlossen hatten. Die Bereitschaft, sich zu integrieren, war
vorhanden. Das nationalsozialistische Deutschland hat diese Bereitschaft nicht
akzeptiert - sie wird sich in dieser Vorbehaltlosigkeit so schnell nicht mehr
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Anmerkungen:
[32] Gabriel Riesser, Vertheidigung der
bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. H. E.
G. Paulus, der gesetzgebenden Versammlung Deutschlands gewidmet (Altona 1831);
abgdr. in: Gesammelte Schriften, hrsg. von M. Isler, Bd. II, Frankfurt/M. 1867,
S. 133.
[33] Siehe dazu W. Hartenau (=Walther Rathenau), "Höre Israel!", in Die Zukunft
18 (1897), S. 454-462. Wiederabgedruckt bei Walther Rathenau, Impressionen,
Leipzig 1902, S. 2-20.
[34] Walter Rathenau, Staat und Judentum, in Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin
1925, S. 188 f.
[35] Siehe unten S. 149.
[36] Jakcob Toury, Die politische Orientierung der Juden in Deutschland,
Tübingen 1966, S. 267.
[37] Ludwig Holländer, Rückblicke, in: IdR (1914), S. 301.
[38] Max Naumann, Von mosaischen und nichtmosaischen Juden, in: Der
nationaldeutsche Jude in der deutschen Umwelt, Berlin 1921, S. 8.
[39] Zit. nach dem Artikel von Robert Weltsch, Verband nationaldeutscher Juden,
in Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, Sp. 1167 f.
[40] Vgl. Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher
Zionismus, Stuttgart 1962, S. 90 ff.
[41] Vgl. Richard Lichtheim, Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954,
167.
[42] Vgl. hierzu Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im ersten
Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 77ff.
[43] Robert Weltsch, Tragt ihm mit Stolz, den gelben Fleck!, in: Jüdische
Rundschau, XXXVIII, 4. April, Nr. 27/1933. Der Artikel, der ein starkes Echo
fand und oft nachgedruckt wurde, ist mit interessanten Erklärungen und
Ergänzungen von Robert Weltsch, An der Wende des modernen Judentums.
Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen 1972, S. 21-35, noch einmal
veröffentlicht worden.
hagalil.com
28-09-05 |