Theodor Herzl / Benjamin S'ew Herzl
Der Judenstaat
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Vorrede
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Einleitung
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Allgemeiner Teil
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Die Jewish Company
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Ortsgruppen
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Society of Jews und
Judenstaat
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Schlußwort
ORTSGRUPPEN
Die Verpflanzung
Bisher wurde nur gezeigt, wie die
Auswanderung ohne wirtschaftliche Erschütterung durchzuführen ist.
Aber bei einer solchen Auswanderung gibt es auch viele starke, tiefe
Gemütsbewegungen. Es gibt alte Gewohnheiten, Erinnerungen, mit denen
wir Menschen an den Orten haften. Wir haben Wiegen, wir haben
Gräber, und man weiß, was dem jüdischen Herzen die Gräber sind. Die
Wiegen nehmen wir mit - in ihnen schlummert rosig und lächelnd
unsere Zukunft. Unsere teuren Gräber müssen wir zurücklassen - ich
glaube, von denen werden wir habsüchtiges Volk uns am schwersten
trennen. Aber es muß sein.
Schon entfernt uns die wirtschaftliche Not, der politische Druck,
der gesellschaftliche Haß aus unseren Wohnorten und von unseren
Gräbern. Die Juden ziehen schon jetzt jeden Augenblick aus einem
Land ins andere; eine starke Bewegung geht sogar übers Meer nach den
Vereinigten Staaten - wo man uns auch nicht mag. Wo wird man uns
denn mögen, solange wir keine eigene Heimat haben?
Wir wollen aber den Juden eine Heimat geben. Nicht, indem wir sie
gewaltsam aus ihrem Erdreich herausreißen. Nein, indem wir sie mit
ihrem ganzen Wurzelwerk vorsichtig ausheben und in einen besseren
Boden übersetzen. So wie wir im Wirtschaftlichen und Politischen
neue Verhältnisse schaffen wollen, so gedenken wir im Gemütlichen
alles Alte heiligzuhalten. Darüber nur wenige Andeutungen. Hier ist
die Gefahr am größten, daß der Plan für eine Schwärmerei gehalten
werde.
Und doch ist auch das möglich und wirklich, nur kommt es in der
Wirklichkeit als etwas Verworrenes und Hilfloses vor. Durch die
Organisierung kann es vernünftig werden.
Die Gruppenwanderung
Unsere Leute sollen in Gruppen
miteinander auswandern. In Gruppen von Familien und Freunden.
Niemand wird gezwungen, sich der Gruppe seines bisherigen Wohnortes
anzuschließen. Jeder kann, nachdem er seine Angelegenheiten
liquidiert hat, fahren, wie er will. Jeder tut es ja auf eigene
Kosten, in der Bahn- und Schiffsklasse, die ihm zusagt. Unsere
Bahnzüge und unsere Schiffe werden vielleicht nur eine Klasse haben.
Der Unterschied des Besitzes belästigt auf so langen Reisen die
Ärmeren. Und wenn wir auch unsere Leute nicht zu einer Unterhaltung
hinüberführen, wollen wir ihnen doch nicht unterwegs die Laune
verderben.
Im Elend wird keiner reisen. Dem eleganten Behagen hingegen soll
alles möglich sein. Man wird sich schon lange vorher verabreden - es
wird ja im günstigsten Falle noch Jahre dauern, bis die Bewegung in
einzelnen Besitzklassen in Fluß kommt -, die Wohlhabenden werden zu
Reisegesellschaften zusammentreten. Man nimmt die persönlichen
Beziehungen sämtlich mit. Wir wissen ja, daß, von den Reichsten
abgesehen, die Juden fast gar keinen Verkehr mit Christen haben. In
manchen Ländern ist es so, daß der Jude, der sich nicht ein paar
Tafelschmarotzer, Borgbrüder und Judenknechte aushält, überhaupt
keinen Christen kennt. Das Ghetto besteht innerlich fort.
Man wird sich also in den Mittelständen lange und sorgfältig zur
Abreise vorbereiten. Jeder Ort bildet seine Gruppe. In den großen
Städten bilden sich nach Bezirken mehrere, die miteinander durch
gewählte Vertreter verkehren.
Diese Bezirkseinteilung hat nichts Obligatorisches. Sie ist
eigentlich nur als Erleichterung für die Minderbemittelten gedacht
und um während der Fahrt kein Unbehagen, kein Heimweh aufkommen zu
lassen. Jeder ist frei, allein zu fahren oder sich welcher
Ortsgruppe immer anzuschließen. Die Bedingungen - nach Klassen
eingeteilt - sind für alle gleich. Wenn eine Reisegesellschaft sich
zahlreich genug organisiert, bekommt sie von der Company einen
ganzen Bahnzug und dann ein ganzes Schiff.
Für die passende Unterkunft der Ärmeren wird das Quartieramt der
Company gesorgt haben. In dem späteren Zeitpunkt, wo die
Wohlhabenden wandern, wird das erkannte, weil leicht vorauszusehende
Bedürfnis schon die Hotelbauten freier Unternehmer hervorgerufen
haben. Auch werden ja die wohlhabenden Auswanderer sich ihre
Heimstätten schon früher gebaut haben, so daß sie aus dem
verlassenen alten Hause in das fertige neue nur zu übersiedeln
brauchen.
Unserer ganzen Intelligenz brauchen wir ihre Aufgabe nicht erst
zuzuweisen. Jeder, der sich dem nationalen Gedanken anschließt, wird
wissen, wie er in seinem Kreise für die Verbreitung und Betätigung
zu wirken hat. Wir werden vornehmlich an die Mitwirkung unserer
Seelsorger appellieren.
Unsere Seelsorger
Jede Gruppe hat ihren Rabbiner, der
mit seiner Gemeinde geht. Alle gruppieren sich zwanglos. Die
Ortsgruppe bildet sich um den Rabbiner herum. So viele Rabbiner, so
viele Ortsgruppen. Die Rabbiner werden uns auch zuerst verstehen,
sich zuerst für die Sache begeistern und von der Kanzel herab die
anderen begeistern. Es brauchen keine besonderen Versammlungen mit
Geschwätz einberufen zu werden. Im Gottesdienste wird das
eingeschaltet. Und so soll es sein. Wir erkennen unsere historische
Zusammengehörigkeit nur am Glauben unserer Väter, weil wir ja längst
die Sprachen verschiedener Nationen unverlöschbar in uns aufgenommen
haben.
Die Rabbiner werden nun regelmäßig die Mitteilungen der Society und
Company erhalten und sie ihrer Gemeinde verkünden und erklären.
Israel wird für uns, für sich beten.
Vertrauensmänner der Ortsgruppen
Die Ortsgruppen werden kleine
Vertrauensmännerkommissionen unter dem Vorsitz des Rabbiners
einsetzen. Hier wird alles Praktische nach den Ortsbedürfnissen
beraten und festgesetzt werden. Die Wohltätigkeitsanstalten werden
durch die Ortsgruppen frei verpflanzt. Die Stiftungen werden auch
drüben in der ehemaligen Ortsgruppe verbleiben, die Gebäude sollten
nach meiner Ansicht nicht verkauft, sondern den christlichen
Hilfsbedürftigen der verlassenen Städte gewidmet werden. Bei der
Landverteilung drüben wird das den Ortsgruppen eingerechnet, indem
sie unentgeltlich Bauplätze und jede Bauerleichterung erhalten.
Es wird bei der Verpflanzung der Wohltätigkeitsanstalten wieder, wie
an manchen anderell Punkten dieses Planes, Gelegenheit geboten,
einen Versuch zum Wohle der ganzen Menschheit zu machen. Unsere
jetzige verworrene Privatwohltätigkeit stiftet im Verhältnis zum
gemachten Aufwand wenig Gutes. Die Wohltätigkeitsanstalten können
und müssen in ein System gebracht werden, wo sie sich gegenseitig
ergänzen. In einer neuen Gesellschaft können diese Einrichtungen aus
dem modernen Bewußtsein heraus und auf Grund aller sozialpolitischen
Erfahrungen gemacht werden. Die Sache ist für uns sehr wichtig, weil
wir viele Bettler haben. Durch den äußeren Druck, der sie mutlos
macht, und durch die weichliche Wohltätigkeit der Reichen, die sie
verwöhnt, lassen sich die schwächeren Naturen unter unseren Leuten
leicht im Bettel gehen.
Die Society wird, unterstützt von den Ortsgruppen, der
Volkserziehung in dieser Hinsicht die größte Aufmerksamkeit
zuwenden. Für viele Kräfte, die jetzt nutzlos hinwelken, wird ja ein
fruchtbarer Boden geschaffen. Wer nur den guten Willen hat, soll
angemessen verwendet werden. Bettler werden nicht geduldet. Wer als
Freier nichts tun will, kommt ins Arbeitshaus.
Hingegen wollen wir die Alten nicht ins Siechenhaus stecken. Das
Siechenhaus ist eine der grausamsten Wohltaten, die unsere alberne
Gutmütigkeit erfunden hat. Im Siechenhaus schämt und kränkt sich der
alte Mensch zu Tode. Er ist eigentlich schon begraben. Wir aber
wollen selbst denen, die auf den untersten Stufen der Intelligenz
stehen, bis ans Ende die tröstliche Illusion ihrer Nützlichkeit
lassen. Die zu körperlicher Arbeit Unfähigen sollen leichte Dienste
erhalten. Wir müssen mit den atrophierten Armen einer jetzt schon
hinwelkenden Generation rechnen. Aber die nachkommenden Generationen
sollen in der Freiheit für die Freiheit anders erzogen werden.
Wir werden für alle Lebensalter, für alle Lebensstufen die sittliche
Beseligung der Arbeit suchen. So wird unser Volk seine Tüchtigkeit
wiederfinden im Siebenstundenlande.
Stadtpläne
Die Ortsgruppen werden ihre
Bevollmächtigten zur Ortswahl delegieren. Bei der Landverteilung
wird darauf Rücksicht genommen werden, daß die schonende
Verpflanzung, die Erhaltung alles Berechtigten möglich sei.
In den Ortsgruppen werden die Stadtpläne aufliegen. Unsere Leute
werden im vorhinein wissen, wohin sie gehen, in welchen Städten, in
welchen Häusern sie wohnen werden. Es wurde schon von den Bauplänen
und verständlichen Abbildungen gesprochen, die an die Ortsgruppen zu
verteilen sind.
Wie in der Verwaltung eine straffe Zentralisierung, ist in den
Ortsgruppen die vollste Autonomie das Prinzip. Nur so kann die
Verpflanzung schmerzlos vor sich gehen.
Ich stelle mir das nicht leichter vor, als es ist; man darf es sich
auch nicht schwerer vorstellen.
Der Zug des Mittelstandes
Der Mittelstand wird unwillkürlich von
der Bewegung mit hinübergezogen. Die einen haben ihre Söhne als
Beamte der Society oder Angestellte der Company drüben. Juristen,
Mediziner, Techniker aller Zweige, junge Kaufleute, alle jüdischen
Wegsucher, die jetzt aus der Bedrängnis ihrer Vaterländer hinaus in
andere Weltteile erwerben gehen, werden sich auf dem hoffnungsvollen
Boden versammeln. Andere haben ihre Töchter an solche aufstrebenden
Leute verheiratet. Dann läßt sich von unseren jungen Leuten der eine
seine Braut, der andere seine Eltern und Geschwister nachkommen. In
neuen Kulturen heiratet man früh. Das kann der allgemeinen
Sittlichkeit nur zustatten kommen, und wir erhalten kräftigen
Nachwuchs; nicht jene schwachen Kinder spätverheirateter Väter, die
zuerst ihre Energie im Lebenskampf abgenutzt haben.
Im Mittelstande zieht jeder unserer Auswanderer andere nach sich.
Den Mutigstan gehört natürlich das Beste von der neuen Welt. Es
scheint nun freilich, als wäre hier die größte Schwierigkeit des
Planes. Selbst wenn es uns gelingt, die Judenfrage in einer ernsten
Weise zur Weltdiskussion zu stellen - selbst wenn aus dieser
Erörterung auf das bestimmteste hervorgeht, daß der Judenstaat ein
Weltbedürfnis ist - selbst wenn wir durch die Unterstützung der
Mächte die Souveränität eines Territoriums erlangten: wie bringen
wir die Judenmassen ohne Zwang aus ihren jetzigen Wohnorten in
dieses neue Land? Die Wanderung ist doch immer als eine freie
gedacht?
Das Phänomen der Menge
Ein mühsames Anfachen der Bewegung
wird wohl kaum nötig sein. Die Antisemiten besorgen das schon für
uns. Sie brauchen nur soviel zu tun wie bisher, und die
Auswanderlust der Juden wird erwachen, wo sie nicht besteht, und
sich verstärken, wo sie schon vorhanden ist. Wenn die Juden jetzt in
antisemitischen Ländern verbleiben, so geschieht das hauptsächlich
aus dem Grunde, weil selbst die historisch Ungebildeten wissen, daß
wir uns durch die zahlreichen Ortswechsel in den Jahrhunderten nie
dauernd geholfen haben. Gäbe es heute ein Land, wo man die Juden
willkommen hieße und ihnen auch viel weniger Vorteile böte, als im
Judenstaate, wenn er entsteht, gesichert sind, so fände
augenblicklich ein starker Zug von Juden dahin statt. Die Ärmsten,
die nichts zu verlieren haben, würden sich hinschleppen. Ich
behaupte aber, und jeder wird ja bei sich wissen, ob es wahr ist,
daß die Auswanderlust wegen des Druckes, der auf uns lastet, bei uns
selbst in wohlhabenden Schichten vorhanden ist. Nun würden ja schon
die Ärmsten zur Gründung des Staates genügen, ja sie sind das
tüchtigste Menschenmaterial für eine Landnahme, weil man zu großen
Unternehmungen ein bißchen Verzweiflung in sich haben muß. Aber
indem unsere Desperados durch ihr Erscheinen, durch ihre Arbeit den
Wert des Landes heben, machen sie allmählich auch für
Besitzkräftigere die Verlockung entstehen, nachzuziehen.
Immer höhere Schichten werden ein Interesse bekommen hinüberzugehen.
Den Zug der ersten, Ärmsten, werden ja Society und Company gemeinsam
leiten und dabei doch wohl die Unterstützung der schon bestehenden
Auswanderungs- und Zionsvereine finden.
Wie läßt sich eine Menge ohne Befehl nach einem Punkte hin
dirigieren?
Es gibt einzelne jüdische Wohltäter in großem Stile, welche die
Leiden der Juden durch zionistische Versuche mildern wollen. Solche
Wohltäter mußten sich schon mit dieser Frage beschäftigen, und sie
glaubten, sie zu lösen, wenn sie den Auswanderern Geld oder
Arbeitsmittel in die Hand gaben. Der Wohltäter sagte also: «Ich
zahle den Leuten, damit sie hingehen.» Das ist grundfalsch und mit
allem Gelde der Erde nicht zu erschwingen.
Die Company wird im Gegenteil sagen: «Wir zahlen ihnen nicht, wir
lassen sie zahlen. Nur setzen wir ihnen etwas vor.»
Ich will das an einem scherzhaften Beispiel anschaulich machen.
Einer dieser Wohltäter, den wir den Baron nennen wollen, und ich
möchten eine Menschenmenge an einem heißen Sonntagnachmittag auf der
Ebene von Longchamp bei Paris haben. Der Baron wird, wenn er jedem
einzelnen 10 Francs verspricht, für 200000 Francs 20000 schwitzende,
unglückliche Leute hinausbringen, die ihm fluchen werden, weil er
ihnen diese Plage auferlegte.
Ich hingegen werde diese 200000 Francs als Rennpreis aussetzen für
das schnellste Pferd - und dann lasse ich die Leute durch Schranken
von Longchamp abhalten. Wer hinein will, muß zahlen: 1 Franc, 5
Francs, 20 Francs.
Die Folge ist, daß ich eine halbe Million Menschen hinausbekomme,
der Präsident der Republik fährt à la Daumont vor, die Menge erfreut
und belustigt sich an sich selbst. Es ist für die meisten trotz
Sonnenbrand und Staub eine glückliche Bewegung im Freien, und ich
habe für die 200000 Francs eine Million an Eintrittsgeldern und
Spielsteuern eingenommen. Ich werde dieselben Leute, wann ich will,
wieder dort haben; der Baron nicht - der Baron um keinen Preis.
Ich will das Phänomen der Menge übrigens gleich ernster beim
Broterwerbe zeigen. Man versuche es einmal, in den Straßen einer
Stadt ausrufen zu lassen: «Wer in einer nach allen Seiten
freistehenden, eisernen Halle im Winter bei schrecklicher Kälte, im
Sommer bei quälender Hitze den ganzen Tag auf seinen Beinen stehen,
jeden Vorübergehenden anreden und ihm Trödelkram oder Fische oder
Obst anbieten wird, bekommt 2 fl. oder 4 Francs oder was sie
wollen.»
Wieviel Leute bekommt man wohl da hin? Wenn sie der Hunger
hintreibt, wieviel Tage halten sie aus? Wenn sie aushalten, mit
welchem Eifer werden sie wohl die Vorübergehenden zum Kaufe von
Obst, Fischen oder Trödelkram zu bestimmen versuchen?
Wir machen es anders. An den Punkten, wo ein großer Verkehr besteht,
und diese Punkte können wir um so leichter finden, als wir selbst ja
den Verkehr leiten, wohin wir wollen, an diesen Punkte errichten wir
große Hallen und nennen sie: Märkte. Wir könnten die Hallen
schlechter, gesundheitswidriger bauen als jene, und doch würden uns
die Leute hinströmen. Aber wir werden sie schöner und besser, mit
unserem ganzen Wohlwollen bauen. Und diese Leute, denen wir nichts
versprochen haben, weil wir ihnen, ohne Betrüger zu sein, nichts
versprechen können, diese braven, geschäftslustigen Leute werden
unter Scherzen einen lebhaften Marktverkehr hervorbringen. Sie
werden unermüdlich die Käufer harangieren, sie werden auf ihren
Beinen dastehen und die Müdigkeit kaum bemerken. Sie werden nicht
nur Tag um Tag herbeieilen, um die ersten zu sein, sie werden sogar
Verbände, Kartelle, alles mögliche schließen, um nur dieses
Erwerbsleben ungestört führen zu können. Und wenn sich auch am
Feierabend herausstellt, daß sie mit all der braven Arbeit nur 1 f.
50 kr. oder 3 Francs oder was sie wollen verdient haben, werden sie
doch mit Hoffnung in den nächsten Tag blicken, der vielleicht besser
sein wird.
Wir haben ihnen die Hoffnung geschenkt.
Will man wissen, wo wir die Bedürfnisse hernehmen, die wir für die
Märkte brauchen? Muß das wirklich noch gesagt werden?
Ich zeigte früher, daß durch die Assistance par le travail der
fünfzehnfache Verdienst erzeugt wird. Für eine Million fünfzehn
Millionen, für eine Milliarde fünfzehn Milliarden.
Ja, ob dies im großen auch so richtig ist wie im kleinen? Der Ertrag
des Kapitals hat doch in der Höhe eine abnehmende Progression? Ja,
des schlafenden, feige verkrochenen Kapitals, nicht der des
arbeitenden. Das arbeitende Kapital hat sogar in der Höhe eine
furchtbar zunehmende Ertragskraft. Da steckt ja die soziale Frage.
Ob das richtig ist, was ich sage? Ich rufe dafür die reichsten Juden
als Zeugen auf. Warum betreiben diese so viele verschiedene
Industrien? Warum schicken sie Leute unter die Erde, um für mageren
Lohn unter entsetzlichen Gefahren Kohle heraufzuschaffen? Ich denke
mir das nicht angenehm, auch nicht für die Grubenbesitzer. Ich
glaube ja nicht an die Herzlosigkeit der Kapitalisten und stelle
mich nicht, als ob ich es glaubte. Ich will ja nicht hetzen, sondern
versöhnen.
Brauche ich das Phänomen der Menge und wie man sie nach beliebigen
Punkten zieht auch noch an den frommen Wanderungen zu erklären?
Ich möchte niemandes heilige Empfindungen durch Worte verletzen, die
falsch ausgelegt werden könnten.
Nur kurz deute ich an, was in der mohammedanischen Welt der Zug der
Pilger nach Mekka ist, in der katholischen Welt Lourdes und so
zahllose andere Punkte, von wo Menschen durch ihren Glauben
getröstet heimkehren, und der heilige Rock zu Trier. So werden auch
wir dem tiefen Glaubensbedürfnisse unserer Leute Zielpunkte
errichten. Unsere Geistlichen werden uns ja zuerst verstehen und mit
uns gehen.
Wir wollen drüben jeden nach seiner Fasson selig werden lassen. Auch
und vor allem unsere teuren Freidenker, unser unsterbliches Heer,
das für die Menschheit immer neue Gebiete erobert.
Auf niemanden soll ein anderer Zwang ausgeübt werden als der zur
Erhaltung des Staates und der Ordnung nötige. Und dieses Nötige wird
nicht von der Willkür einer oder mehrerer Personen wechselnd
bestimmt sein, sondern in ehernen Gesetzen ruhen. Will man nun
gerade aus den von mir gewählten Beispielen folgern, daß die Menge
nur vorübergehend nach solchen Zielpunkten des Glaubens, des
Erwerbes oder des Vergnügens gezogen werden kann, so ist die
Widerlegung dieses Einwurfs einfach. Ein solcher Zeitpunkt vermag
die Massen nur anzulocken. Alle diese Anziehungspunkte zusammen sind
geeignet, sie festzuhalten und dauernd zu befriedigen. Denn diese
Anziehungspunkte bilden zusammengenommen eine große Einheit, eine
langgesuchte, nach der unser Volk nie aufgehört hat, sich zu sehnen;
für die es sich erhalten hat, für die es durch den Druck erhalten
worden ist: die freie Heimat! Wenn die Bewegung entsteht, werden wir
die einen nachziehen, die anderen uns nachfließen lassen, die
dritten werden mitgerissen, und die vierten wird man uns
nachdrängen.
Diese, die zögernden späten Nachzügler, werden hüben und drüben am
schlechtesten daran sein.
Aber die ersten, die gläubig, begeistert und tapfer hinübergehen,
werden die besten Plätze haben.
Unser Menschenmaterial
Über kein Volk sind so viel Irrtümer
verbreitet wie über die Juden. Und wir sind durch unsere
geschichtlichen Leiden so gedrückt und mutlos geworden, daß wir
diese Irrtümer selbst nachsprechen und nachglauben. Eine der
falschen Behauptungen ist die unmäßige Handelslust der Juden. Nun
ist es bekannt, daß wir dort, wo wir aufsteigende Klassenbewegung
mitmachen können, uns eilig vom Handel entfernen. Weitaus die
meisten jüdischen Kaufleute lassen ihre Söhne studieren. Daher kommt
ja die sogenannte Verjudung aller gebildeten Berufe. Aber auch in
den wirtschaftlich schwächeren Schichten ist unsere Handelslust
keineswegs so groß, wie angenommen wird. In den östlichen Ländern
Europas gibt es große Massen von Juden, die keine Handeltreibenden
sind und vor schweren Arbeiten nicht zurückschrecken. Die Society of
Jews wird in der Lage sein, eine wissenschaftlich genaue Statistik
unserer Menschenkräfte vorzubereiten. Die neuen Aufgaben und
Aussichten, die unsere Leute im neuen Lande erwarten werden die
jetzigen Handarbeiter befriedigen und viele der jetzigen kleinen
Händler zu Handarbeitern machen.
Ein Hausierer, der mit dem schweren Pack auf dem Rücken über Land
geht, fühlt sich nicht so glücklich, wie seine Verfolger glauben.
Mit dem Siebenstundentage sind alle diese Leute zu Arbeitern zu
machen. Es sind so brave, verkannte Leute und leiden jetzt
vielleicht am schwersten. Übrigens wird sich die Society of Jews von
Anfang an mit ihrer Erziehung zu Arbeitern beschäftigen. Die
Erwerbslust wird auf eine gesunde Weise anzuregen sein. Der Jude ist
sparsam, findig und erfüllt vom stärksten Familiensinn. Solche
Menschen eignen sich zu jeder Erwerbstätigkeit, und es wird genügen,
den Kleinhandel zu einem unergiebigen zu machen, um selbst die
jetzigen Hausierer davon abzubringen. Hierzu würde beispielsweise
die Begünstigung großer Kauflhäuser, in denen man alles findet,
dienen. Diese Universalkauflhäuser erdrücken schon jetzt in den
Großstädten den kleinen Handel. In einer neuen Kultur würden sie
sein Entstehen geradezu verhindern. Ihre Einrichtung hätte
gleichzeitig den Vorteil, das Land auch für Menschen mit
vorgeschrittenen Bedürfnissen sofort bewohnbar zu machen.
Kleine Gewohnheiten
Verträgt es sich mit dem Ernste dieser
Schrift, daß ich, wenn auch nur flüchtig, von den kleinen
Gewohnheiten und Bequemlichkeiten des Alltagsmenschen spreche?
Ich glaube, ja. Es ist sogar sehr wichtig. Denn diese kleinen
Gewohnheiten sind wie tausend Zwirnsfäden, von denen jeder einzelne
dünn und schwach ist - zusammen sind sie ein unzerreißbares Seil.
Auch auf diesem Punkte muß man sich von beschränkten Vorstellungen
freimachen. Wer etwas von der Welt gesehen hat, der weiß, daß gerade
die kleinen Alltagsgewohnheiten schon jetzt mit Leichtigkeit
überallhin verpflanzt werden. Ja, die technischen Errungenschaften
unserer Zeit, welche dieser Plan für die Menschlichkeit verwenden
möchte, sind bisher hauptsächlich für die kleinen Gewohnheiten
verwendet worden. Es gibt englische Hotels in Ägypten und auf den
Berggipfeln der Schweiz, Wiener Cafes in Südafrika, französische
Theater in Rußland, deutsche Opern in Amerika und das beste
bayrische Bier in Paris.
Wenn wir noch einmal aus Mizraim wandern, werden wir die
Fleischtöpfe nicht vergessen.
In jeder Ortsgruppe kann und wird jeder seine kleinen Gewohnheiten
wiederfinden, nur besser, schöner, angenehmer.
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