Hoffnung und Herausforderung:
Zionismus - 100 Jahre nach dem Tod Theodor Herzls
Von Gretel Rieber
Deutschlandradio Berlin
-
3.7.2004
Audio:
100 Jahre nach dem Tod Theodor Herzls (mp3)
(real)
Herzl ist 44 Jahre alt geworden. Er ist relativ jung
gestorben, und er hatte das Glück, wie das bei manchen Visionären ist, dass
er das Ergebnis seiner Visionen nicht miterlebt hat. Das, was an Konflikten
damit verbunden war, konnte Herzl nicht voraussehen, und es gibt einen Satz,
eine Formulierung, die zu mancherlei Spekulationen Anlass gegeben hat, den
Herzl drei Wochen vor seinem Tod in einem Brief geschrieben hat, der
gerichtet war an seinen Freund David Wolffsohn und seinen Nachfolger in der
zionistischen Bewegung, diese Formulierung heißt: 'Macht keinen Unsinn,
während ich tot bin.
Julius Schoeps, Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Moses
Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität
Potsdam. Schon zu Lebzeiten Herzls hatten die Zionisten heftig über
Strategie, Inhalte und Ziele ihrer Bewegung gestritten. Und die
Auseinandersetzung dauert bis heute an, 100 Jahre nach Herzls Tod. Es ist
ein Streit zwischen Ideologen und Pragmatikern, religiösen und säkularen
Juden, Linken und Rechten. Nicht zuletzt geht es darum, ob der Zionismus
heute überhaupt noch eine Daseinsberechtigung hat. Professor Moshe
Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem:
Der Zionismus Theodor Herzls ist bereits tot. Was wir heute erleben, ist
eine Art Postzionismus. Das heißt, es sind neue Inhalte unter einem alten
Hut. Theodor Herzl beabsichtigte hier einen liberalen Nationalstaat zu
gründen. Was sich im Moment Zionismus nennt, ist eher nicht liberal, nicht
tolerant, sehr kämpferisch, sehr konflikt-orientiert. Die Vorreiter des
Zionismus vor hundert Jahren etwa haben sich einen Staat vorgestellt ohne
Kanonen und ohne Kanonenboote, das heißt ohne Krieg, ohne Waffen, eine
Betonung der Kultur - von dem gibt es im heutigen Zionismus wenig.
Was also bedeutet Zionismus der israelischen Öffentlichkeit heute noch, 100
Jahre nach Herzls Tod? Dazu David Witzthum, ein populärer Fernsehjournalist
und Moderator, der lange als Korrespondent in Deutschland gearbeitet hat:
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil Zionismus zurzeit in Israel
eigentlich keine große Bedeutung hat. Ich glaube, diese Idee von Herzl wird
jetzt von einer Mehrheit der Israelis in Praxis betrachtet als eine
Übergangsidee.
Einer der Vorwürfe von Kritikern außerhalb und auch innerhalb Israels
lautet, der Zionismus sei von Anbeginn kolonialistisch und rassistisch
gewesen, und dies habe sich bis heute nicht geändert. So einfach, sagt Moshe
Zimmermann, ist es nicht:
Also man muss erst mal unterscheiden zwischen Zionismus damals und
Zionismus heute, Zionismus auf dem rechten Flügel und Zionismus auf dem
linken Flügel. Wenn man die Unterschiede beobachtet, dann ist jede Art von
Pauschalisierung von vorne herein unwahr. Man kann aber sagen, dass es im
heutigen Zionismus Strömungen gibt, die ethnozentrisch, sogar rassistisch
sind, und die man deswegen kritisieren darf. Aber man muss sehr vorsichtig
sein mit einem Pauschalurteil über den Zionismus gleich Rassismus, das ist
selbstverständlich unfundiert.
Für ausgesprochen gefährlich hält Zimmermann jedoch die Bestrebungen der
politischen Rechten in Israel, das Land als heilig zu betrachten, die Bibel,
wie es oft heißt, als Grundbuch zu missbrauchen. Eine Auffassung, die dem
Zionismus eines Theodor Herzl fremd gewesen sei:
Die Zionisten um Herzl haben keine allzu große Achtung gehabt für das
Territorium als Heiligtum des jüdischen Nationalismus, das hat sich total
gewandelt. Heute gibt es starke Kräfte im Zionismus, den ich Postzionismus
nenne, die vor allem auf der Heiligkeit des Territoriums beharren und
deswegen nicht bereit sind, auf die besetzen Gebiete zu verzichten.
Amnon Rubinstein ist Dekan der juristischen Fakultät einer renommierten
Privatuniversität in Herzliyah, der Stadt, die nach Theodor Herzl benannt
wurde. Er hat eine kenntnisreiche, auch ins Deutsche übersetzte Geschichte
des Zionismus geschrieben, war als Abgeordneter der Knesset Vorsitzender der
Ethik-Kommission und liberaler Minister in verschiedenen israelischen
Kabinetten, zuletzt unter Jizchak Rabin. Er sieht weder im heutigen noch im
historischen Zionismus kolonialistische oder gar rassistische Züge:
Israel ist keine rassistische Gesellschaft. Israel kämpft einen harten
Kampf um sein Überleben, aber es ist nicht rassistisch. Zu behaupten, es sei
ein Apartheidsregime, ist barer Unsinn, es ist einfach nicht wahr. Und es
ist nicht kolonialistisch gewesen, denn die Juden sind nicht als Schößlinge
von Kolonialmächten hierher gekommen, sie haben auch die hier ansässigen
Araber nicht als billige Arbeitskräfte beschäftigt, was das Hauptmerkmal
einer Kolonialmacht ist.
Mitte Juni fand in Wien ein Symposium aus Anlass des 100. Todestages von
Theodor Herzl statt. Zur Eröffnung sagte der österreichische Präsident
Thomas Klestil, das Vermächtnis Herzls gelte nicht nur einem staatlichen
Territorium, sondern auch der Aussöhnung von Feinden und einer weltweiten
sozialen Gerechtigkeit. Dieser humanitäre und soziale Aspekt des Herzl'schen
Zionismus wird heute oft übersehen. - Theodor Herzl starb am 3. Juli 1904 im
österreichischen Edlach am Semmering. Im August 1949, ein Jahr nach der
Staatsgründung und rund 50 Jahre nach dem Ersten Baseler Zionistenkongress,
wurde seine Leiche nach Israel überführt. Herzl war ein ziemlich erfolgloser
Theaterautor, ein Caféhausbohemien. Er litt an Depressionen, war
arbeitssüchtig und führte eine schlechte Ehe. Aber er war auch ein guter
Journalist und vor allem ein charismatischer Visionär, dem es gelang, seine
Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
Seine Persönlichkeit ist schwer zu beschreiben, sie ist schillernd. Er
ist ein Sohn der Donaumonarchie, ein Kind seiner Zeit, die in sich schon
sehr problematisch gewesen ist. Und im Grunde hat Herzl nur das
wiedergegeben, was seine Zeit ausmachte. Er war Jude, er war Wiener, geboren
in Budapest, er war ein assimilierter Jude, der die Idee hatte, es sei
notwendig und möglich, die Judenfrage, wie das damals genannt wurde, zu
lösen. Und dafür hat er mehrere Konzepte entwickelt. Zunächst einmal hatte
er die Idee gehabt, alle Juden zu taufen und zwar im Stefansdom in Wien. Er
selbst wollte vor den Toren des Stefansdoms stehen bleiben und sich nicht
taufen lassen.
Diese Idee der völligen Assimilation, von der er glaubte, sie könne die
Juden vor antisemitischer Anfeindung und Verfolgung schützen, machte Herzl
1892 öffentlich. Vier Jahre später, 1896, beobachtete er als Korrespondent
für die Wiener Neue Freie Presse in Paris den ersten Prozess gegen den
jüdischen Hauptmann Dreyfuss. Und erlebte, wie die aufgeputschte Menge vor
dem Justizgebäude schrie "Tod dem Verräter! Tod den Juden". Das waren
Schlüsselerlebnisse, die ihn erschütterten und nachhaltig verwandelten, die
seine Illusionen, die Assimilation sei ein Heilmittel gegen den
Antisemitismus, auf immer zerstörten:
Unter dem Eindruck dieses Prozesses und unter dem Eindruck der
Degradierung des Hauptmann Dreyfuss, der angeklagt gewesen ist, für die
Deutschen spioniert zu haben, unter dem Eindruck dieser antisemitisch
aufgeladenen Atmosphäre ist er zum Zionisten geworden.
Seit 1882 hatten sich in Russland, als Reaktion auf zahlreiche blutige
Pogrome, vielerorts Vereine der Chovevei Zion, der
Freunde Zions gegründet: Sie sammelten Geld für die Auswanderung nach
Erez Israel, ins Land Israel, das damals unter türkischer Herrschaft
stehende Palästina. Herzl begeisterte sich für die Gedanken der Zionisten,
er griff die Idee einer Heimstatt und Zuflucht für die verfolgten Juden auf
und fasste sie 1896 in der Schrift Der Judenstaat
zusammen. Herzl beschloss, einen Zionistischen Weltkongress einzuberufen: Im
August 1897 sollte er in Basel stattfinden. Viele schlossen sich ihm
begeistert an. Aber es gab auch heftigen Widerstand in der zionistischen
Bewegung. Die Gegner empörten sich darüber, dass Herzl die so genannte
"Judenfrage" öffentlich erörtern wollte. Damit, so die Kritiker, gäbe er den
Antisemiten Recht, die Juden seien ein Volk und nicht nur eine
Religionsgemeinschaft. Doch trotz aller Widerstände fand der Erste
Zionistische Weltkongress statt. David Wolffsohn hatte die Flagge dafür
entworfen, die 51 Jahre später die israelische Staatsflagge werden sollte.
Am 3. September 1897, dem sechsten Tag nach Eröffnung des Kongresses,
notierte Herzl in seinem Tagebuch:
Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen - das ich mich hüten
werde, öffentlich auszusprechen - so ist es dieses: in Basel habe ich den
Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein
universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in
fünfzig wird es jeder einsehen.
Wenn man auf der Autobahn von Tel Aviv kommend nach Norden fährt und
Herzliyah durchquert, kann man nicht umhin, den städtischen Wasserturm zu
bemerken mit der riesigen Blechsilhouette des schwarz gekleideten,
schwarzbärtigen Theodor Herzl darauf. Der israelische Journalist Tom Segev
erzählt in seinem Buch "Elvis in Jerusalem" eine Anekdote über das Denkmal:
Einige Jahre nachdem die Skulptur aufgestellt worden war, musste sie
repariert werden. Für die Dauer der Arbeiten hing am Wasserturm ein großes
Schild, auf dem gut sichtbar der Name des Bauunternehmers stand: Mohammed
Mahamid, ein israelischer Araber.
Das hätte Herzl sicher gefallen. Er war davon überzeugt, dass die Araber
sich mit Freuden der neuen zionistischen Gesellschaft anschließen würden,
erlöst von ihrem armseligen Fellachen-Dasein auf den vernachlässigten,
malariaverseuchten Latifundien der türkischen Großgrundbesitzer. In seinem
1902 veröffentlichten utopischen Roman "Altneuland", den er in das Jahr 1923
projiziert hatte und dem er das berühmt gewordene Vorwort gab: "Wenn ihr
wollt, ist es kein Märchen", lässt er einen Araber sagen:
Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nicht nimmt,
sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert. Warum sollten wir
ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder. Warum sollten wir sie nicht
lieben?
Dazu Julius Schoeps:
Die Araber, die er beschreibt, das ist nicht eine Bevölkerung, die er als
nationale Ethnie ansieht, sondern Fellachen, die dort leben, und froh und
glücklich sind, dass die Juden ins Land kommen. Um die Jahrhundertwende, um
1900, glaubte man tatsächlich noch, man bringe die Kultur aus Europa in den
Nahen Osten. Wie sich dann zeigen sollte, war das ein falsches Denken
gewesen, und hat zu heftigen Problemen geführt.
Lange haben die zionistische Geschichtsschreibung und die israelische
Öffentlichkeit die Meinung vertreten, die Araber jener Gebiete, die den
Juden 1947 von der UNO zugeschrieben worden waren, hätten nach der
Staatsgründung im Mai 1948 ihre Städte und Dörfer freiwillig verlassen. Sie
hätten den benachbarten arabischen Staaten vertraut, die Israel unmittelbar
nach der Staatsgründung angriffen und ihnen einen baldigen Sieg über Israel
und die Rückkehr in ihre Heimat versprachen. 1987 aber veröffentlichte der
israelische Historiker Benny Morris das Buch "Die Geburt des
Palästinensischen Flüchtlingsproblems", in dem er Zeugenaussagen von Arabern
gesammelt hat, die von Mord, Vergewaltigung und Vertreibung berichten.
Morris wurde durch die Veröffentlichung dieses Buches zum Wortführer der so
genannten Neuen Historiker: Sie sprechen von der "Erbsünde" des Zionismus
und haben sich zum Ziel gesetzt, den zionistischen Mythos, wie sie es
nennen, zu zerstören. Benny Morris hat im Januar 2004 allerdings eine
radikale Kehrtwendung vollzogen und seine Anhänger damit schockiert. In
einem Interview, das er der liberalen israelischen Zeitung
Ha'aretz gegeben hat, sagte er, er sei immer Zionist gewesen:
Der Zionismus war kein Fehler. Das Bedürfnis, einen Jüdischen Staat zu
errichten, war legitim, war positiv. Ohne eine Vertreibung der Palästinenser
hätte es hier keinen jüdischen Staat geben können. Ich bin nicht der
Meinung, dass die Vertreibung von 1948 ein Kriegsverbrechen war, eine
Gesellschaft die darauf aus ist, dich zu vernichten, zwingt dich dazu, sie
zu vernichten. Wenn man nur die Wahl hat, zu vernichten oder selbst
vernichtet zu werden, dann ist es besser, zu vernichten.
Einige Kritiker sprechen dem israelischen Staat rundweg die
Daseinsberechtigung ab. Immer wieder werden Stimmen laut, ein Zufluchtsort
für die Juden sei nicht mehr nötig, weil es keinen Antisemitismus und keine
Verfolgung mehr gäbe, die Idee des Nationalstaates sei ein Relikt aus dem
19. Jahrhundert.
Ich kann die Auffassung von Historikern verstehen, wenn sie sagen, der
Nationalstaat hat sehr viel Unheil angerichtet, wir wollen deshalb keinen
weiteren Nationalstaat in Betracht ziehen. Dieselben Historiker unterstützen
die Idee eines arabisch-muslimischen Staates, und sind gleichzeitig gegen
einen jüdischen Staat. Das ist inkonsequent. Nur den Juden das Recht auf
Selbstbestimmung abzusprechen, hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun. Das
ist Rassismus.
Theodor Herzl hatte anfangs nicht an einen Nationalstaat gedacht, sondern
eher an ein geschütztes Territorium, ein Protektorat. Die Idee, dieses
Territorium in Uganda anzusiedeln, gab er schon bald auf und konzentrierte
sich auf das historische Heimatland der Juden, auf das damals unter
türkischer Herrschaft stehende Palästina. Dort sollte Land gekauft,
Siedlungen sollten gegründet werden. Herzls Idee war ein Refugium vor
Verfolgung und Diskriminierung, eine Heimstätte aller Juden, die auf
sozialer Gerechtigkeit und Humanität beruhen sollte. Er versuchte sogar,
Kaiser Wilhelm II für seine Idee zu gewinnen.
Der Kaiser sollte beim türkischen Sultan ein gutes Wort für ihn einlegen.
Doch daraus wurde nichts. Bis zur Staatsgründung 1948, die durch den
Teilungsbeschluss der UNO ermöglicht worden war, gab es über das Land
verstreute jüdische Ansiedlungen, vor allem Kibbuzim und Moschavim, aber
eben kein Protektorat auf osmanischem Boden und später im britischen
Mandatsgebiet, kein zusammenhängendes Territorium. Herzl und die Zionisten,
das betont Professor Rubinstein, wollten eine Heimat für die Juden schaffen,
aber keinen neuen Tempel und keine neuen Gesetzestafeln. Sie wollten sich
als gute Nachbarn in die Familie der Nationen einreihen.
Die Hauptströmung im Zionismus, zu der Herzl gehörte, Max Nordau,
Weizmann, Jabotinsky, Ben Gurion, all die alten Gründerväter, war ein
säkulares Judentum, kein religiöses. Das war die Hauptsache. Und zweitens
erstrebte Herzl internationale Legitimität für das jüdische Heimatland.
Die fortdauernde Besetzung des palästinensischen Territoriums hält
Rubinstein deshalb für unvereinbar mit dem Geist des Zionismus.
Herzl wollte ein Heimatland für die Juden, er war ein
säkularer liberaler Europäer, und ich denke, die Mehrheit der Israelis denkt
so wie er. Sie wollen eine tolerante Heimat, sie wollen nicht in einem
heiligen Land leben. Und das ist der Unterschied zwischen der religiösen
Rechten und der Mehrheit der Israelis. Die meisten Israelis wollen ihr
Judentum nicht aufgeben, sie sind stolz auf ihre Sprache, ihre Traditionen,
sie wollen die jüdischen Feiertage nicht aufgeben, Jom Kippur und Pessach,
aber sie wollen kein fanatischer religiöser Stamm sein. Sie wollen sich
anderen Gesellschaften, anderen Menschen öffnen, sie wollen in einer
demokratischen, toleranten Gesellschaft leben. Aber wir müssen wohl noch
weitere hundert Jahre warten, bis wir wissen, ob das möglich ist.

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07-07-04 |