Der Zionismus stieß zu Beginn auf breite
Ablehnung innerhalb der jüdischen Welt, vor allem aus religiösen Gründen. Der
Zionismus wurde als säkulare Version des Messianismus verdammt. Sorge bestand
auch, dass der Zionismus die mühsam erreichten Errungenschaften der
gesellschaftlichen Emanzipation zerstören könnte. So veröffentlichten
beispielsweise die von Herzl daraufhin als "Protestrabbiner" bezeichneten
Rabbiner Maybaum (Berlin), Horovitz (Frankfurt), Guttmann (Breslau), Auerbach
(Halberstadt) und Werner (München), Mitglieder des Vorstandes des
Rabbinerverbandes in Deutschland, eine Erklärung in deutschen Tageszeitungen.
Herzl entschloss sich daraufhin, den ursprünglich in München geplanten Kongress
in Basel einzuberufen.
Theodor Herzl:
Protestrabbiner
(16. Juli 1897)
Das neueste in der Judenbewegung sind die
Protestrabbiner. Max Nordau hat diesen Typus bereits mit einem Wort
gebrandmarkt, das bleiben wird: Es sind die Leute, die im sicheren Boot sitzen
und den Ertrinkenden, die sich an den Bootrand klammern möchten, mit dem Ruder
auf die Köpfe schlagen. So ist schon der gewöhnliche aggressive jüdische
Zionsfeind. Nimmt man noch die Anstellung als "Seelsorger" einer größeren
Gemeinde hinzu, so ist der Protestrabbiner fertig. Fünf solche Protestrabbiner
haben im "Berliner Tageblatt" und an anderen Orten die nachstehende Erklärung
erlassen:
Der geschäftsführende Vorstand des
Rabbinerverbandes in Deutschland: Dr. Maybaum (Berlin), Dr. Horovitz
(Frankfurt), Dr. Guttmann (Breslau), Dr. Auerbach (Halberstadt), Dr. Werner
(München) veröffentlicht folgende Erklärung: "Durch die Einberufung eines
Zionisten-Kongresses und durch die Veröffentlichung seiner Tagesordnung sind
so irrige Vorstellungen über den Lehrinhalt des Judentums und über die
Bestrebungen seiner Bekenner verbreitet worden, daß der unterzeichnete
Vorstand des Rabbinerverbandes in Deutschland es für geboten erachtet,
folgende Erklärung abzugeben:
1. Die Bestrebungen sogenannter Zionisten,
in Palästina einen jüdisch-nationalen Staat zu gründen, widersprechen den
messianischen Verheißungen des Judentums, wie sie in der heiligen Schrift
und den späteren Religionsquellen enthalten sind.
2. Das Judentum verpflichtet seine
Bekenner, dem Vaterlande, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen
und dessen nationale Interessen mit ganzem Herzen und mit allen Kräften zu
fördern.
3. Mit dieser Verpflichtung aber stehen
nicht im Widerspruch jene edlen Bestrebungen, welche auf die Kolonisation
Palästinas durch jüdische Ackerbauer abzielen, weil sie zur Gründung eines
nationalen Staates keinerlei Beziehungen haben.
Religion und Vaterlandsliebe legen uns
daher in gleicher Weise die Pflicht auf, alle, denen das Wohl des Judentums
am Herzen liegt, zu bitten, daß sie sich von den vorerwähnten zionistischen
Bestrebungen und ganz besonders von dem trotz aller Abmahnungen noch immer
geplanten Kongreß fern halten."
Das ist ein merkwürdiges Dokument. Der erste
Eindruck, den wir davon haben, ist, daß es das Ansehen der Juden nicht gerade
erhöhen wird. Die ganze Erklärung ist ja, wie jeder Jude auf den ersten Blick
sieht, nach außen hin gewendet. Es ist eine jener verächtlichen und verachteten
Beteuerungen, die um die Gunst der Feinde winseln.
Zum Glück sind nicht alle Rabbiner so. Namen,
wie die von Mohilewer in Bialystok, Zadok Kahn in Paris, Rülf in Memel, Gaster
in London und viele, viele andere können wir nur in aufrichtiger Verehrung
nennen. Und wir tun es nicht als Parteileute. Der Zionismus ist keine Partei.
Man kann zu ihm von allen Parteien kommen, gleichwie er alle Parteien eines
Volkslebens umfaßt. Der Zionismus ist das jüdische Volk unterwegs. Und darum ist
das Verhalten der Protestrabbiner ein ungeheuerliches.
Will einer von der jüdischen Nation, aus der er
stammt, sich wegwenden und zu einem anderen Volk übergehen, so mag er es nur
tun. Wir Zionisten werden ihn nicht aufhalten. Nur ist er ein Fremder für uns.
Seine neuen Volksangelegenheiten kümmern uns nicht näher, aber auch ihn nicht
die unserigen. Er hat bei uns nichts dreinzureden, und wenn er klug ist, wird er
es auch gar nicht versuchen, denn es kann ihn bei Teutonen, Galliern,
Angelsachsen nur verdächtig machen, wenn er sich noch um innere jüdische Sachen
sorgt. Will er für seine assimilatorische Lösung der Judenfrage Genossen werben,
so ist dazu das beste Mittel, daß er zeige, wie gut man ihn aufnimmt, wie voll
man ihn anerkennt, wie wohl er sich befindet.
Aber dem Judentum angehören, das Judentum
sozusagen berufsmäßig ausüben und es gleichzeitig bekämpfen, das ist etwas,
wogegen sich jedes rechtliche Gefühl auflehnen muß.
Sehen wir uns nun Punkt für Punkt die
"Erklärung" der fünf Herren an. Sie beruht auf einer fundamentalen Unwahrheit.
Die fünf Herren geben an, daß "durch die Einberufung eines Zionistenkongresses
so irrige Vorstellungen über den Lehrinhalt des Judentums und über die
Bestrebungen seiner Bekenner verbreitet worden" seien. Wo haben die fünf Herren
in der "Einberufung" oder in der Tagesordnung des Kongresses irgend einen
Hinweis auf den "Lehrinhalt des Judentums" gelesen? Davon steht kein Wort, keine
auch nur entfernte Andeutung in den Verlautbarungen der Einberufer. Folglich
kann an den "so irrigen Vorstellungen über den Lehrinhalt", den diese fünf
Herren zu kennen angeben, auch etwas anderes Schuld sein, als die Einberufung
des Kongresses. Die fünf Herren müssen übrigens recht herzlich gelacht haben,
als sie die "so irrigen Vorstellungen über den Lehrinhalt usw." zum Vorwand
nahmen. Und sie gehen nun zu Punkt 1 über. "Die Bestrebungen sogenannter
Zionisten usw." "Sogenannt" ist gut, "sogenannt" ist sogar sehr gut. Es ist
Ironie darin. Spätere Kommentatoren werden Punkt 1 der Erklärung den ironischen
nennen. Was mögen die fünf Herren wohl für ein Gesicht dazu gemacht haben, als
sie die "messianischen Verheißungen des Judentums" in den Mund nahmen? Wir
wissen ja schon, wie sie alles in sein Gegenteil drehen und umdeuten. Wenn sie
von Zion sprechen, ist alles darunter zu verstehen, nur um Gottes willen nicht
Zion.
Es ist uns von einem ebenso wahrhaft frommen
wie gelehrten Manne eine gründliche Widerlegung dieses ersten Punktes zur
Verfügung gestellt worden. Gerade aus der heiligen Schrift und den späteren
Religionsquellen beweist unser Freund die Richtigkeit der zionistischen
Bestrebungen. Aber wir versagen es uns, diese Gründe ins Treffen führen zu
lassen, weil es sich nicht um eine theologische Diskussion handelt.
Und nun kommen wir zu Punkt 2. Was soll das
heißen, wenn "das Judentum seine Bekenner verpflichtet, dem Vaterlande, dem sie
angehören, mit aller Hingebung zu dienen" usw.? Das hat doch nur einen
denunziatorischen Sinn. Man merkt übrigens, daß die Wiege des Herrn Maybaum
nicht in Deutschland gestanden hat. Die Protestrabbiner von Frankfurt, Breslau,
Halberstadt und München halten einen des Deutschen mächtigeren Schriftsteller
mit der Abfassung der Urkunde betrauen sollen. Ein Deutscher schriebe nie: "das
Vaterland, dem ich angehöre", sondern "mein Vaterland", "dein Vaterland", "ihr
Vaterland". Man gehört einem Vaterland nicht an, sondern es gehört einem; jedem
einzelnem gehört das ganze Vaterland. Wem aber sein Vaterland nicht gehört, der
ist übel dran. Er liebt es darum noch immer, weil er eben nicht aufhören kann,
es zu lieben. Diese Liebe äußert sich nicht in hohlen Deklamationen, sie
schließt jede Opferbereitschaft ein; aber sie schließt nicht aus, daß sich die
Energischen auf sich selbst besinnen und nach einer Lösung suchen, durch die
Abhilfe geschaffen werden kann. Und es ist durchaus keine! Spitzfindigkeit in
der Auffassung der Zionisten: daß jeder seinem Vaterland ebensosehr diene, wie
der Nation, der er angehört — hier ist das Wort am Platze wenn er den inneren
Frieden der Bürgerschaft durch eine vernünftige und moderne
Kolonisationsbewegung herbeizuführen trachtet.
Die fünf Herren verbeugen sich übrigens beim
dritten Punkt, welchen man den ausweichenden nennen kann, auch vor den "edlen
Bestrebungen", jüdische Ackerbauer in Palästina anzusiedeln. Und das enthält
eine leichte aber verständliche Augendienerei gegenüber gewissen wohlhabenden
Glaubensgenossen, die für die Kolonisation große Opfer bringen wollen. Wir
Zionisten halten nun freilich die Bauernansiedlung für törichter als edel, wenn
es ohne völkerrechtliche Garantien geschieht. Wir wollen ja unsere armen,
schwerbedrückten, verfolgten Brüder nicht nur in der Hast fortschaffen, sondern
auch ihre Zukunft sichern. Und daß wir diese Garantien herstellen wollen, das
wagt man zu verdächtigen, anzugreifen?
Die fünf Herren schließen mit der dringenden
Aufforderung, man möge sich von dem "trotz aller Abmahnungen noch immer
geplanten Kongreß" fernhalten. Die Herren mögen abmahnen, so viel sie wollen,
der Kongreß findet statt, weil er stattfinden muß, weil das zerstreute Volk
seiner mit Sehnsucht und Hoffnung harrt. Beispiellos ist die Lage der Juden, und
es wäre uns versagt, darüber in Ruhe und vollster Gesetzlichkeit, unter den
Augen aller Welt zu beraten? Welcher rechtschaffene Christ wird darin etwas
Tadelnswertes finden? Wenn unsere Bestrebungen keine Sympathien erwecken, so
werden uns die Mächtigen dieser Erde einfach nicht unterstützen, so werden uns
die Völker nicht bei dem Erlösungswerke helfen — und der Jammer wird eben
fortdauern. Wessen Lage verschlechtern wir damit? Gibt es einen einzigen
Vorwurf, den man uns nicht schon früher machte? Die Brand- und Hetzreden, die
neunundneunzigmal gegen uns geführt wurden, wird man zum hundertsten Male
halten. Aber auch das glauben wir nicht. Wir haben deutliche Zeichen dafür, daß
unsere Loyalität und Offenheit selbst unseren Gegnern, vor die wir ruhig
hintreten, nicht mißfällt. Schließlich spricht doch ein großes Leiden aus
unserer Bewegung, und mit dem Menschlichen findet man immer den Weg zum Herzen
der Menschen. Wer wird es uns verübeln, wenn wir, die zumeist nicht unmittelbar
betroffen sind, am namenlosen Elend unserer Brüder nicht kalt vorübergehen?
Wo aber waren und sind die Protestrabbiner mit
ihren Protesten, wenn unglückliche Juden, unglücklich nur, weil sie Juden sind,
beschimpft, beraubt und erschlagen wurden und werden? Jetzt in Algier, und jetzt
in Rußland, bald in Persien und bald in Galizien, hier und dort und überall
Klagerufe. Und die Protestrabbiner murmeln dann höchstens in ihren
Verdauungsstunden etwas von einer Mission; von einer Mission, die der krasseste
Hochmut wäre, wenn sie überhaupt etwas bedeutete, denn die Kulturvölker würden
und müßten sich entschieden verbieten, von uns missionarisiert zu werden. Wenn
es eine jüdische Mission gab, so war das Christentum, und das ist auf die Herren
Protestrabbiner nicht mehr angewiesen.
Der Zionismus aber, das sehen wir immer
deutlicher, wird zu einer heilsamen Krise des Judentums werden. Die Gegensätze,
die entstehen, müssen zu einer Klärung verrotteter Verhältnisse, und endlich zu
einer Läuterung des Volkscharakters führen. Alles ist zum Guten. Es ist auch zum
Guten, daß manche Rabbiner gegen ihr eigenes Volk eine solche Stellung
einnehmen. Und wäre es auch nur, daß eine neue Bezeichnung für diese Herren
gewonnen wurde, so ist auch das schon von Wert. Ein Mohilewer, ein Hülf, edle,
bewundernswerte Männer, die in ihren treuen Herzen jedes Leid ihrer armen
Glaubensgenossen mitlitten, die mitten drin im Volke stellen, wo es am
schwersten verfolgt wird - sie hießen nicht anders als der erstbeste Hochzeits-
oder Leichenredner. Jetzt haben wir die Unterscheidung. Damit sie fürder nicht
mit den guten Rabbinern verwechselt werden, wollen wir die Angestellten der
Synagoge, die sich gegen die Erlösung ihres Volkes wehnen, die Protestrabbiner
nennen.
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26-04-04 |