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Judentum und Israel
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Theodor Herzl:
Eröffnungsrede zum ersten Kongreß
(Basel, 29. August 1897)

Geehrte Kongressmitglieder! Als einem der Einberufer dieses Kongresses ist mir die Ehre zugefallen, Sie zu begrüßen. Ich will es mit wenigen Worten tun, denn jeder von uns dient der Sache gut, wenn er mit den kostbaren Minuten des Kongresses spart. In drei Tagen haben wir viel Wichtiges zu besorgen. Wir wollen den Grundstein legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird. Die Sache ist so groß, daß wir nur in den einfachsten Worten von ihr sprechen sollen. Soweit es sich jetzt schon beurteilen läßt, wird in diesen drei Tagen eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Judenfrage geliefert werden. Der gewaltige Stoff gliedert sich unter der Hand unserer Referenten.

Wir werden Berichte hören über die Lage der Juden in den einzelnen Ländern. Sie alle wissen, wenn auch vielleicht nur in einer unbestimmten Weise, daß diese Lage mit wenigen Ausnahmen eine nicht erfreuliche ist. Wir fänden uns wohl kaum zusammen, wenn es anders wäre. Die Gemeinsamkeit unserer Geschicke hat eine lange Unterbrechung erlitten, obwohl die versprengten Teile des jüdischen Volkes allenthalben Ähnliches erdulden mußten. Erst in unserer Zeit ist durch die neuen Wunder des Verkehrs die Möglichkeit einer Verständigung und Verbindung der Getrennten gegeben. Und in dieser Zeit, die sonst so hoch ist, sehen, fühlen wir uns überall vom alten Haß Hingeben. Antisemitismus ist der Ihnen nur zu wohlbekannte moderne Name der Bewegung. Der erste Eindruck, den die Juden von heute davon hatten, war Überraschung, die in Schmerz und Zorn überging. Unsere Gegner wissen vielleicht gar nicht wie tief im Innersten sie gerade diejenigen unter uns verletzt haben, die sie möglicherweise nicht in erster Linie treffen wollten. Das moderne, gebildete, dem Ghetto entwachsene, des Schachern entwöhnte Judentum bekam einen Stich mitten ins Herz. Wir können das heute ruhig sagen, ohne uns verdächtig zu machen, daß wir an die Tränendrüsen unserer Gegner appellieren wollen. Wir sind mit uns im Reinen.

Man war in der Welt von jeher schlecht über uns unterrichtet. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, welches man uns so häufig und grimmig vorwarf, es war in voller Auflösung begriffen, als uns der Antisemitismus anfiel. Dieser hat es wieder gestärkt. Wir sind sozusagen nach Hause gegangen. Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland. Wir heimgekehrten Söhne finden im väterlichen Hause manches, was der Besserung dringend bedarf; wir haben namentlich Brüder auf tiefen Stufen des Elends. Man heißt uns aber in der alten Hause willkommen, weil es wohl bekannt ist, daß wir nicht den vermessenen Gedanken hegen, an Ehrwürdigem zu rütteln. Das wird sich bei der Entwicklung des zionistischen Programmes zeigen.

Schon hat der Zionismus etwas Merkwürdiges, ehedem für unmöglich Gehaltenes zuwege gebracht: die enge Verbindung der modernsten Elemente des Judentums mit den konservativsten. Da sich dies ereignet hat, ohne daß von der einen oder der anderen Seite unwürdige Konzessionen gemacht, Opfer des Intellektes gebracht worden wären, so ist dies ein Beweis mehr, wenn es noch eines Beweises bedürfte, für das Volkstum der Juden. Ein solcher Zusammenschluß ist nur möglich auf der Grundlage der Nation.

Es werden nun auch Debatten stattfinden über eine Organisation, deren Notwendigkeit jeder einsieht. Die Organisation ist der Beweis des Vernünftigen in einer Bewegung. Hier ist aber ein Punkt, der nicht deutlich und energisch genug herausgearbeitet werden kann. Wir Zionisten wünschen zur Lösung der Judenfrage nicht etwa einen internationalen Verein, sondern die internationale Diskussion. Der Unterschied ist für uns von der höchsten Wichtigkeit, wie ich Ihnen nicht erst auseinanderzusetzen brauche. Dieser Unterschied legitimiert auch die Einberufung unseres Kongresses. Es kann sich bei uns nicht um Bündeleien, geheime Interventionen und Schleichwege handeln, sondern nur um eine freimütige Erörterung unter der beständigen und vollständigen Kontrolle der öffentlichen Meinung. Es wird einer der nächsten, schon jetzt in großen Umrissen wahrnehmbaren Erfolge unserer Bewegung sein, daß wir die Judenfrage in eine Zionsfrage umwandeln werden.

Eine so große Volksbewegung muß von vielen Seiten angepackt werden. Der Kongreß wird sich daher auch mit den geistigen Mitteln zur Wiederbelebung und Pflege des jüdischen Nationalbewußtseins beschäftigen. Auch auf diesem Punkt haben wir mit Mißverständnissen zu kämpfen. Wir denken nicht daran, auch nur eines Fußes Breite von erworbener Kultur aufzugeben, sondern denken an ein weiteres Vertiefen der Kultur, wie es jedes Wissen bedeutet.

Übrigens ließ das geistige Leben der Juden von jeher bekannt-lich weniger zu wünschen übrig, als das ihrer körperlichen Betätigung. Dies haben die praktischen Vorläufer des jetzigen Zionismus eingesehen, als sie anfingen, einen jüdischen Ackerbau hervorzurufen. Von diesen Kolonisationsversuchen in Palästina und Argentinien können, und werden wir alle nie anders als mit aufrichtiger Dankbarkeit sprechen. Aber sie waren nur das erste, sie sind nicht das letzte Wort der zionistischen Bewegung. Diese muß größer sein, wenn sie überhaupt sein soll. Ein Volk kann sich nur selbst helfen; kann es das nicht, so ist ihm eben nicht zu helfen. Wir Zionisten wollen aber das Volk zur Selbsthilfe anregen. Dabei sollen keine verfrühten, ungesunden Hoffnungen erweckt werden. Auch aus diesem Grunde ist eine Öffentlichkeit der Behandlung, wie sie unser Kongreß bezweckt, von hohem Wert Wer die Sache ruhig bedenkt, wird sich doch sagen müssen, daß der Zionismus auf andere Weise, als durch eine rückhaltlose Auseinandersetzung mit den beteiligten politischer Faktoren sein Ziel nicht erreichen kann. Die Schwierigkeiten der Kolonisationsbefugnis wurden bekanntlich nicht erst durch den Zionismus in seiner gegenwärtigen Gestalt geschaffen. Man muß sich fragen, welches Interesse die Erzähler solcher Märchen denn eigentlich haben. Das Vertrauen der Regierung, mit der man über eine Ansiedlung jüdischer Volksmassen im großer Maßstabe verhandeln will, läßt sich durch eine offene Sprache durch ein loyales Vorgehen erreichen. Die Vorteile, die ein ganzes Volk als Gegenleistung zu bieten vermag, sind so bedeutend, daß die Unterhandlungen von vorneherein mit genügendem Ernst ausgestattet sind. In welcher rechtlichen Form die Einigung schließlich stattfinden soll, darüber heute viel zu reden, wäre ein müßiges Beginnen. Nur das Eine ist unverbrüchlich festzuhalten: Die Basis kann nur ein Zustand des Rechtes und nicht der Duldung sein. Mit der Toleranz und dem Schutzjudentum auf Widerruf haben wir nachgerade genug Erfahrungen gemacht.

Unsere Bewegung hat folglich nur dann einen vernünftigen Zug wenn sie öffentlich-rechtliche Bürgschaften anstrebt. Die bisherige Kolonisation hat das erreicht, was sie nach ihrer Anlage erreichen konnte. Sie hat die vielbestrittene Tauglichkeit der Juden zur Ländarbeit erhärtet. Sie hat diesen Beweis, wie es in der Rechtssprache heißt, zum ewigen Gedächtnis erbracht. Aber die Lösung der Judenfrage ist sie nicht und kann sie in der bisherigen Form nicht sein. Sie hat auch, gestehen wir es uns offen einen bedeutenden Anklang nicht gefunden. Warum? Weil die Juden rechnen können, es wird sogar behauptet, daß sie es zu gut können. Wenn wir nun annehmen, daß es neun Millionen Juden  gibt und daß es der Kolonisation gelänge, jährlich zehntausend Personen in Palästina anzusiedeln, so würde die Lösung der Judenfrage neunhundert Jahre in Anspruch nehmen. Das sieht unpraktisch aus.

Nun wissen Sie aber, daß die Ziffer von zehntausend Ansiedlern jährlich geradezu phantastisch ist, unter den jetzigen Verhältnissen nämlich. Die türkische Regierung würde bei einer solchen Ziffer sofort die alten Einwanderungsverbote auffrischen — und das wäre uns gerade recht. Denn wer da glaubt, daß die Juden sich in das Land der Väter gleichsam einschmuggeln könnten, der täuscht sich oder täuscht andere. Nirgends wird das Auftauchen von Juden so schnell signalisiert wie in der historischen Heimat des Volkes, eben weil es die historische Heimat ist. Und es wäre auch gar nicht in unserem Interesse gelegen, verfrüht dahin zu gehen. Die Einwanderung der Juden bedeutet einen Kräftezufluß von unverhoffter Fülle für das jetzt arme Land, ja für das ganze osmanische Reich. Seine Majestät der Sultan hat übrigens mit seinen jüdischen Untertanen die besten Erfahrungen gemacht, gleichwie auch er ihnen ein gütiger Souverän ist. Es liegen also Bedingungen vor, die bei einer klugen und glücklichen Behandlung der ganzen Sache zum Ziele führen können. Die finanzielle Hilfe, welche die Juden der Türkei bieten können, ist nicht unbeträchtlich und würde zur Beseitigung manchen innern Übels dienen, an dem dieses Land jetzt leidet. Wenn ein Stück Orientfrage mit der Judenfrage zugleich gelöst wird, so ist dies gewiß im Interesse aller Kulturvölker. Die Ansiedlung der Juden wäre wohl auch eine Besserung der Lage der Christen im Orient.

Aber nicht nur von dieser Seite her darf der Zionismus auf die Sympathien der Völker rechnen. Sie wissen, daß der Judenstreit in manchen Ländern zur Kalamität für die Regierung geworden ist. Ergreift man für die Juden Partei, so hat man die aufgewühlten Massen gegen sich. Ergreift man gegen die Juden Partei, so hat dies beim eigentümlichen Einfluß der Juden auf den Weltverkehr oft schwere wirtschaftliche Folgen. Es gibt dafür Beispiele in Rußland. Verhält sich endlich die Regierung neutral so sehen sich die Juden ohne Schutz in der bestehenden Ordnung und flüchten in den Umsturz. Der Zionismus, die Selbsthilfe der Juden, eröffnet nun den Ausweg aus diesen mannigfachen und sonderbaren Schwierigkeiten. Der Zionismus ist einfach der Friedensstifter. Es geht ihm freilich dabei wie Friedensstiftern gewöhnlich: er muß sich am meisten herumschlagen. Nur wenn unter den mehr oder minder ehrlichen Argumenten gegen unsere Bewegung auch das vorkommt, daß man uns des Mangel an Patriotismus zeihen werde, so richtet sich dieser verdächtige Einwurf von selbst. Von einem vollständigen Auszug der Juden kann wohl nirgends die Rede sein. Die sich assimilieren können oder wollen, bleiben zurück und werden resorbiert. Wenn nach einem gehörigen Abkommen mit den beteiligten politischen Faktoren die Judenwanderung in aller Ordnung beginnt, so wird sie für jedes Land doch nur so lange dauern, als dieses Juden abgeben will. Wie der Abfluß zum Stillstand kommen soll? Einfach durch das allmähliche Abschwellen und endliche Aufhören des Antisemitismus. So verstehen, so erwarten wir die Lösung der Judenfrage.

Das alles haben meine Freunde und ich oft gesagt. Wir wollen uns die Mühe nicht verdrießen lassen, es immer und immer wieder zu sagen, bis man uns versteht. Bei dieser feierlichen Gelegenheit, wo sich Juden aus so vielen Ländern zusammengefunden haben, auf einen Ruf, auf den alten Ruf der Nation, heute sei unser Bekenntnis feierlich wiederholt. Muß uns nicht eine Ahnung großen Geschehens überfliegen, wenn wir denken, daß in diesem Augenblicke die Hoffnungen und Erwartungen von vielen Hunderttausenden unseres Volkes auf unserer Versammlung ruhen? Nach fernen Ländern, ja über das Weltmeer wird in der nächsten Stunde die Nachricht von unseren Beratungen und Beschlüssen eilen. Darum soll Aufklärung und Beruhigung von diesem Kongreß ausgehen. Überall soll man erfahren, was der Zionismus, den man für eine Art von chiliastischem Schrecken ausgab, in Wirklichkeit ist: eine gesittete, gesetzliche, menschenfreundliche Bewegung nach dem alten Ziel der Sehnsucht unseres Volkes. Was die einzelnen unter uns schrieben oder sagten, konnte und durfte man achtlos übergehen — nicht mehr das, was der Kongreß hervorbringt. Möge darum der Kongreß, der fortan der Herr seiner Debatten ist, als ein weiser Herr wirtschaften.

Und endlich wird der Kongreß für seine eigene Dauer sorgen, damit wir nicht wieder auseinander laufen, spurlos und ohne Wirkung. In diesem Kongresse schaffen wir dem jüdischen Volk ein Organ, das es bisher nicht hatte, das es aber dringend, zum Leben dringend braucht. Unsere Sache ist zu groß für den Ehrgeiz und die Willkür einzelner Personen. Sie muß ins Unpersönliche hinaufgehoben werden, wenn sie gelingen soll. Und unser Kongreß soll ewig leben, nicht nur bis zur Erlösung aus der alten Not, sondern nachher erst recht. Heute sind wir hier auf dem gastlichen Boden dieser freien Stadt — wo werden wir übers Jahr sein? Aber wo wir auch seien und wie lange unser Werk bis zur Vollendung dauere, unser Kongreß sei ernst und hoch, den Unglücklichen zum Wohle, niemandem zu Trutz, allen Juden zur Ehre und würdig einer Vergangenheit, deren Ruhm wohl schon fern, aber unvergänglich ist!

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