Die Erinnerungen des russischen
Schriftstellers Mordechai Rabinowicz, genannt Ben Ami (Ein Sohn meines Volkes),
an den ersten Zionistenkongress in Basel gehört zu den eindrucksvollsten
Schilderungen eines Zeitzeugens. Sie machen die Bedeutung Herzls vor allem für
die Juden in Osteuropa deutlich. Der Text erschien in der Gedenknummer der
"Welt" zu Herzls zehntem Todestag.
Ben-Ami:
Erinnerungen an Theodor Herzl
Von Ben-Ami
Erschienen in: Herzl-Nummer, Die Welt, Nr. 27 vom 3. Juli 1914
An einem schönen Frühlingsmorgen jenes unvergeßlichen Jahres 1897, dieses ersten
Kongreßjahres, das man einst als den Beginn einer neuen historischen Aera im Judentum
betrachten wird, erhielt ich nebst einem Brief der Redaktion die erste Nummer der
"Welt".
Jetzt, nach siebzehnjährigem Bestehen des zionistischen Zentralorgans, werden sich
nicht viele einen Begriff davon machen können, welche Sensation das Erscheinen dieser
Zeitung damals hervorrief. Nach Frühling und Auferstehung duftete es aus ihr.
Auf mich hat damals die Tatsache einen besonders
starken Eindruck gemacht, daß in
dieser Zeitung (ich glaube in der zweiten Nummer) ein Artikel mit der Unterschrift
Nordaus erschien. Was? "Auch Saul ging unter die Propheten?" Was hatte Nordau in
einem jüdisch-nationalen Organ zu suchen? Dieser Nordau, von dem nur sehr wenige wußten,
daß er überhaupt Jude war.
Ich entsinne mich noch genau, es war im Jahre 1881, der Zeit der Pogrome in Rußland,
als ich als Student nach Wien kam, Delegierter einer Gruppe von Juden, die sich
entschlossen hatten, nach Amerika auszuwandern. Die Verhandlungen mit all diesen
jüdischen Baronen und Rittern (mit Ausnahme des Ritters von
Wertheimer, des damaligen Präsidenten der Allianz, der ein prachtvoller Mensch und
guter Jude war) machten einen deprimierenden Eindruck auf mich. Damals, in einem
Augenblick der Erbitterung und Enttäuschung, erfuhr ich: Max Nordau, der Verfasser
des glänzenden und
scharfsinnigen Buches "Konventionelle Lügen", ist Jude.
Ach, lassen wir das, rief ich mit Entrüstung. Welchen
Nutzen haben wir Juden davon?
Gibt es doch genug hervorragende Juden, die nicht uns dienen, sondern unseren Feinden.
Und nun erblickte ich mit einemmal denselben Nordau in unserer Mitte, wieder unter
seinen Brüdern. War das nicht der Beginn der Verwirklichung jener großen
Verheißungen von der Rückkehr der Söhne zu ihrem Volke, die unsere Propheten so
oft verkündet haben ?
Bald danach leuchtete wie ein Stern eine neue grandiose Idee auf, die
Idee
eines Kongresses! Sie war wie der Morgenstern, der einem wundervollen
Frühlingsmorgen den ewigen Maienglanz verleiht. Wohl dem, der diesen Frühling
mit erlebt hat.
Diesen unvergeßlichen Frühling neu wieder erstehen zu lassen, ihn zu fühlen und
zu begreifen, ist aber nur möglich, wenn man alle Schrecken des langen unseligen
Winters gekannt hat, der ihm voraufging.
In Rußland begann damals ein Vernichtungskampf gegen die Juden, in denen man die
Feinde des bestehenden Regimes erblickte. Jeder Tag brachte neue Schrecken.
Jeder Tag beraubte tausende und abertausende jüdischer Familien des letzten
Bissen Brotes.
Und im Innern des Judentums herrschte der Zerfall. Die Intelligenz hatte ein
Bestreben: mit allen Mitteln vom Judentum zu fliehen, von diesem schwachen,
schutzlosen und verfolgten Judentum. Unter dem Deckmantel der russischen Kultur
hofften sie bei den Feinden ihres unglücklichen Volkes, das sie schmählich
verließen, Sicherheit und Ruhe zu finden.
Es gab nur wenige treue Söhne des Volkes, verstreut hier und dort, die Chowewe
Zion, denen die Leiden ihres Volkes die Ruhe ihrer Seele genommen hatten. Aber
diese wenigen bildeten den Gegenstand des Spottes, der Verachtung und des Hasses
in den Augen jener feigen Flüchtlinge und "weitblickenden Kosmopoliten", und
trotz ihres heißen Idealismus, ihrer aufopfernden Tätigkeit mußten sie rasch
einsehen, daß sie zur Verwirklichung ihrer Ideale nichts vermochten. Ueber die
Kolonisation in Palästina brach eine schwere Krise herein, und ich entsinne mich
noch lebhaft, wie hoffnungslos wir in den Sitzungen unseres Odessaer Komitees
einander in die Augen sahen.
Aber wo und wie neue Wege finden, wo rings um
uns her tötliche Apathie, eine verbrecherische Gleichgültigkeit herrschte! Was
mit Mühe und Kampf geschaffen war, schien für alle Zeiten in Trümmer zu gehen.
Verzweiflung ergriff alle Herzen.
Da ertönte mitten in diese Todesstille, mitten in diese finstere Verzweiflung
hinein Herzls Ruf, machtvoll und stark an alle diejenigen, in denen das Gefühl
ihrer Zugehörigkeit und Liebe zum Volke lebte, der flammende Appell: Auf zum Kongreß!
Zum Kongreß! Ein jüdischer Kongreß soll es sein, auf dem die Juden selbst ihr
Schicksal entscheiden und selbst ihre Zukunft schmieden. Vieler Herzen wurden
neu belebt. Eben noch hoffnungslos und verzweifelt, gewannen sie neuen
Lebensmut und neue Hoffnung.
Aber es gab auch, selbst in den Reihen der alten Chowewe Zion, Männer, die die
Kunde vom Kongreß sehr skeptisch, sogar feindselig aufnahmen. In unserem
Odessaer Komitee haben bei weitem nicht alle die Idee des Kongresses und den neu
entstehenden Zionismus überhaupt mit derselben Einmütigkeit begrüßt. Ein
besonders heftiger Gegner war unser damaliger Vorsitzender, Abraham Grünberg.
Er befürchtete, der Zionismus möchte alle Kräfte der Chowewe Zion an sich
reißen, sodaß dem Odessaer Komitee nichts übrig bliebe, als seine Tätigkeit
einzustellen. Sogar Lilienblum, der bald darauf ein entschiedener Anhänger Herzls und des Zionismus wurde, legte anfangs ein gewisses negatives
Verhalten der ganzen Sache gegenüber an den Tag. Im allgemeinen betrachtete die
Mehrheit all dies Neue als ein waghalsiges Projekt, das wenig Aussicht auf
Verwirklichung hatte, und ich selbst teilte diese Zweifel und Befürchtungen.
II.
Mitte Juni ungefähr erhielt ich in Odessa, zugleich mit anderen Freunden, vom
Zionistischen Bureau in Wien die Einladung, am Kongreß teilzunehmen, der für
den 28., 29. und 30. August (wenn ich nicht irre) festgesetzt war. Ich beschloß,
dieser Einladung unbedingt Folge zu leisten. Allgemeine Wahlen zum Kongreß
waren damals natürlich noch nicht organisiert. Dennoch haben Wahlen
stattgefunden, denn an vielen Orten bestanden bereits Chowewe Zion-Gruppen. So,
mit einem Mandate von Nicolajeff und Odessa versehen, verließ ich am 2. oder 3.
August Odessa, um vor allem Wien zu besuchen.
In Wien kam ich um 7 Uhr morgens an und war schon um zehn Uhr in der allen
Zionisten so bekannten Türkenstraße 9, wo sich das Zionistische Bureau und die
Redaktion der "Welt" befanden.
Ich fragte nach Herrn Dr. Herzl. Im Bureau war er nicht. Ich wollte fort, um
später das Bureau nochmals aufzusuchen, man sagte mir jedoch, daß man Dr. Herzl
meine Ankunft sofort melden werde, und ich wurde gebeten, im Bureau zu warten.
Man führte mich in ein großes Zimmer, in dessen Mitte ein langer Tisch stand,
auf dem Pakete von "Welt" - Nummern aufgehäuft waren.
Ich nahm eine "Welt" in die Hand und versuchte zu lesen, war aber vor Aufregung
nicht imstande, auch nur einen Satz zu lesen. Der Gedanke, daß ich jeden
Augenblick den Verfasser des "Judenstaates", den kühnen Initiator des jüdischen
Kongresses erblicken würde, hatte mich derartig ergriffen, daß ich an nichts
anderes denken konnte. Sollte ich doch bald jenen Großen erblicken, der die
ganze jüdische Welt in Bewegung setzte, der so viele Hoffnungen im Volke wieder
aufleben ließ. Was mochte es für ein Mann sein? Wird er imstande sein, jene
großen Hoffnungen durch Taten auch nur annähernd zu rechtfertigen? Mein
Glaube an die Existenz starker, energischer und mächtiger Männer in unseren
Reihen war äußerst gering. War ich doch niemals in unseren Kreisen derartigen
Typen begegnet. Ich möchte noch erwähnen, daß ich von Herzl, ich weiß nicht warum,
die ganze Zeit eine Vorstellung hatte, als sei er ein kränklicher Mann, kleinen
Wuchses und mit einem kleinen Buckel. Wie ich darauf kam, kann ich mir selbst nicht recht erklären. Ich nehme an, daß der kurze, einsilbige Name diese Vorstellung
verursacht hat. Jetzt freilich klingt er mir anders.
Nachdem ich etwa zehn Minuten gewartet hatte, ging die Tür auf und auf der
Schwelle erschien — endlich — ein hoher stämmiger junger Mann, ausgesucht chic
gekleidet, in dunkelblauem Jakett ohne Weste, mit einem breiten Gürtel. Infolge
meiner Kurzsichtigkeit sah ich die Gesichtszüge nicht genau. Irgendein Besucher,
dachte ich mir, und tat, als sei ich in meine Lektüre vertieft. Der Herr aber kam
mit ein leichten Verbeugung und liebenswürdigem Lächeln auf mich zu und stellte
sich vor: Dr. Herzl.
Etwas überrascht und verwirrt stand ich auf, und wir reichten uns die Hand. Ich muß gestehen, diese
ausgewählte Kleidung nach der letzten Mode hat damals einen
ziemlich unangenehmen Eindruck auf mich gemacht; besonders störte mich dieser
Gürtel, und das Fehlen der Weste war meiner Ansicht nach für einen ernsten
Menschen durchaus nicht schicklich. Sein liebenswürdiges Lächeln aber machte mich
diesen auffallenden Chic ein wenig vergessen. Wir sprachen französisch, da ich
mich deutsch schlecht ausdrücken konnte.
Ich fragte ihn, in welchem Stadium sich unsere Sache befinde, ob er berechtigte
Hoffnungen habe, sein Idee durchzuführen und den Plan des Kongresses zu
verwirklichen; ob es viele gäbe, die mit ihm sympathiesierten und bereit wären,
mit ihm zu gehen. Er antwortete mir, daß er allerdings eine größere Anzahl von
Personen gefunden hätte, die seinem Plan sympathisch gegenüberständen und Anteil
an der Sache nehmen wollten. Er könne aber bei weitem noch nicht sagen daß der
Erfolg garantiert sei; doch nicht das sei das Unheil, daß noch nicht viele auf
unserer Seite wären; dies sei vielmehr eine natürliche Erscheinung bei jede neuen
Idee. Unser Unglück bestehe darin, daß wir zuviel aktive Gegner besitzen und bei
jedem Schritt auf fast unüberwindliche Hindernisse stoßen. Er, der doch die Assimilanten sehr gut kenne und von ihnen nicht das geringste Mitgefühl oder gar
Mitarbeit erwartet habe, sei doch ganz überrascht, welch starker Widerstand
unseren Plänen von ihrer Seite entgegen gesetzt würde und wieviel
niederträchtige Angriffe erfolgt seien. Hierin hätten sie alle Erwartungen übertroffen. Eine solche Gehässigkeit gegen die jüdischnationale Idee würden die
wütendsten und zügellosester Antisemiten kaum je bekunden. Die eigentlichen
Antisemiten seien sie, die jüdischen Assimilanten, die gefährlichsten und
schädlichsten. Er erzählte mir ausführlich die traurige und schmachvolle
Geschichte von dem Verhalten der jüdischen Gemeinde in München gegenüber dem
Kongreßplane. Er sprach über die maßlose Gehässigkeit, die gewissenlosen
Verleumdungen, die gegen ihn persönlich ausgestreut wurden.
Er sprach mit äußerer Ruhe, man konnte aber
leicht merken, wie empört er im Innern war, eine bittere Verzweiflung schien
auch ihn zu ergreifen. Aber je länger er sprach, desto heller und leuchtender
wurde der Blick seiner tiefen, dunklen Augen. "Dies müssen Sie wissen. Ob ich
die Sache weiter werde führen können, weiß ich nicht. Sollte ich fernerin auf so viel Schwierigkeiten stoßen, so ist es möglich, daß meine Kräfte dazu
nicht ausreichen, und ich werde gehen müssen. Ich habe den Weg gezeigt. Wenn im
jüdischen Volke noch Lebenskräfte verborgen sind, so werden sich andere finden,
die meine Idee verwirklichen werden."
Wir sprachen noch manches vom Wesen der jüdisch-nationalen Idee und
kamen auf den bevorstehenden Kongreß. Ich schlug ihm vor, in Basel eine
Vorkonferenz einzuberufen; er antwortete mir, er habe selbst daran gedacht, und
wir verabredeten, mindestens eine Woche vor dem Beginn des Kongresses in Basel
zusammen zu kommen. Wir schieden herzlich voneinander, wie gute, alte Freunde,
obwohl wir höchstens 1 1/2 bis 2 Stunden gemeinsam verbracht hatten. —
Als ich fortging, war ich ganz beruhigt. Ich sah,
gaß vor mir ein ganz ungewöhnlicher Mensch gestanden hatte, mit einer glühenden
Ueberzeugung, die in
der Tiefe seiner Seele wurzelte. In seiner Unterhaltung gab es nicht eine einzige
allgemeine Phrase, die in den Schriften der bisherigen
Palästinenser (Chowewe Zion) geläufig war. Alles, was er sprach, trug den Stempel
des Neuen, Frischen, Jüngstentstandenen; alles war von ihm selbst durchdacht
und verarbeitet. Gewiß kannte er den Judaismus äußerst wenig; sein Geist aber,
das Wesen des Judentums, war ihm nicht so fremd, wie man anzunehmen pflegt. Auch
das jüdische Leben war ihm nicht ganz unbekannt, er erzählte mir, daß in seinem
Elternhause die jüdischen Feiertage gehalten wurden; das Passahfest beging man
sogar sehr feierlich, auch seine Barmizwah-Feier wurde festlich begangen. Von
der Jugend an habe er viele Erinnerungen an das jüdische Leben mitgenommen, von
denen er mit Liebe sprach. Ich habe in ihm den Autor des Judenstaates gefunden und mehr als das. Daß es diesem Manne aber gelingen werde, den Kongreß würdig
und groß durchzuführen und selbst an die Spitze zu treten, die volle
Ueberzeugung hiervon hatte ich nicht gewonnen.
Nach Hause schrieb ich indessen an diesem Tage
ungefähr folgendes: "Wenn die
inneren intellektuellen
Eigenschaften Herzls seinem außergewöhnlich prächtigen Aeußeren entsprechen, so
haben wir in ihm einen großen Führer der Bewegung gefunden."
III.
Nachdem ich etwa zwei Wochen in meiner lieben Schweiz umhergewandert war, die
ich bereits seit elf
Jahren nicht gesehen hatte, kam ich am 22. oder 23. August in Basel an.
Selbstverständlich ging ich sofort ins Kongreß-Bureau, das sich damals unweit
vom Marktplatz in der Freiestraße befand.
Mit aufrichtigem Herzklopfen lief ich die schmale Treppe hinauf. Das war ja
gewissermaßen die Vorstufe des Kongresses. Was mag dort jetzt geschehen, wie
mögen die Vorbereitungen vor sich gehen? Vor allem beunruhigte mich die Frage
der Delegierten: werden viele herkommen, was werden es für Leute sein? An
einem Schreibtisch, in einem engen, langen, etwas dunklen und staubigen Zimmer,
dessen einziges Fenster auf ein enges, schmales Gäßchen ging, saß ein etwa 17
jähriger junger Mann, wie man mir sagte, einer von den Baseler Juden. Liebenswürdig beantwortete
er meine Fragen. Die Auskunft
aber war zwar sehr optimistisch, doch ziemlich unklar. — Nachdem ich eine halbe
Stunde im Bureau zugebracht hatte, ging ich fort; ich war nicht gerade sehr
optimistisch gestimmt. Ich bezog ein Zimmer im Hotel "Zum weißen Kreuz", von
dessen Fenster man den wunderbar blauen Rhein sieht, der so ruhig und erhaben dahinfloß, offenbar wenig besorgt, wieviele Delegierte nach Basel kommen
möchten.
Ich hatte die Absicht, Briefe zu schreiben und ein wenig auszuruhen. Ich konnte
aber nicht ruhig sitzen und eilte sofort zurück ins Kongreßbureau.
An der Brücke begegnete ich David Farbstein, den ich noch von Zürich her
kannte. Er bat mich, ihn zu begleiten, um den Saal zu besichtigen, den er in
Kleinbasel für den Kongreß in Aussicht habe.
Ich ging mit ihm. Der Saal, in den man durch
ein kleines Gärtchen, durch Reihen von Tischen gelangte, an denen die guten
Baseler ihr schönes Bier tranken, entpuppte sich als ein sehr unfreundliches
dunkles Lokal, ein richtiges billiges Bierlokal. Es war dies die uns allen so
wohl bekannte Burgvogtei, die ich nicht im geringsten kränken möchte, da wir in
der Folge so Viele freudige und wirklich glückliche Stunden dort verbracht
haben.
Ich sprach mich entschieden gegen dieses Lokal aus, aber Farbstein behauptete,
es gäbe in Basel kein anderes, das in Betracht käme, mit Ausnahme eines einzigen
Saales, für den man ein ungeheures Entgelt verlange. Hierauf konnte ich nichts
erwidern, und der Saal wurde gemietet. Auf dem Rückwege begegneten wir auf
derselben alten historischen Brücke drei oder vier schäbig gekleideten jungen
Leuten mit alten Hüten und ziemlich schmutzigen Kragen. Ich erkannte in ihnen
sofort meine "Landsleute"; es waren Delegierte, aber in besondere Begeisterung
bin ich durch diese Begegnung nicht geraten. Gegen drei Uhr nachmittags fand
ich bereits zehn bis zwölf Personen vor, darunter einen einzigen, der etwa
vierzig Jahre alt sein mochte; die übrigen waren junge Leute vom Schlage derer,
die ich vorhin an der Brücke getroffen hatte. Das sind deine Auserwählten,
Israel, dachte ich, und mir wurde traurig zu Mute.
Gegen Abend erschienen bereits einige Delegierte aus Deutschland und Oesterreich,
und die Zahl der Delegierten stieg an diesem Tage auf ungefähr vierzig. Am
nächsten Morgen, als ich auf dem Wege nach dem Bureau die Brücke überschritt,
sah ich von der Ferne Herzl, der von seinem Hotel "Drei Könige" kam.
Hocherfreut, als begegnete ich einem meiner intimsten Freunde, schritt ich ihm
entgegen. Er bemerkte mich auch von der Ferne und kam eiligen Schrittes auf mich
zu, mich freundlich begrüßend. Wir drückten uns herzlich die Hand, und er
begann, mich gründlich auszufragen über alles, was vorging. Ich erzählte ihm
alles, was mir bekannt war. U. a., daß eine Offerte von einem Preß-Bureau
eingelaufen sei, das uns anbot, uns sämtliche Meinungsäußerungen der
europäischen Presse über den Kongreß zuzustellen, und ich fragte ihn, ob man
dieses Angebot akzeptieren solle. Er antwortete entschieden: "Nein! Wenn man
irgend etwas erdenkt, so soll man niemals danach fragen, was andere dazu
meinen."
Diese Antwort hat mir sehr gefallen.
Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde im Kongreß-Bureau verbracht hatten,
gingen wir, um uns den vorher gemieteten Kongreßsaal anzusehen. Als Herzl ihn
sah, sagte er entschieden: "O, nein, nein!"
Und an diesem Tage wurde der kleine Saal des Baseler Stadtkasinos mit den
angrenzenden Zimmern gemietet, das für uns eine heilige historische Stelle, im
höchsten "Sinne des Wortes, geworden ist. Ueber diesem Gebäude flatterte zum
ersten Male die blauweiße jüdische Nationalfahne, vor diesem Gebäude wurden
zwei Tage später zum ersten Mal die Fahnen der stolzen, freien Korporationen der
freien Schweiz unter Hochrufen auf die Juden gesenkt.
Wer diesen großen Moment nicht miterlebt, wer nicht das von Stolz und innerer
Glückseligkeit durchleuchtete Antlitz Herzls gesehen hat, als er auf dem Balkon
erschien und tosende Hochrufe von schweizerischer und jüdischer Seite
erschallten, der hat nichts Großes erlebt.
Mit dem Augenblick seiner Ankunft in Basel ging Herzl mit allen Fasern seiner
Seele in den Interessen des Kongresses auf. Die gesamte übrige Welt hat für ihn
tatsächlich zu existieren aufgehört. Er interessierte sich für alles, für die
kleinsten Details, überwachte mit scharfen Augen die kleinste Vorbereitungen, ließ
nichts, was geschah, außer Acht. Er erteilte die ganze Zeit nach allen Richtungen
hin Instruktionen und wachte stets darüber, daß alles pünktlich ausgeführt wurde. Er
erteilte seine Instruktionen in einem sehr weichen Ton, mit einem bezwingenden
Lächeln, aber doch so kategorisch, daß niemand der Gedanke kommen konnte, seine
Verordnungen nicht auszuführen oder ihm zu widersprechen. Alle fügten sich, auch
Leute, die in der Gesellschaft bereits eine angesehene Stellung einnahmen. So war
nun einmal der magische Einfluß dieses großen Befehlshabers. Gewiß, Herzl
verkörperte das Wesen des Befehlshabers in der höchsten sittlichen Bedeutung dieses
Wortes. Der nächste Freund Herzls, sein nächster Mitarbeiter zu werden, hieß, der blinde Vollstrecker seiner Befehlen werden. Anders konnte es gar nicht sein. Wenn
mehrere Kräfte zusammenstoßen, wenn mehrere Willensäußerungen gegeneinander
auftreten, unterdrückt der stärkste Wille die anderen. Das ist so einfach, so
natürlich, daß es einfach unsinnig ist von Despotismus und Tyrannei zu sprechen.
Der Despot oder der Tyrann wird durch Willenlosigkeit, durch die Mangel einer jeden
moralischen Kraft charakterisiert. Im Glauben, allein alle zu beherrschen, merkt
der Despot nicht, daß er von allen beherrscht wird. Der starke Wille, der große
Charakter erobert seine Umgebung instinktiv, von selbst, ohne es zu wollen. Ich
sage das deswegen, weil man Herzl des Oefteren einen "Despoten" genannt hat, und
mancher behauptete, deswegen nicht mit ihm arbeiten zu können. Es ist nicht so.
Herzl hat niemals danach gestrebt, ergebene Sklaven zu finden, er suchte keine
Untertanen, sondern Mitarbeiter, Arbeitsgenossen, die das ausführen könnten, was
er erdacht hatte, die seine Pläne verwirklichen sollten. Leute, die mit ihm gingen - und ihm folgte! War es doch nicht möglich, daß er, der Schöpfer, Vollstrecker eines fremden Willens werden, anderen
folgen konnte. Verlanget doch
vom Mont Blanc, da er die anderen Berge nicht in den Schatten stelle, da er in
seiner überragenden Größe die Sterne nicht verdunkele.
Und darin bestand die Tragödie seines Lebens, da er diese Mitarbeiter nicht
fand. Viele rechnete es sich sogar zum Verdienst an, daß sie gegen diese Großen
und seinen sogenannten Despotismus auftraten. Auf diese Weise entstanden all
diese "Fraktionen" und dergleichen "Oppositionen". Wieviel Unsinniges, Lächerliches, leider aber auch Unheilvolles lag in diesem närrischen Spiel der
"Linken". Opposition gegen Herzl! Gegen ihn, dessen Devise es war, alle seine
Interesse völlig zu vergessen und sich ganz in den Dienst seine Volkes zu
stellen. Viele wissen noch immer nicht daß es manchmal in der Volkssache eine
große Tugend bedeutet, sich zu unterwerfen, zu gehorchen. Wir, besonders die
russischen Juden, verwechseln oft Eigensinn und Disziplinlosigkeit mit
Willensfreiheit und Liebe zur Freiheit.
Das Schweizerland ist das freieste Land in der
Welt und nirgends gibt es solche Disziplin, so willige Unterordnung unter die
Obrigkeit, wie gerade in diesem Lande. Darin liegt seine Kraft. Wir dagegen
machten noch ohne etwas geschaffen zu haben, bereits "Opposition". Es wäre lächerlich, wenn es nicht so traurig
wäre. Als wir zusammen bei Tisch im jüdischen Hotel "Braunschweig" saßen, klagte
Herzl in bitteren Worten darüber, daß er unter dem Mangel an Mitarbeitern leide.
Die Sorge um die Qualität und Quantität der neu
ankommenden Delegierten hat Herzl
selbstverständlich mehr noch als mich beunruhigt. Er sprach von vielen, die
versprochen hatten, zu kommen, und von anderen, die ihre Sympathie für den Kongreß
schriftlich zum Ausdruck gebracht hatten. Besondere Freude bereitete ihm der Brief
von Samuel Mohilewer aus Bialystok, der Herzls Idee mit großer Begeisterung
begrüßte. Dieser Zustimmung freute sich Herzl nicht nur, er war beinahe stolz auf sie. Ueberhaupt bereitete ihm nichts
größere Freude, als die Zustimmung der Rabbiner. In
seinem jüdischen Instinkt empfand er es, daß dort, wo die Rabbiner sind, das Volk ist.
Dennoch wäre es falsch zu glauben, daß seine besondere Zuvorkommenheit gegen die
Rabbiner auf einer gewissen Diplomatie beruhte, wie viele geglaubt haben. In dem
Moment, wo
in Herzl der Jude erwachte, erstand auch in ihm instinktive Achtung vor den
Vertretern des jüdischen Volksgeistes, dem er tiefe, aufrichtige Hochachtung
gegenbrachte. Herzl hat, wie ich bereits erwähnte, den Judaismus wenig gekannt. In
der Tiefe seiner Seele aber barg er eine heiße Liebe zu ihm. Wenn Herzl die Frage der
Kultur in einem jüdischen Palästina hätte entscheiden müssen, so wäre er gewiß für
die jüdisch-nationale Kultur im Geiste unserer Propheten unserer historischen
Tradition in viel höherem Maße eingetreten, als viele unserer jungen Kulturträger,
die
bisweilen einen antireligiösen und antihistorischen Fanatismus an den Tag legen.
Diese meine Ansicht habe ich bereits vor fünfzehn Jahren in meiner Charakteristik
Herzls ausgesprochen. Niemals hätte Herzl seine Hand erhoben gegen irgendetwas, das
dem Volke heilig und teuer ist. Mit Entrüstung sprach er wiederholt mit mir wegen
taktloser Auftritte unserer ungezügelten Jugend in Rußland. Er war dagegen, daß
die
Kulturfragen aufgeworfen wurden, weil er dies für verfrüht hielt. "Noch ist das Kind
nicht geboren und sie
streiten bereits um seine Erziehung," flüsterte er mir
auf dem III. Kongreß ins Ohr, während der heißen Debatte über den Antrag der
Kulturkommission. Ihm schien das lächerlich, und er hatte recht.
Der Rubikon war überschritten. Es galt vorwärts kommen. Diese Stimmung machte
sich in allem bemerkbar, was Herzl tat, in allem, was er mit mir sprach. Es ist für
mich zweifellos, daß er diese Tage vor dem ersten Kongreß als den Vorabend einer
großen entscheidenden Schlacht empfand. Wohl gelang es ihm, innere Aufregung und die
starke Bewegung seiner Seele zu verbergen, aber ich konnte sehen, wie stark er
unter dem
Druck der Hoffnungen stand, die er auf Kongreß gesetzt hatte.
Ich war fast die ganze Zeit mit ihm zusammen,
und jeder Tag, jede Stunde brachte
mich ihm näher und näher. Ich habe fast überall mitgearbeitet, sogar in der Finanzkommission. Von allen Kommissionssitzungen mußte man
ihm
einen detaillierten Bericht erstatten, für alle genaue Instruktionen einholen. Je
näher ich ihm kam, desto klarer und
deutlicher wurde mir diese ungewöhnlich starke Natur in ihrer ganzen Größe. Stunde
für Stunde erkannte ich
mehr, wie sehr er von seiner Idee ergriffen war wie er mit seinem ganzen Sein in
ihr aufging. Er dachte an nichts anderes. Eine solche unerschütterliche Ergebenheit
habe ich niemals wieder gesehen, auch nicht unter den feurigsten Chowewe Zion, die
ich alle genau kannte. Dieses vollständige Sichselbstvergessen um
einer Idee willen hat mich tief gerührt. Und dennoch, ich konnte noch immer nicht
jenen starken, mächtigen Herzl entdecken, der fähig sein sollte, der Führer zu werden,
ein Napoleon der Bewegung. Mich hatte seine Weichheit irre geführt, seine
liebenswürdige Manier, sein Gentlemantum. Ich dachte immer wieder, das alles
paßt doch nicht für einen Führer, der ein harter, unbeugsamer Mensch sein muß.
Der Kongreß sollte am Sonntag beginnen, und am Freitag fand die erste
Vorkonferenz der deutschen Delegierten statt. Etwa 60 bis 70 Leute mochten
gekommen sein. Den Vorsitz führte natürlich Herzl. Mein ganzes Interesse war auf
seine Leitung konzentriert. War es doch eine Art Generalrepitition oder
Probeschlacht. Im allgemeinen hat diese Vorkonferenz der Deutschen einen sehr
guten Eindruck auf mich gemacht. Zum ersten Male sah ich hier Westjuden mit
gutem jüdischem Herzen, mit heißer Liebe zu den nationalen Gedanken, die
außerdem über ein gewisses Maß von Takt und Disziplin verfügten, was unter den
russischen Juden ganz unbekannt war. Angenehm überrascht hat mich die Tatsache,
daß alle klar und fließend sprachen; einige schienen glänzende Redner zu sein.
Jetzt, nach siebzehnjähriger zionistischer Arbeit hat sich diese Redegabe auch
unter den russischen Juden stark entwickelt. Früher war sie dort eine
Seltenheit. Herzl hat sich in dieser Sitzung durch nichts Besonderes
hervorgetan. Er hat nur geschickt alle Fragen beseitigt, die zu scharfen
Auseinandersetzungen führen konnten, und hat hierbei allerdings großes Talent
bewiesen. Geredet hat er aber wenig. Er ließ andere sprechen. Nur kurze
sachliche Erklärungen gab er bisweilen ab. Er sprach immer in einem so weichen
Ton, daß er mir im ganzen doch ein schwacher Vorsitzender zu sein schien. Diesen
Eindruck gewannen auch andere, sodaß bei vielen der Gedanke auftauchte, ob man
nicht für den Kongreß einen anderen Präsidenten wählen solle. Das hat eine sehr
unruhige Stimmung hervorgerufen. Die Stimmung wurde noch unruhiger am nächsten
Tage, als meine russischen Landsleute sich separat zu versammeln begannen.
Es traten schon hier aus der Mitte der Jugend, zu der die meisten russischen
Delegierten gehörten, unstete, zügellose Elemente hervor, die es verstanden
haben, eine Art "Opposition" fertig zu bringen. Irgend einen Sinn hatte diese
Opposition nicht, aber diese Herren schienen zu jedem Opfer bereit zu sein, um
ihren Radikalismus um jeden Preis zu bekunden. Alle Versuche, die heißen Köpfe
zu beruhigen, blieben erfolglos. Herzl wandte sich wiederholt zu mir: "Aber
mein lieber Ben-Ami, bändigen Sie doch Ihre jungen Leute"; es war aber sehr
schwer, etwas zu erreichen.
Es war bereits gegen Mitternacht, als ich mich entschloß, in die rauschenden
Wellen der Opposition zu dringen. Ich habe meinen Landsleuten die Bedeutung des
kommenden Tages in Erinnerung gebracht, der im Leben unseres vielgeprüften
Volkes vielleicht ein entscheidender werden könne, und selbst die wütendsten
versprachen, die Würde des Kongresses zu wahren, ein Versprechen, das sie
gewissenhaft eingelöst haben. Trotz dieser Zusicherung konnte ich die ganze
Nacht vor Aufregung nicht schlafen. Es war mir zumute, als stände ich am
Vorabend eines großen Gerichtstages für unser ganzes Volk. Welches Urteil mag er
uns bringen? Und dann kam der Morgen, jener große, historische Tag, der Tag des
I. Kongresses. Als ich nach dem Kasino ging, war ich so erregt, daß meine Füße
wankten.
Nun sitze ich im Kongreßsaal. Alles ist von einer erhabenen feierlichen Stimmung
durchdrungen; alles ist erfüllt von Herzenswärme und seelischer Verwandtschaft;
aus aller Augen leuchtet Freude und Hoffnung. Und doch zieht jene
geheimnisvolle, erhabene, jüdische Trauer durch den Saal. Aus allen Ecken und
Enden der Welt kamen die zerstreuten Kinder Israels zusammen. Wird doch gar
Vieles einander zu erzählen sein, — all das endlose Leid, all die Qualen, all
die Schmähungen und
schweren Beleidigungen. Wie froh ist uns zumute — wie sehr schwer ist uns
zumute.
Feierlich, mit brüderlicher Herzlichkeit und Liebe begrüßen sich die
Delegierten untereinander, leise sprechend, alle erfüllt von der Unruhe des
Wartens. Der große Moment naht heran. Die ganze Welt ist um uns versunken. Es
ist feierlich still.
Die Tribüne besteigt der alte Dr. Lippe aus Jassy. Er bedeckt sein ergrautes
Haupt mit dem Hut und spricht mit zitternder Stimme laut und feierlich das hebräische
Dankgebet: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, Herr der Welt, der Du uns diese
Zeit hast erleben lassen. Ein Beben geht durch den Saal. Tränen sieht man in
den Augen Vieler. Hinter mir schluchzt irgend jemand bitterlich.
Die etwas zu lange Rede, die auf diesen wahrhaft unvergeßlichen Augenblick
folgt, verdirbt die Stimmung und erfüllt die Seelen von neuem mit Unruhe.
Die Rede ist zu Ende.
Langsam erhebt sich und schreitet zur Tribüne — Herzl. Ich verschlinge ihn mit
den Augen, aber sonderbar, was ist denn nur geschehen? Das ist nicht der
Dr. Herzl, den ich bisher gesehen, den ich erst gestern spät abends noch
gesprochen habe. Vor uns erscheint eine wunderbar erhabene königliche Figur, mit hoheitsvollen, tiefen Augen, die eine stille Trauer verraten.
Es ist nicht mehr der
elegante Dr. Herzl aus Wien, es ist ein aus dem Grabe erstandener königlicher Nachkomme Davids, der vor uns erscheint, in der Größe und Schönheit, mit der Phantasie
und Legende ihn umwoben haben.
Der ganze Saal ist ergriffen, als hätte sich
ein historisches Wunder vollzogen.
Und wahrlich, war es nicht ein Wunder, das hier geschah?
Fünfzehn Minuten lang hat alles gebebt vor begeisterten Zurufen, stürmischem
Jubel, Händeklatschen und Tücherschwenken. Der große zweitausendjährige Traum
unseres Volkes schien in Erfüllung zu gehen; es war, als ob der Moschiach Ben
David vor uns stand, und ein starker Wunsch, ein innerer Zwang ergriff mich, durch
dieses stürmische, jubelnde Meer laut zu rufen: jechi Hamelech! Es lebe der König!
(Aus dem russischen Manuskript übertragen.)
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26-04-04 |