Rom und Jerusalem
Die letzte Nationalitätenfrage
Briefe von Moses Hess
Tel Aviv 1935, Erstausgabe im Jahre 1862 / Ungekürzte Neuausgabe 1935
Auszüge, ohne Fussnoten
Vorwort
(S. 5-11)
Seitdem Innocenz III. den teuflischen
Plan fasste, die Juden, welche damals das Licht der spanischen Kultur in die
Christenheit trugen, moralisch zu vernichten durch den Zwang, den er ihnen
auferlegen ließ, einen Schandfleck auf ihre Kleider zu heften, bis zu dem
frechen Raube eines jüdischen Kindes aus dem Hauser seiner Eltern unter der
Regierung des Kardinals Antonelli, war das päpstliche Rom für die Juden eine
unversiegbare Giftquelle, mit deren Trockenlegung auch unsere
christlich-germanischen Judenfeinde aufs Trockene geraten, und aus Mangel
Nahrung aussterben werden.
Mit dem feindlichen Verhältnis des
Christentums zur Kultur hört auch sein feindliches Verhältnis zum Judentume
auf; mit der Befreiung der ewigen Stadt an der Tiber beginnt auch jene der
ewigen Stadt auf Moria, mit der Wiedergeburt Italiens auch die Auferstehung
Judäas. – Auch Jerusalems verwaiste Kinder werden Teil nehmen dürfen an der
großen Völkerpalingenesis, an der Auferstehung aus dem totenähnlichen
Winterschlaf des Mittelalters mit seinen bösen Träumen.
Der Völkerfrühling hat mit der
französischen Revolution begonnen; das Jahr 1789 war das
Frühlingsäquinoktium der Geschichtsvölker. Die Auferstehung der Toten hat
nichts Befremdendes mehr zu einer Zeit, in welcher Griechenland und Rom
wieder erwachen, Polen von Neuem aufatmet, Ungarn zum letzten Kampfe rüstet,
und eine gleichzeitige Erhebung aller jener unterdrückten Rassen sich
vorbereitet, die, abwechselnd von asiatischer Barbarei und europäischer
Zivilisation, von stupidem Fanatismus und raffinierter Berechnung
mißhandelt, mißbraucht und ausgesogen, dem barbarischen und zivilisierten
Hochmute der herrschenden Rassen im Namen eines höhern Rechts das
Herrscherrecht streitig machen.
Zu den totgeglaubten Völkern, welche im
Bewusstsein ihrer geschichtlichen Aufgabe ihre Nationalitätsrechte geltend
machen dürfen, gehört unstreitig auch das jüdische Volk, das nicht umsonst
zwei Jahrtausende hindurch den Stürmen der Weltgeschichte getrotzt, und
wohin auch die Flut der Ereignisse es getragen, von allen Enden der Welt aus
den Blick stets nach Jerusalem gerichtet hat und noch richtet. - Mit dem
sichern Rasseninstinkte seines kulturhistorischen Berufs, Welt und Menschen
zu einigen und zu verbrüdern im Namen ihres ewigen Schöpfers, des All-Einen,
hat dieses Volk sich in seiner Religion seine Nationalität konserviert, und
beide untrennbar verbunden im unveräußerlichen Lande der Väter. - Kein
modernes, nach einem Vaterlande ringendes Volk kann ihm das seinige
vorentalten, ohne den tödlichsten Widerspruch mit sich herum zu tragen, an
sich selbst irre zu werden und einen moralischen Selbstmord zu begehen.
So zeitgemäß aber die jüdische
Nationalitätsfrage dem unbefangenen Beobachter, so unzeitgemäß muss sie dem
Kulturiuden in Deutschland erscheinen, wo der liberale wie der reaktionäre
Judenfeind zur Beschönigung seines Judenhasses auf den Unterschied zwischen
der jüdischen und germanischen Rasse hinweist - in Deutschland, wo die
jüdische Nationalität das letzte Argument zu sein scheint für die
Verweigerung von politischen und bürgerlichen Rechten, die man von
ganz andern Bedingungen, als der Übernahme aller bürgerlichen und
politischen Pflichten abhängig macht - in Deutschland, wo die Juden seit
Mendelssohn, trotz ihrer lebhaften Beteiligung an deutscher Kultur und
Sitte, trotz der Verleugnung ihres Nationalkultus, trotz aller Bemühungen,
sich zu germanisieren, vergebens die politische und soziale Gleichstellung
mit ihren deutschen Brüdern anstreben!
Was nicht der Bruder vom Bruder, nicht
der Mensch vom Menschen erlangen konnte, das Volk wird's vom Volke, die
Nation von der Nation erringen. - Es kann keinem Volke gleichgültig sein, ob
es im letzten europäischen Freiheitskriege ein Volk zum Freunde, oder zum
Feinde haben wird.
Die Stimmen, welche heute von allen
Weltgegenden her für die nationale Wiedergeburt Israels laut werden, finden
ihre Rechtfertigung zunächst im jüdischen Kultus, im nationalen Wesen des
Judentums; sodann in der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der Menschheit
und deren Resultat: in der gegenwärtigen Weltlage.
In den Briefen ist vor allen Dingen die
erstere, die innere Berechtigung betont. Der Verfasser musste sich
dabei ebenso sehr gegen rationalistische und philanthropische Illusionen
aussprechen, welche die nationale Bedeutung des jüdischen Kultus verkennen,
oder äußerlicher Rücksichten halber verleugnen, wie gegen dogmatische
Eiferer, die, unfähig unsere Geschichtsreligion zur Höhe der modernen
Wissenschaft zu entwickeln, sich aus Verzweiflung in den Schoß der
alleinseligmachenden Unwissenheit flüchten und im bewußten Widerspruch mit
den Errungenschaften des Geistes und der Kritik verharren. Somit konnte er
den schon gebahnten Weg zum Frieden betreten, der dem zwar notwendigen, aber
unerquicklichen Kampfe zwischen Reform und Orthodoxie täglich mehr Terrain
abgewinnt.
Dank den neuern Arbeiten jüdischer
Gelehrten, Dank auch den reizenden Schilderungen des jüdischen Lebens durch
begabte Romanschriftsteller und Dichter, hat unser national-humanitärer
Geschichtskultus gegenwärtig Anhänger wiedergefunden unter denen selbst, bei
welchen noch bis vor Kurzem Aufklärung und Abfall vom Judentume synonym zu
sein schienen. Auf dem Boden der neuern jüdischen Kritik zählt die
sogenannte reformatorische Richtung, wie die entgegengesetzte reaktionäre,
kaum noch einige nennenswerte Vertreter. Die innern Motive, welche in den
vorliegenden Briefen für die nationale Wiedergeburt Israels geltend gemacht
werden, schließen sich dem heutigen Stande der jüdischen Wissenschaft an.
"Die Geschichte des nachtalmudischen
Zeitraums", sagt der hervorragendste moderne jüdische Historiker, "hat also
noch immer einen nationalen Charakter; sie ist keineswegs bloße
Religions- oder Kirchengeschichte".
"Als Geschichte eines Volksstammes",
fährt unser Historiker fort, "ist die jüdische Geschichte
weit entfernt, eine bloße Literatur-
oder Kirchengeschichte zu sein, wozu sie Unkunde und die Einseitigkeit
stempeln, sondern die Literatur und die religiöse Entwicklung sind, ebenso
wie das hochtragische Märtyrologium, das dieser Stamm oder diese
Genossenschaft einzuzeichnen hatte, nur einzelne Momente in seinem
Geschichtsverlaufe, welche nicht das Wesen desselben ausmachen".
Die historische Kritik ist an die Stelle
der rationalistischen jener "Reformatoren" getreten, welche das Politische
vom Religiösen im Judentum trennen wollten, oder die den tiefen nationalen
Lebensborn, welchem die talmudische, wie die altjüdische, biblische
Literatur entquollen ist, so sehr verkennen, dass sie in dieser organischen
Schöpfung nichts weiter erblicken, als das ganz äußerliche Moment einer
Akkomodation für stets veränderliche Zeitverhältnisse.
Hat aber so unter den Strebsamen, die
der starren Orthodoxie längst, entwachsen sind, eine Vertiefung in das
nationale Wesen des Judentums jenen flachen Rationalismus verdrängt, der nur
dem Indifferentismus und dem Abfall vom Judentum, nicht der Wiederbelebung
seines schöpferischen Geistes und der Wiederaufnahme seiner welthistorischen
Arbeit förderlich sein konnte, so sind auf der andern Seite auch Rabbinen,
wie ich deren schon frühzeitig in meiner Jugend kennen zu lernen das Glück
hatte, nicht hinter den modernen an Gelehrsamkeit und humanistischer Bildung
zurückgeblieben. - Die neuen Rabbinenschulen, welche heute nach dem Vorbilde
der Breslauer Musterschule auch in andern jüdischen Zentren gegründet oder
gründlich umgestaltet werden, dürften vollends die Kluft schließen zwischen
dem Nihilismus einer Reform, die nichts gelernt, und der Umkehr zu einer
verzweifelten Reaktion, die nichts vergessen hat. - Ein milder, versöhnender
Lebenshauch weht bereits da, wo noch vor kaum einigen Dezennien eine
orthodoxe Eiskruste alles zu erstarren, ein revolutionärer Samum alles zu
verbrennen und zu verflüchtigen drohte.
Die allgemeine Entwicklungsgeschichte
des sozialen Lebens und ihre Resultate, die heutigen
Nationalitätsbestrebungen, werden sodann in Betracht gezogen, die noch
keineswegs beendigte geschichtliche Aufgabe des Judentums zu beleuchten, um
anzudeuten, wie die gegenwärtige Weltlage der Gründung von jüdischen
Kolonien am Kanal von Suez und an den Ufern des Jordans in einer nicht mehr
fernen Zeit Vorschub leisten dürfte, um endlich den noch wenig beachteten
Umstand hervorzuheben, dass hinter den Nationalitäts- und Freiheitsfragen,
welche heute die Welt bewegen, sich eine noch weit tiefere, durch keine
philanthropische Redensarten zu beseitigende Rassenfrage birgt, die, so alt
wie die Geschichte, erst gelöst sein muss, bevor an eine definitive Lösung
der politisch-sozialen Probleme weiter gearbeitet werden kann.
Den Bedenken gegenüber, die ein
unberechtigter, das moderne Völkerrecht verletzender, deutscher
Rassenhochmut und eine hinter der modernen Philosophie und Wissenschaft
zurück gebliebene jüdische Weisheit gegen meine Weltanschauung überhaupt,
und besonders in diesem Zusammenhange mit dem Judentume, erheben dürften,
erschien es nicht überflüssig, dass darauf Bezügliche, welches in den
Briefen formell nur lose verbunden werden konnte, in einem Epiloge zusammen
zu fassen, der auch als Einleitung zu den Briefen betrachtet werden kann.
Hier sowohl, wie in den Noten, welche am Ende dieser Schrift beigefügt sind,
war außerdem der Ort zu einer eingehenden philosophischen Erörterung und
speziellern wissenschaftlichen Begründung mancher in den Briefen nur
allzuflüchtig berührten Prinzipien und prinzipiellen Tatsachen.
Köln, im Mai 1862.
Der Verfasser
Erster Brief
(S. 12-13)
Rückkehr nach Hause. - Die jüdischen
Frauen. - Quelle der jüdischen Geschichtsreligion - Familienliebe. - Mater
dolorosa.
Da steh' ich wieder nach einer
zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Anteil an
seinen Freuden und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an
seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Kulturvölkern, in
deren Mitte es lebt, mit welchen es aber, trotz eines zweitausendjährigen
Zusammenlebens und Strebens, nicht organisch verwachsen kann.
Ein Gedanke, den ich für immer in der
Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke
an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbteil meiner Väter, dem heiligen
Lande und der ewigen Stadt, der Geburtsstätte des Glaubens an die göttliche
Einheit des Lebens und an die zukünftige Verbrüderung aller Menschen.
Seit Jahren schon pochte dieser lebendig
Begrabene in der verschlossenen Brust und verlangte einen Ausweg. Doch mir
fehlte die Schwungkraft zum Übergange aus einer dem Judentum scheinbar so
fern liegenden Bahn, wie die meinige war, zu jener neuen, die mir in
nebelhafter Ferne und nur in allgemeinen Umrissen vorschwebte.
Ist es Zufall, dass mit jeder neuen
Richtung, die mich in ihren Zauberkreis zieht, ein unglückliches weibliches
Wesen auf meinem Lebenswege erscheint und mir den Mut und die Kraft giebt,
unbekannte Bahnen zu durchwandern?
O, wie falsch sind diejenigen berichtet,
welche den Einfluß der Frauen auf die Entwickelung des Judentums und der
Juden gering anschlagen! - Heißt es doch von den Letzteren: Der
Sittenreinheit ihrer Frauen hatten sie ihre erste Erlösung zu verdanken und
werden sie auch ihre letzte Erlösung zu verdanken haben.
Erst da ich sie in Ihrem Schmerze sah,
öffnete sich meine Brust, und leicht hob sich der Sargdeckel von meinem
entschlummerten Volksgedanken, als ich die Quelle entdeckte, aus welcher Ihr
Glaube an die Ewigkeit des Geistes entsprungen.
Was in mir den Entschluss zur Reife
brachte, für die national Wiedergeburt meines Volkes aufzutreten, ist Ihr
unendlicher Seelenschmerz über den Verlust einer teuren Hingeschiedenen.
Solcher Liebe, die gleich der Mutterliebe aus dem Blute stammt, und doch so
rein wie der Geist Gottes ist, einer so unbegrenzten Familienliebe ist nur
ein jüdisches Herz fähig. Und diese Liebe ist der natürliche Born jener
intellektualen Liebe Gottes, welche nach Spinoza das Höchste ist,
wozu es der Geist überhaupt bringen kann. Aus der unversiegbaren Quelle der
jüdischen Familienliebe stammen die Erlöser des Menschengeschlechts.
"Durch Dich" sagt in seiner
Selbstoffenbarung der göttliche Genius der jüdischen Familie, "werden alle
Familien der Erde gesegnet."
Jeder Jude hat den Stoff zu einem
Messias, jede Jüdin hat den zu einer mater dolorosa in sich.
(…)
Fünfter Brief
(S. 34-43)
Rückschau. - Ereignisse von Damaskus.
- Ein Schmerzensschrei. - Mamserbilbul. - Hep Hep. - Flucht nach Frankreich.
- Arnold Ruge. - Napoleon. - Ein deutscher Biedermann. - Teutomanen. -
Jefferson. - Vaterländer und Landesväter. - Ubi bene ibi patria. - Das
jüdische Inkognito. - Die Religion des Todes. - Trage dein Banner hoch mein
Volk!
Ob ich denn im Ernste an eine Erlösung
aus dem Exil glaube? - Sie fragen es und fügen hinzu, ich hätte mich ja
schon in meinen ersten zwei Schriften, in der "Heiligen Geschichte der
Menschheit" und in der "Europäischen Triarchie", für die Erfüllung des
jüdischen Messiasglaubens ausgesprochen. - Sie holen weit aus, Verehrteste,
und erinnern mich daran, dass ich als Schriftsteller nicht nur meine
gegenwärtigen Ideen, sondern auch meine vergangenen zu verantworten habe.
Sie haben Recht. Auch will ich diese Verantwortlichkeit übernehmen. Nur
möchte ich von dem Gedanken, der mir jetzt am Herzen liegt, nicht um meiner
eigenen logischen Entwickelung willen, zu weit ablenken. Ich werde Ihnen
daher aus meiner Vergangenheit nur einige charakteristische Momente, die auf
meine jetzige Richtung Bezug haben, im Fluge vorführen.
Vor zwanzig Jahren, als von Damaskus aus
eine absurde Anklage gegen Juden zu uns Europäern herüber getragen, und ein
ebenso bitteres wie gerechtfertigtes Schmerzgefühl in allen jüdischen Herzen
rege wurde ob der Rohheit und Leichtgläubigkeit des asiatischen und
europäischen Pöbels, der heute wie seit zweitausend Jahren jeder Verleumdung
ein geneigtes Ohr leiht, sobald sie gegen Juden gerichtet ist; damals, als
es mir mitten in meinen sozialistischen Bestrebungen zum ersten Male wieder
recht schmerzlich ins Gedächtnis zurückgerufen wurde, dass ich einem
unglücklichen, verleumdeten, von aller Welt verlassenen, in allen Ländern
zerstreuten, aber nicht getöteten Volke angehöre damals schon hatte ich,
obgleich ich dem Judentum bereits fern stand, meinen jüdisch-patriotischen
Gefühlen Ausdruck geben wollen in einem Schmerzensschrei, der jedoch bald
wieder in der Brust erstickt worden ist durch den größeren Schmerz, den das
europäische Proletariat in mir erweckte.
Andere Völker haben nur
Parteistreitigkeiten; die Deutschen können sich auch dann nicht vertragen,
wenn sie zu einer und derselben Partei gehören. Meine eignen
Gesinnungsgenossen haben mir die deutschen Bestrebungen verleidet und im
Voraus das Exil erträglich gemacht, das erst einige Jahre später, in Folge
des Sieges der Reaktion, aus einem freiwilligen in ein unfreiwilliges
verwandelt werden sollte. - Schon kurze Zeit nach der Februarrevolution ging
ich nach Frankreich. Hier lernte ich das Volk näher kennen, welches in
unserm Jahrhundert der Vorkämpfer aller sozialen Bestrebungen ist. Wenn
dieses Volk sieh heute der eisernen Diktatur des Kaisertums unterwirft, so
geschieht es doch nur so lange, als der Kaiser seinem revolutionären
Ursprunge nicht nur in Worten treu bleibt. Das Kaisertum ist verloren von
dem Augenblicke an, wo die dynastischen Interessen mit den Bestrebungen des
französischen Volkes in Konflikt geraten werden.
Nach dem Staatsstreich zog ich mich von
der Politik zurück und widmete mich ausschließlich den Naturwissenschaften.
– Dem alten Junghegelianer Dr. Arnold Ruge, der schon dem
"Kommunisten-Rabbi Moses" seinen Abfall von der "Idee" nicht verzeihen
konnte, war dieser "Materialismus" vollends ein Greuel. Er gab im
Deutschen Museum nicht undeutlich zu verstehen, dass solcher
naturwissenschaftliche Materialismus eigentlich Imperialismus sei, nicht
germanischer, barbarossischer, sondern romanischer, bonapartistischer. -
Welcher Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlichen Studien und
Bonapartismus existiert, darüber hat der alte Ruge noch keinen Aufschluss
gegeben. Mir stellte sich inzwischen seit dem Beginne des italienischen
Krieges ein wirklicher Zusammenhang zwischen meinen Rassenstudien und jenen
modernen Nationalitätsbestrebungen heraus, die seit diesem Kriege einen so
mächtigen Aufschwung genommen haben. Ich werde Ihnen gelegentlich einige
Resultate dieser Studien mitteilen. Hier genüge die Bemerkung, dass sie mir
die Überzeugung von dem Untergange jeder Rassenherrschaft und der
Wiedergeburt der Völker beibrachten. Vor allem war es mein eignes Volk, das
jüdische, welches mich mehr und mehr zu fesseln anfing. Die Geister meiner
unglücklichen Stammesgenossen, die mich in meiner Jugend umschwebten, kamen
wieder zum Vorschein und längst unterdrückte Gefühle ließen sich nicht mehr
abweisen. Der Schmerz, der zur Zeit der Vorfälle von Damaskus ein
vorübergehender war, wurde jetzt vorherrschende und dauernde
Geistesrichtung. Nicht mehr suchte ich die Stimme meines jüdischen Gewissens
zu unterdrücken; im Gegenteil, ich verfolgte eifrig ihre Spuren und war
nicht wenig überrascht, als ich in meinen alten Manuskripten eine
antizipierte Rechtfertigung meiner heutigen jüdischen Bestrebungen fand.
Folgendes schrieb ich im Jahre 1840 über
die bereits erwähnten Ereignisse von Damaskus:
"Die Art und Weise, wie diese
Judenverfolgung in Europa selbst im aufgeklärten Deutschland aufgefasst
wird, muss einen Wendepunkt im Judentum hervorrufen. Sie zeigt nur zu
deutlich, wie trotz aller Bildung der okzidentalen Juden, zwischen ihnen und
den europäischen Völkern noch immer eine ebenso große Scheidewand, als zu
den Zeiten des traurigsten religiösen Fanatismus besteht. Unsre
Stammesgenossen, die aus Emanzipationsrücksichten sich und Anderen gern
einreden möchten, dass die modernen Juden gar kein nationales Gefühl mehr
besitzen, wissen wahrhaftig nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Die guten
Leute begreifen nicht, wie es möglich sei, dass man in Europa im neunzehnten
Jahrhundert einem mittelalterlichen Märchen, welches, ach, unsern
gepeinigten Voreltern unter dem Namen "Mamserbilbul" bekannt genug war, auch
nur einen Augenblick Glauben schenken könne. Unsern gebildeten deutschen
Juden ist der sie umgebende Judenhass stets ein Rätsel geblieben. War nicht
seit Mendelssohn das ganze Streben der deutschen Juden stets dahin
gerichtet, deutsch zu sein, deutsch zu denken und zu fühlen? Haben sie nicht
sorgfältig jede Erinnerung an ihre antike Nationalität auszumerzen
gesucht? Zogen sie nicht in den "Befreiungskrieg" ? Waren sie nicht
Deutschtümler und Franzosenfresser? - Sangen wir nicht noch gestern mit
Nikolas Becker: "Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen
Rhein"? Habe ich nicht selbst die unverzeihliche Dummheit begangen, eine
musikalische Komposition dieser "deutschen Marsaillaise" dem Verfasser
einzusenden?
Dennoch ist mir im Einzelnen dasselbe
Widerfahren, was die deutschen Juden im Ganzen und Grossen nach ihrer
patriotischen Begeisterung erlebt hatten. Auch ich musste es erleben, dass
der deutsche Mann nicht nur meine von Patriotismus glühende Zuschrift in
einem eiskalten Tone beantwortete, sondern auch noch zum Überfluss auf der
Rückseite seines Briefes mit verstellter Handschrift die Worte hinzufügte:
Du bist ein Jud'. - Ich vergaß, dass auch die Deutschen nach ihrem
Befreiungskriege die Juden, welche mit ihnen gegen Frankreich fochten, nicht
nur von sich stießen, sondern sie obendrein mit Hep Hep verfolgten -, ich
nahm Becker's Hep Hep als eine persönliche Beleidigung auf und schrieb ihm
mit gar nicht verstellter Handschrift einige Artigkeiten, die der
Biedermann, der sich wahrscheinlich seiner Ungezogenheit schämte,
stillschweigend einsteckte. - Heute möchte ich fast dem deutschen Sänger
Abbitte tun. Die Beleidigung war offenbar keine persönliche. Man kann nicht
zugleich Teutomane und Judenfreund sein, wie man nicht zugleich die deutsche
Kriegsherrlichkeit und deutsche Volksfreiheit lieben kann. Die echten
Teutomanen, die Arndt und Jahn, werden stets reaktionäre
Biedermänner sein. Der Deutschtümler liebt in seinem Vaterlande nicht den
Staat, sondern die Rassenherrschaft. Wie kann er in seiner Mitte andern
Rassen, als den herrschenden, eine Gleichberechtigung zugestehen, die selbst
für die zahlreichsten Volksklassen in Deutschland noch eine Utopie ist!
Der sympathische Franzose assimiliert
mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft jedes fremde Rassenelement. Auch
der Jude ist hier Franzose. - Übrigens hat es schon Jefferson zur Zeit des
amerikanischen Befreiungskrieges gesagt: Jeder Mensch hat zwei Vaterlande,
zuerst sein eigenes, sodann Frankreich. - Der Deutsche dagegen möchte alle
seine Vaterländer und Landesväter ganz allein besitzen. Ihm fehlt die erste
Bedingung jeder chemischen Assimilation: die Wärme.
So lange der Jude Verfolgung und jede
Demütigung als eine Strafe Gottes im Vertrauen auf die einstige
Wiederherstellung seiner Nation ertrug, konnte sein Stolz nicht verletzt
werden. Sein einziger Beruf war, sich und seinen Stamm einer Zukunft zu
erhalten, welche seine Nation für alle erlittene Unbill entschädigen, für
jede Kränkung rächen und für ihre Treue belohnen werde. Diesen Glauben und
diese Hoffnung haben aber unsere aufgeklärten Juden nicht mehr. Für sie ist
jede falsche Anklage zugleich eine Verletzung ihrer bürgerlichen Stellung
und eine Ehrenkränkung. Was hilft ihnen die Emanzipation, was verschlägt es,
wenn auch hie und da ein Jude Gemeinderat oder auch Volksvertreter, ja
Minister wird, so lange dem Namen "Jude" ein Makel anklebt, den jeder
hochnäsige Bursche, jeder obskure Zeitungsschreiber, jeder dumme Junge mit
sicherem Erfolge ausbeuten kann?
So lange der Jude seine Nationalität
verleugnen wird, weil er eben nicht die Selbstverleugnung hat, seine
Solidarität mit einem unglücklichen, verfolgten und verhöhnten Volke
einzugestehen, muss seine falsche Stellung mit jedem Tage unerträglicher
werden. - Wozu die Täuschung? - Die europäischen Völker haben die Existenz
der Juden in ihrer Mitte niemals anders denn als eine Anomalie betrachtet.
Wir werden stets Fremde unter Nationen bleiben, die uns wohl aus Humanität
und Rechtsgefühl emanzipieren, aber nie und nimmer achten werden, so lange
wir das ubi bene ibi patria mit Hintansetzung unsrer eignen großen
nationalen Erinnerungen als Grund- und Glaubenssatz veranstalten. - Mag
immerhin in den zivilisierten Ländern der religiöse Fanatismus unsre
aufgeklärten Stammesgenossen nicht mehr mit seinem Hasse verfolgen. Trotz
aller Aufklärung und Emanzipation wird doch der Jude im Exil, der seine
Nationalität verleugnet, nicht die Achtung der Nationen gewinnen, in deren
Mitte er wohl als Staatsbürger naturalisiert, aber nicht der Solidarität mit
seiner Nation enthoben werden kann. - Nicht der alte fromme Jude, der sich
eher die Zunge ausreißen ließe, als sie zur Verleugnung seiner Nationalität
zu missbrauchen; der moderne Jude ist der verächtliche, er, der, gleich dem
deutschen Lumpen im Auslande, seine Nationalität verleugnet, weil die
schwere Hand des Schicksals auf seiner Nation lastet. - Die schönen Phrasen
von Humanität und Aufklärung, womit er so freigebig um sich wirft, um seinen
Verrat, seine Scheu vor der Solidarität mit seinen unglücklichen
Stammesgenossen, zu bemänteln, werden ihn nicht vor dem strengen Urteile der
öffentlichen Meinung schützen. Vergebens setzt er ihr sein geographisches
und philosopisches Alibi entgegen. - Nehmt tausend Masken an, verändert
Namen, Religion und Sitte, und schleicht Euch incognito durch die Welt,
damit man Euch den Juden nicht anmerke: jede Beleidigung des jüdischen
Namens trifft doch euch mehr, als den ehrlichen Mann, der seine Solidarität
mit seiner Familie eingesteht und für ihre Ehre einsteht.
So, meine Freundin, dachte ich mitten in
meinen Bestrebungen zu Gunsten des europäischen Proletariats. Mein
Messiasglaube war damals, was er heute ist, der Glaube an die Wiedergeburt
der welthistorischen Kulturvölker durch Erhebung der Gesunkenen auf das
Niveau der Höherstehenden. Heute, wie zur Zeit, als ich meine ersten
Schriften herausgab, glaube ich noch, dass das Christentum ein großer
Schritt auf dem Wege zu jenem erhabenen Ziele war, welches die Propheten als
messianische Zeit geschildert hatten. Heute, wie damals, glaube ich auch
noch, dass diese große, weltgeschichtliche Epoche mit Spinoza im Geiste der
Menschheit aufzutauchen begann. Aber ich habe nie geglaubt und nirgends
gesagt, daß das Christentum das letzte Wort der heiligen Geschichte der
Menschheit, oder auch, daß mit Spinoza diese Geschichte abgeschlossen sei. -
Gewiss ist, und ich habe nie daran gezweifelt, dass wir heute nach einer
weit umfassenderen Erlösung seufzen, als das Christentum jemals geboten hat,
jemals bieten konnte. - Das Christentum war das nächtliche Gestirn, welches
nach dem Sonnenuntergang des antiken Lebens den Völkern zum Trost und zur
Hoffnung aufging; es leuchtete über die Gräber der gemordeten antiken
Nationen. Eine Religion des Todes, hörte seine Mission in dem Augenblicke
auf, als die Völker wieder zum Leben erwachten. Die Geschichte der letzten
drei Jahrhunderte liefert dafür auf jeder ihrer Seiten bis zum heutigen Tage
Beispiele in Menge; ich begnüge mich damit, Sie auf die heutigen Vorgänge in
Italien aufmerksam zu machen. Auf den Trümmern des christlichen Roms erhebt
sich das wiedergeborene italienische Volk. - Wie das Christentum, so hat
auch der Islamismus nur die Resignation gelehrt; und wie Österreich zu
Italien, so verhält sich die Türkei zu Palästina. - Das Christentum
und der Islamismus sind die Inschriften auf den Grabsteinen, welche
barbarischer Druck auf die Gräber der Nationen gewälzt hat. - So lange die
Österreicher in Italien, die Türken im heiligen Lande unsrer Väter
herrschten, konnten das italienische und jüdische Volk nicht wieder zum
Leben erwachen. Die Soldaten der modernen Zivilisation aber, die Franzosen,
brechen die Herrschaft der Barbaren, wälzen mit ihren Herkulesarmeen die
Grabsteine von den Gräbern der Entschlummerten hinweg, und die Völker
erwachen wieder.
In jenen Ländern, welche den Okzident
vom Orient scheiden, in Russland, Polen, Preußen, Österreich und der Türkei,
leben Millionen unsrer Stammesgenossen, die Tag und Nacht die inbrünstigsten
Gebete für die Wiederherstellung des jüdischen Reiches zum Gotte der Väter
emporsteigen lassen. Sie haben den lebendigen Kern des Judentums, ich meine
die jüdische Nationalität, treuer bewahrt, als unsere okzidentalen Brüder,
die Alles im Glauben unsrer Väter neu beleben möchten, nur nicht die
Hoffnung, die diesen Glauben geschaffen, und durch alle Stürme der Zeiten
hindurch lebendig erhalten hat, die Hoffnung auf die Wiederherstellung
unsrer Nationalität. - Zu jenen Millionen treuer Brüder möchte ich
hinwandern und ihnen zurufen: Trage Dein Banner hoch, mein Volk! In Dir ist
das lebendige Korn aufbewahrt, welches, wie die Saatkörner in den
ägyptischen Mumien, Jahrtausende geschlummert, aber seine Keimkraft nicht
verloren hat, und welches Früchte tragen wird, sobald die starre Hülle, in
der es eingeschlossen war, durchbrochen, sobald es in den kultivierten Boden
der Gegenwart hinein gepflanzt ist, wo Licht und Luft, und der Tau des
Himmels belebend hinzutreten!
Die starren Formen des orthodoxen
Judentums, die bis zum Jahrhundert der Wiedergeburt vollkommen berechtigt
waren, werden nur von Innen heraus, durch die Keimkraft der lebendigen Idee
der jüdischen Nationalität und ihres Geschichtskultus, naturgemäß gesprengt.
Nur aus der nationalen Wiedergeburt wird das religiöse Genie der Juden,
gleich dem Riesen, der die Muttererde berührt, neue Kräfte ziehen und vom
heiligen Geiste der Propheten wieder beseelt werden. –
Es ist bis jetzt noch keinem
Kulturfreunde, selbst nicht der Meisterhand eines Mendelssohn gegeben
gewesen, jene harte Schale, mit welcher der Rabbinismus das Judentum
umpanzert hatte, von außen zu durchbrechen, um Licht in dasselbe eindringen
zu lassen, ohne sein innerstes Wesen, seinen nationalen Geschichtskultus, zu
zerstören und ein heiliges Leben zu morden.
1 ) Die Allgemeine
Zeitung des Judentums, welche sonst nicht kulturfeindlich ist, klagte
damals: "Europa hat den Bekennern der israelitischen Religion nie einen
Schmerz, nie eine Träne, nie eine Kränkung erspart." - Wären die Juden
freilich nur eine religiöse Konfession, wie jede andere, so wäre es
allerdings auffallend, dass Europa, nachdem sie sich mindestens in gleichem
Maße, wie jede andere Konfession, europäische Bildung angeeignet hat,
unbegreiflich, dass gerade Deutschland, wo die Juden sich in höherem Maße an
der Kultur beteiligen, den "Bekennern der israelitischen Religion nie einen
Schmerz, nie eine Träne, nie eine Kränkung, erspart." - Die Lösung dieses
Rätsels liegt eben darin, dass die Juden noch etwas Anderes, als "Bekenner
einer Religion", dass sie eine Stammesgenossenschaft, ein Volk, eine von
ihren eigenen Kindern leider nur zu oft verlassene und verleugnete Nation
sind, die jeder Gassenbube ungestraft glaubt verhöhnen zu dürfen, weil sie
heimatlos in der ganzen Welt umherirrt.
(…)
Elfter Brief
(S. 105-113)
Das regenerierte Judentum und der
Opferkultus. – Zweitausendjähriges Seufzen nach einer neuen Lichtschöpfung
für Zion. – Patriotische Gesänge und Gebete. - Eine, alte Legende. - Zeichen
der Zeit. - Le temps du retour approche. - Die orientalische Frage und die
Juden. - Begeisterter Aufruf eines Franzosen.
Sie führen mich von meinem "Ausfluge in
die Sterne" wieder auf den Boden Palästina's zurück. Sie lieben die
Antithesen. Dem erhabenen Geschichtskultus meines regenerierten Judentums
setzen Sie den "blutigen Opferkultus" der alten Israeliten entgegen und
meinen niemals würden die frommen Juden ohne diesen Kultus zur
Wiederherstellung des Tempels mitwirken. - Sie geben dabei von der
Voraussetzung aus, dass meine Liebe zu meiner Nation nicht so weit reiche,
ihr zu liebe auch den Opferkultus mitzumachen.
Ich kann Ihnen weder die vermeintliche
conditio sine qua non der frommen Juden, noch Ihre Hypothese über meinen
jüdischen Patriotismus zugeben. - Was zunächst meine etwas spät
wiedererwachte, eben darum aber um so tiefer wurzelnde Liebe zu meiner
Nation betrifft, so scheinen Sie zu vergessen, dass die ächte, Geist und
Sinn in gleichem Maße beherrschende Liebe wirklich blind ist, blind aus dem
Grunde, weil sie nicht philosophisch oder auch ästhetisch, wenn Sie wollen,
nur die "Vollkommenheiten" des geliebten Wesens, sondern dasselbe grade so
liebt, wie es ist, mit allen seinen Vorzügen und Mängeln - nicht weil sie
die Letztern etwa zu beschönigen sucht, sondern weil sie die ungeteilte
Individualität liebt. Die Narbe im Antlitz meiner Geliebten tut nicht nur
meiner Liebe keinen Eintrag, sondern ist mir ebenso teuer, wer weiß ?
vielleicht noch teuer als ihre schönen Augen, die sich auch bei anderen
Schönen finden, während grade diese Narbe charakteristisch für die
Individualität meiner Geliebten ist. - Wäre der Opferkultus wirklich von der
jüdischen Nationalität unzertrennlich, ich würde ihn ohne Weiteres
akzeptieren. Aber bis jetzt, und so lange ich nicht eines Bessern belehrt
werde, bin ich vom Gegenteil überzeugt. In unserm erhabenen
Geschichtskultus, der von Lichtschöpfung zu Lichtschöpfung schreitet, der
nur Liebe zur Menschheit und Erkenntnis Gottes atmet (1,)
kann der Opferkultus nichts Wesentliches, nichts Integrierendes sein.
Aber trotz meiner individuellen
Überzeugung mag ich mich nicht vermessen, der Geschichte vorgreifen zu
wollen. Es gibt Fragen, die a priori, d. h. vor der Praxis, unlöslich sind,
sich aber im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung von selbst lösen. Zu
diesen Fragen gehört die des Kultus überhaupt, und ganz besonders die
Herausbildung bestimmter Formen und Normen des Gottesdienstes aus dem
sittlich-religiösen Geiste desjenigen Volkes, welches in jeder Epoche seiner
Entwicklung der eigne Schöpfer seiner Religion war.
Der Rabbiner Sachs, dessen
klassisches Werk ich Ihnen schon einmal zitierte, sagt da, wo er von den im
Exil starr gewordenen religiösen Normen spricht, und im Gegensatze zu dieser
Starrheit hervorhebt, wie sie durch eine freie geschichtliche Entwicklung
auf dem heiligen Boden entstanden sind:
"Der breite Boden einer historischen
Wirklichkeit ist nicht durch ein von vorn herein fertiges System von Normen
zu umspannen, und selbst das Gegebene und Feststehende hat der bewegten
freien Lebensäußerung gegenüber nicht Starrheit genug, um unverändert zu
verharren. Die lebendige Strömung spült die sie umgebenden Dämme leise ab,
und weiß dem Ufer schon ihre Einbiegungen und Windungen einzudrängen." -
Erst "mit dem Erlöschen der volkstümlichen Existenz, die ebenso sehr in
ihrem Bestehen die religiösen Normen gebildet hatte, als von ihnen war
bestimmt worden", nahm die religiöse Norm eine Starrheit an, die sie
notwendig wieder verlieren muss, wann die erloschene volkstümliche Bewegung
zu neuem Leben erwachen, wann der freie Fluss einer nationalen,
geschichtlichen Entwicklung den erstarrten Normen seine "Einbiegungen und
Windungen" von Neuem eindrängen wird.
Der heilige Geist, der schöpferische
Genius, ans dem das jüdische Leben und die jüdische Lehre entstanden sind,
ist von Israel gewichen, seitdem es angefangen hat, sich seiner Nationalität
zu schämen. Aber dieser Geist wird unser Volk, nachdem es wieder zum Leben
erwacht sein wird, von Neuem beseelen und Schöpfungen hervorbringen, von
welchen wir heute noch keine Ahnung haben.
Wie sich bei den wiedergebornen Völkern
das Leben und der Geist gestalten werden, vermag Niemand im Detail vorher zu
bestimmen. Was den Kultus derselben, und speziell den jüdischen Kultus
betrifft, so wird er gewiss ebenso verschieden von dein heutigen, wie von
dem antiken sein. - An und für sich enthält der Opferkultus, wie er in der
Bibel für den auserwählten Ort vorgeschrieben ist, durchaus nichts der
Humanität Widerstrebendes. Den scheußlichen Menschenopfern der Völker
gegenüber, welche die Israeliten von allen Seiten im Altertum umgeben
hatten, war er im Gegenteil der schönste Sieg der Humanität.
Mag das Tieropfer als eine Konzession
betrachtet werden, welche unsre Thora dem Heidentum machen musste, um einen
Rückfall in dasselbe zu verhindern, oder mag man im Opferkultus symbolische
Handlungen erblicken, deren Bedeutung und Bedürfnis wir nicht mehr kennen,
so viel ist sicher, die Juden hatten, trotz ihrer "blutigen Opfer", auf die
wir heute so vornehm herabblicken, eine größere Scheu vor dem Vergießen und
Verzehren des Blutes "welches das Leben ist" als unsre modernen Völker, die
das Blut mit dem Fleisch ohne Opfer und ohne Zeremonien verzehren. - Aber
freilich, der Opferkultus ist seit achtzehnhundert Jahren nicht mehr Mode;
darum schämen sieh dessen unsre neumodischen Juden. - Dennoch scheint er
heute noch ein natürlicher Ausdruck des frommen kindlichen Gemütes zu sein.
Goethe erzählt, wie er in seiner Jugend seinen religiösen Sinn nur
durch Opfer befriedigen konnte, die er dem Ewigen brachte, indem er ein
Feuer anzündete und seine liebsten Spielzeuge hinein warf. - Andrerseits
haben unsre Propheten des Altertums und Rabbinen des Mittelalters den
Opferdienst niemals für so wesentlich angesehen, wie unsre heutigen starren
Orthodoxen, die ihn von der Wiederherstellung unsrer Nationalität
unzertrennlich halten. - Schon R. Jochanan ben Sakkai erklärte sich
mit Hinweisung auf den prophetischen Ausspruch in Hos. Vl. 6 für die
Ersetzbarkeit der Opfer durch Mildtätigkeit, und neuere rabbinische
Autoritäten, welche den heutigen Ahroniden nicht das Recht zuerkennen, als
Opferpriester zu fungieren, sprechen sich nichts desto weniger für die
Wiederherstellung des jüdischen Staates aus. Der Kultus, den wir einst im
neuen Jerusalem feiern werden, kann und muss daher eine offene Frage
bleiben. Rom ist nicht in einem Tage gebaut worden; auch das neue Jerusalem
bedarf der Zeit zu seinem Riesenbau. Was wir heute für die Wiederherstellung
der jüdischen Nationalität zu tun haben, besteht zunächst darin, die
Hoffnung auf unsre politische Wiedergeburt lebendig zu erhalten, und sie da,
wo sie schlummert, wieder zu erwecken. Erlauben sodann die Weltereignisse,
welche sich im Orient vorbereiten, einen praktischen Anfang zur
Wiederherstellung des jüdischen Staates, so wird dieser Anfang zunächst wohl
in der Gründung jüdischer Kolonien im Lande der Väter bestehen, wozu
Frankreich ohne Zweifel die Hand zu bieten geneigt ist. Sie wissen, welchen
Anteil die Juden an der Subskription für die syrischen Schlachtopfer nahmen.
Cremieux war es, der die Initiative ergriff, derselbe Cremieux, der
vor zwanzig Jahren mit Sir Moses Montefiore nach Syrien gereist war, um die
Juden gegen die Verfolgungen der Christen in Schutz zu nehmen. - Im
Journal des Debats, das sonst selten Gedichte aufnimmt, erschien zur
Zeit der syrischen Expedition ein Gedicht von Leon Halevi, der
vielleicht so wenig, wie Cremieux, dabei an die nationale Wiedergeburt
Israels dachte. Dennoch können seine schönen Strophen kaum anders, als im
Vorgefühl dieser Wiedergeburt gedichtet worden sein. - Wenn der Dichter der
"Schwalben" noch fragend klagt:
"Wo bleibt der Held, wo bleibt der
Weise,
Der Dich von Neuem, Volk, belebt,
Der Dich, ein Heiland, ins Geleise
Der Weltgeschichte wieder hebt?"
so antwortet der französische Dichter
schon mit begeisterter Zuversicht:
Vous renaitrez, cités
craintives!
Un souffle de sécurité
Planera toujours sur vos rives,
Où nos couleurs auront flotté !
Vienne encore un appel supréme !
Au revoir n' est pas un adieu
La France est toute à ceux qu’ elle aime,
Comme l'avenir est à Dieu.
Alexander Weill sang um diese Zeit:
Il est un peuple au cou
d'airain,
Dispersé de l'Euphrat au Rhin.
Toute sa vie est dans un livre.
Toujours courbé, toujours debout,
Bravant la haine et le degoût,
Il ne meurt que pour mieux revivre!
Frankreich, liebe Freundin, Frankreich
ist der Held und Heiland, der unser Volk wieder ins Geleise der
Weltgeschichte hebt. Gestatten Sie mir, Ihnen eine Legende, die Sie
vielleicht kennen, ins Gedächtnis zurückzurufen:
Ein Ritter, der nach dem Orient zog, um
Jerusalem zu befreien, ließ in seinem Lande einen Freund zurück. Während
jener in den Kampf zog, blieb dieser in seinem Talmudstudium vertieft
zurück; denn der Freund des Ritters war kein andrer, als ein frommer Rabbi.
Einst trat der heimgekehrte Ritter
mitten in der Nacht in das Studierzimmer seines Freundes, der noch immer in
seinem Talmud versunken war, und sprach:
"Gott grüss' dich, alter Freund! Ich
komme aus dem heiligen Lande und bringe dir von dort ein Pfand unsrer
Freundschaft mit. Was ich mit dem Schwerte erkämpfe, du strebst danach mit
dem Geiste, der dich beseelt. Unsre Wege führen am Ende zusammen." Mit
diesen Worten überreichte der Ritter dem Rabbi eine Rose von Jericho. Der
Rabbi nahm die Blume und benetzte sie mit seinen Tränen. Da blühte die welke
Rose wieder auf, und der Rabbi sprach zum Ritter:
"Wundre dich nicht, Freund, dass die
Verwelkte in meiner Hand wieder aufblüht: sie hat wie unser Volk die
Eigenschaft, durch den warmen Hauch der Liebe zum Leben zu erwachen, mag sie
auch noch so lange dem Boden, in dem sie wurzelte, entrissen, und im
Auslande verdorrt sein. Auch Israel wird wieder jugendfrisch aufblühen, und
der heilige Funke, der jetzt unter der Asche glüht, wird wieder hell
auflodern, wann wir uns einst im Leben begegnen werden."
Die Wege des Rabbi's und des Ritters,
liebe Freundin, begegnen sich heute. Wie der Rabbi unser Volk, so ist der
Ritter kein andres als das französische, welches heute, wie im Mittelalter,
seine Soldaten nach Syrien gesendet, und die Wege Gottes in der Wüste
angebahnt hat.
Haben Sie niemals die Worte des
Propheten Jeschaja gelesen?
"Tröstet, tröstet mein Volk, spricht
Euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und kündigt ihr an, dass erfüllet ist
ihre Zeit, dass vergeben sind ihre Sünden, da sie das Doppelte ihrer Strafe
empfangen hat. - Bahnet in der Wüste den Weg des Ewigen, ruft die Stimme; im
Abendlande werden sie unserm Gotte einen Steg bereiten. Jede Vertiefung wird
erhöht, jeder Berg und Gipfel abgetragen, die Krümmungen werden grad
gerichtet, das Hügelland wird zur Ebene. - Alsdann wird die Herrlichkeit des
Ewigen sich kundgeben, und alles Fleisch erkennen, dass sein Mund
gesprochen."
Glauben Sie nicht in diesen Worten, mit
welchen der zweite Jeschaja seine Weissagungen beginnt, so wie in jenen
andern, mit welchen der Prophet Obadja die seinigen beschließt, unsre
heutige Zeit geschildert zu sehen? Ist nicht Hülfe nach Zion gesendet
worden, um die wilden Bergbewohner zu richten? Wird nicht Alles geebnet und
vorbereitet, nicht der Weg der Kultur in der Wüste gebahnt durch
Kanalarbeiten am Istmus von Suez, durch Eisenbahnen, welche Europa und Asien
verbinden? Freilich denkt man dabei noch nicht an die Wiederherstellung
unsrer Nationalität. Aber Sie kennen ja das Sprichwort: L'homme propose,
dieu dispose; der Mensch denkt, Gott lenkt. - Wie man einst im Westen
eine Strasse nach Indien suchte, und eine neue Welt fand, so wird man auf
dem Wege, der heute im Orient nach Indien und China angebahnt wird, unser
verlornes Vaterland wiederfinden. - Oder zweifeln Sie etwa noch, dass
Frankreich den Juden die Hand bieten werde zur Gründung von Kolonien, welche
von Suez bis Jerusalem, und von den Ufern des Jordans bis zu den Küsten des
Mittelmeeres ihr Netz ausbreiten könnten? - So lesen Sie nur die Schrift,
welche kurz nach den Mordszenen in Syrien bei dem berühmten
Broschürenverleger Dentu erschienen ist unter dem Titel: Die neue
orientalische Frage. Der Verfasser hat schwerlich im Auftrage der
französischen Regierung, sicher aber im Geiste des französischen Volkes
gehandelt, wenn er, nicht etwa aus religiösen Gründen, sondern aus rein
politischen und humanen Motiven unsre Stammesgenossen auffordert, ihren
alten Staat wieder herzustellen.
Ich möchte diese Schrift eines nicht
jüdischen, sondern französischen Patrioten unsern modernen Juden, die sich
mit französischer Humanität brüsten, zur Beherzigung empfehlen, und füge
daher einige Seiten aus derselben in deutscher Übersetzung bei.
(…)
Ein Stück Geschichte
(S. 201-207)
Völker wie Individuen haben in ihrem
Entwicklungsgange bestimmte Lebensalter. Nicht jedes Alter ist für jede
Stufe der Entwicklung geeignet; und das Versäumte oder Verfehlte ist meist
schwer, oft gar nicht im spätern Lebensalter der Völker einzuholen.
Deutschland bat zur Zeit der Reformation
auf einer politisch-sozialen Höhe gestanden, die bis in die tiefsten
Volksschichten jenes Selbstbewußtsein weckte, welches allein zu
politisch-sozialen Reformen auf nationaler Basis durch selbsteigne
Initiative befähigt, zu Revolutionen, wie sie in England im siebzehnten, in
Frankreich erst im achtzehnten Jahrhundert durchgesetzt worden konnten. -
Das sechzehnte Jahrhundert war die Epoche für Deutschlands Wiedergeburt.
Wirklich brachte Deutschland in jenem Jahrhundert eine Reform zu Stande,
aber nur eine solche, welche, weit entfernt, national zu werden, die Nation
innerlich spaltete. Die politisch-soziale Revolution auf deutsch-nationaler
Grundlage wurde im Blute der deutschen Bauern erstickt.
Wäre die Erhebung der deutschen Bauern
gegen verrottete feudale Zustände nicht so schmählich von den Koryphäen der
deutschen Kultur und Zivilisation verlassen und verraten worden, so hätte
das deutsche Volk schon damals seinen regelmäßigen Entwicklungsgang im
modernen Leben genommen, und nicht nur gleichen Schritt mit den übrigen
europäischen Kulturvölkern gehalten, sondern es wäre, wie es ihm als dem
Erstgebornen der neuen Zeit zugestanden, an deren Spitze geblieben. Die
Macht des im Mittelalter so gewaltigen "deutschen Schwerts" hätte sich in
die edlere und höhere Macht des modernen deutschen Geistes und Fleißes
umgestaltet - und dasselbe Volk, welches die antike Weltherrschaft Roms
stürzte, um deren Erbschaft als mittelalterliche Feudalmacht anzutreten,
hätte zuerst der Welt das Signal zum Sturze seiner eigenen, zum Sturze der
letzten Rassenherrschaft gegeben. - Das Schicksal wollte es anders. Das
letzte auserwählte Volk musste, wie das erste, sein Privilegium zu einer so
hervorragenden geschichtlichen Rolle erst durch tiefe Schmach abbüssen,
bevor es würdig sein konnte, in den modernen Menschheitsbund einzutreten,
der auf die Gleichberechtigung aller welthistorischen Völker gegründet ist.
Die äußern oder einzelnen Ursachen,
durch welche die deutsche Revolution scheiterte, sind bekannt. Karl V., der
den Traum eines universalen deutschrömischen Reichs zu einer Zeit
verwirklichen wollte, als das nationale Bewusstsein in den welthistorischen
Völkern wieder zu erwachen begann, dieser deutsche Kaiser war alles Andre
mehr, als ein Deutscher; er verließ eines Phantoms wegen die
politisch-soziale und die religiöse Reform, durch deren Unterstützung er
Deutschland zu einem modernen Einheitsstaate erheben, zugleich von
Zersplitterung und feudalem Unwesen befreien, sich selbst ein Volk und dem
Volke einen Kaiser geben, kurz, ein modernes Kaiserreich schaffen konnte zum
Heile aller nach nationaler Wiedergeburt seufzenden modernen Völker, und zum
Schrecken ihrer mittelalterlichen Kriegsherren. Aus seinem entgegen
gesetzten Verhalten erfolgte das umgekehrte Resultat. Der hohe Adel konnte
sich vom Kaiser unabhängig machen, indem er sich der religiösen
Bewegung anschloss, vom Volke, indem er die politisch-soziale
erdrückte. Gefördert wurde dieses antinationale Werk nicht nur durch die
verkehrte Politik des deutschen Kaisers, sondern auch durch die politische
Unfähigkeit des deutschen Reformators. Luther fand es in seiner
doktrinären Borniertheit weniger gefährlich, sich dem hohen Adel, als dem
Volke anzuschließen, und verriet zu guter Letzt die Bauern, wie noch heute
unsre deutschen Doktrinäre das Volk verraten, wenn es mit der demokratischen
Bewegung Ernst machen will. - Trotz alle dem würde die deutsche Revolution
gesiegt haben, wenn nicht die Städte, dieser Sitz des deutschen Bürgertums,
einer sozialen Klasse, welche doch das unmittelbarste Interesse am Sturze
der Feudalherrschaft hatte, zu engherzig und feige gewesen wären, die
hohe nationale Bedeutung des Bauernkrieges einzusehen und ihren eignen
Vorteil opfermutig zu erkämpfen. Statt dessen verrieten sie die Bauern an
den Adel. - Von ihren natürlichen Verbündeten in die Hände ihrer Feinde
geliefert, mit Schmähreden abgefertigt vom biderben deutschen Reformator,
verlassen von ihrem Kaiser, abgeschlachtet von ihren "angestammten"
Kriegsherren, mussten die deutschen Bauern ein Werk aufgeben, mit welchem
die Wiedergeburt Deutschlands im Keime erstickt wurde. - Schnell sank von
diesem Momente an das deutsche Reich von seiner Höhe herab. Luther sah es
ein und sprach es aus; an Einsicht hat es den deutschen Doktrinären nie
gefehlt.
Im dreißigjährigen Kriege mußte die
Elite des deutschen Volkes an sich selbst das Todesurteil vollstrecken,
welches sie sich durch ihren Abfall von der deutschen Revolution gesprochen
hatte. Sie konnte später wohl noch theoretisch erkennen, dass die
Weltgeschichte das Weltgericht sei, aber das Gericht an ihr selbst nicht
mehr aufhalten. Denn wie zur Zeit der englischen Revolution, welche unser
stolzes Nachbarvolk auf die Höhe der Kultur und Zivilisation erhob und den
Grund zu seiner heutigen Weltmacht legte, Deutschland in Blut und Kot
unterging, so hatte auch die große französische Revolution, welche allen
europäischen Völkern die Freiheit zu erringen lehrte, ihm nur die Schmach
der Fremdherrschaft und die noch größere einer Reaktion gebracht, welche
selbst in Folge der wiederholten Welterschütterungen von 1830 und 1848 nicht
aus dem Sattel gehoben werden konnte, den sie sich auf dem Rücken des
deutschen Volkes zurecht gelegt hatte. - Und wie zur Zeit der ersten
französischen Revolution die deutsche Literatur und Philosophie, damals in
ihrer höchsten Blüte stehend, es nicht vermocht hatten, den Schatten des
deutschen Reichs vor gänzlicher Zertrümmerung zu schützen, so vermögen auch
noch heute alle unsre Redner, Schreiber und Sänger nicht den politischen
Leichnam zu elektrisieren, dessen Seele im unglücklichen Bauernkriege
ausgehaucht worden. Populäre Geister und patriotische Charaktere regnen
nicht vom Himmel herab - sie wurzeln in der Tiefe des Volkes und seiner
Geschichte. Wo diese in ihrer Entwicklung gehemmt, wo jenes in seinem
großartigsten Aufschwunge erdrückt worden, da muss der politische Genius im
Volke erlöschen. Dahin ist es in Deutschland gekommen. Zur Zeit des
Bauernkrieges hätte das deutsche Volk Staatsmänner, welche modernen Geist
und Patriotismus in sich vereinigen, erzeugen und fortpflanzen können. Heute
fehlt ihm der gemeinsame Boden und der traditionelle Stoff zu denselben;
alle Erinnerungen an Deutschlands Größe gehören dem Mittelalter und den
Urwäldern an; sein ganzer heutiger Patriotismus ist reaktionär, und hat im
Volke keinen Boden. Ein modernes deutsches Volk existiert noch nicht, weil
noch keine moderne deutsche Bewegung durchgeführt werden konnte. - Ohne
Regeneration kein Volk, ohne Volk kein Patriotismus im modernen Sinne. Der
heutige deutsche Patriotismus, der sich in Schmähungen gegen alle deutschen
Grenznachbarn Luft macht, weil er nicht den Muth und das Talent hat, mit der
eignen Regeneration zu beginnen, ist ein bodenloser Schwindel. Deutschland
seufzt nicht unter dem Drucke einer Fremdherrschaft, die man erst
heraufbeschwören möchte, um Veranlassung zu einer Volkserhebung ohne die
innere Arbeit der eignen Regeneration zu finden: Deutschland kränkelt an
seiner gemordeten Revolution; es kann heute ohne Mithilfe der
fortgeschrittenen europäischen Völker keine Bewegung mehr machen, die es zur
Zeit seiner eigenen Reformation verpfuscht, zur Zeit der ersten
französischen Revolution bekämpft hat. Wenn die Deutschen zu stolz sind, mit
jenen Völkern Hand in Hand zu gehen, die sich von der
christlich-germanischen, mittelalterlich-feudalen Herrschaft befreit haben
oder befreien wollen, so müssen sie einer mittelalterlichen Reaktion dienen,
die sie nicht zur rechten Zeit zu überwinden wussten. - Die letzte
Veranlassung, welche uns zu einer Volkserhebung im nationalen Sinne geboten
war, hatte nur der Reaktion zum Siege verholfen, weil der Krieg gegen
Frankreich von vorn herein ein Kampf des reaktionären Europa's gegen die
französische Revolution war; und würde heute Deutschland wieder in einen
Krieg mit dem Auslande verwickelt, so wäre ein Sieg unsrer Kriegsheere um so
gewisser ein Sieg der Reaktion, als die Unabhängigkeitsbestrebungen diesmal
nicht auf unsrer Seite wären. - So tief sind wir gesunken - wir haben es
schon ein Mal in Österreich erlebt - dass wir das Unglück unsrer Kriegsheere
als ein Glück begrüßen müssen. "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht." -
Was wir im sechzehnten Jahrhundert verbrochen, haben wir noch heute zu
büssen. Wer vermag die Katastrophen vorher zu sehen, die uns noch
bevorstehen, weil unsre moderne Entwicklung im Keime erstickt worden ? -
Sicher wird jeder Völkerkampf, der heute nur noch um die nationale
Unabhängigkeit entbrennen kann, mit der Gleichberechtigung aller, auch
derjenigen Völker, die gegen dieselbe kämpfen, zum Abschluss kommen.
Aber durch welche Mittel dieses schließliche Ziel erreicht wird, welcher
friedfertige oder kampfbereite deutsche Patriot wagt es nur, daran zu
denken?
Die Zeiten der Rassenherrschaft sind
vorüber; auch das kleinste Volk, mag es zur germanischen oder romanischen,
zur slawischen oder finnischen, zur keltischen oder semitischen Rasse
gehören, sobald es seine Ansprüche und Rechte auf einen Platz unter den
kulturhistorischen Völkern geltend macht, darf auf die Sympathien der
allmächtigen westlichen Kulturvölker rechnen, welche heute im regenerierten
italienischen Volke einen treuen Bundesgenossen gewonnen haben. - Wie die
Patrioten aller andern unglücklichen Völker, können auch die die deutschen
Patrioten nur in einem aufrichtigen Freundschaftsbündnis mit diesen
fortgeschrittensten und mächtigsten Völkern der Erde das Ziel ihrer
Bestrebungen erreichen. Fahren sie dagegen fort, sich selbst und dem
deutschen Volke falsche Vorspiegelungen von der Macht und Herrlichkeit des
"deutschen Schwertes" vorzugaukeln, dann werden sie auf die alte, kaum mehr
zu tilgende Schuld noch eine neue häufen, der Reaktion in die Hände
arbeiten, und in deren Verderben ganz Deutschland mit hineinziehen.
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10-05-07 |