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Judentum und Israel
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Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage.

Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen.

Wien, 1893.

(Aus: Dr. Nathan Birnbaum (Mathias Acher): Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage, Band I., Czernowitz 1910.)

Wo bleibt der Held, wo bleibt der Weise,
Der Dich von Neuem, Volk, belebt,
Der Dich, ein Heiland, ins Geleise
Der Weltgeschichte wieder hebt?

Ludwig Wihl, "Westöstliche Schwalben"

Die Judenfrage.

Die zivilisierte Welt teilt sich hinsichtlich der Judenfrage in zwei große Lager: Hie Antisemiten, hie Philosemiten.(1) Ein drittes gibt es nicht. Die angeblichen Neutralen erweisen sich bei genauerer Betrachtung entweder als Dutzendmenschen, die Ruhe haben möchten und daher überhaupt ihre Gesinnungen nicht an die große Glocke hängen oder als Politiker, welche anderen, höher geschätzten Interessen zuliebe gewisse Gesinnungen verschweigen zu müssen glauben. Es gibt unaktive Anti- und Philosemiten, wie es aktive gibt.

Was den Antisemitismus betrifft, so kennt man allgemein seinen obersten Grundsatz, daß alle Juden verwerfliche Leute seien, gegen die irgend welche entschiedene Maßregeln — sei es Entrechtung oder Vertreibung — ergriffen werden müßten; man kennt auch die mehr oder weniger brüske Art seines Vorgehens. Darauf näher einzugehen, ist nicht Sache dieser Schrift, welche sich im allgemeinen nicht an die Antisemiten wendet, es sei denn an diejenigen guten Elemente unter ihnen, welche von einem anfänglichen bloßen Unbehagen an dem gegenwärtigen Stande der Judenfrage nur durch Parteileidenschaft und Parteizwang bis  zum  rücksichtslosen Antisemitismus geführt werden.

Und die Philosemiten? Die meisten von Ihnen hören sich nicht gerne so bezeichnen. Was sie veranlasse, sagen sie, gegen den Antisemitismus Stellung zu nehmen, sei einfach ihr verletztes Humanitätsgefühl. Nun ist es wohl unmöglich, eine solche Denk- und Fühlweise anders als edel zu nennen. Aber ist es deshalb schon ausgemacht, daß es nicht noch eine wesentlich andere Art, in Sachen der Judenfrage zu denken und zu fühlen, geben könnte, welche mindestens ebenso edel, dabei aber für die Juden viel ersprießlicher wäre? Man stelle sich doch nur eine von dem Dasein des Antisemitismus gänzlich unabhängige Judenfreundschaft vor, Freundschaft in der erhabenen Bedeutung dieses Wortes. Freundschaft, welche man nur dem Auserwählten des Herzens, dem Liebling, entgegenbringt, nicht blos Mitleid, das auch mit jedem dem Herzen Gleichgültigen empfunden wird! Liebe, welche da ist, ohne gerufen zu werden, nicht Erbarmen, das erst des Weckrufes bedarf.

Diese Möglichkeit ist jedoch leider nur in vereinzelten Fällen, wovon noch die Rede sein soll, zur Wirklichkeit geworden. Im allgemeinen ist der Philosemitismus eben das, was er ist, etwas von dem, was z. B. seinerzeit der Philhellenismus war, gänzlich Verschiedenes. Den Ursachen nachzuforschen, welche zu diesem Stande der Dinge geführt haben, scheint uns eine lohnende Mühe zu sein.

Die Juden haben ihre Elendjahre oder besser Elendjahrtausende nicht auf eigener Erde zugebracht. Über den ganzen Erdball zerstreut, nicht einem Volke ausgeliefert, sondern fast allen, büßten sie den Nimbus ein, welcher andere gedemütigte Nationen, die einst schönere Tage gesehen haben, umstrahlt. Der Jammer unglücklicher Völker, welche, unzersplittert, auf der Heimatsscholle geblieben sind, tönt dumpf aus der Ferne hinüber, die Blößen werden nicht gesehen, die kleinlichen Gebreste nicht wahrgenommen. Darum eilt man dem klagenden, gestürzten Riesen zu Hilfe, Anders bei den Juden! Unser Elend ist nicht anziehend, weil es alltäglich geworden ist, unser Unglück prangt an allen Straßenecken. Man singt ihm keine Freiheitslieder, sondern Gassenhauer; es hat den Schrill von Erhabenheit zur  Lächerlichkeit bereits gemacht — und zurück geht es schwer.

Daher wird uns, was man an anderen Völkern nicht genug loben kann — der unbeugsame nationale Sinn — als Sünde angerechnet. Als solche gilt er schon, wenn er in der Form unbewußten Gefühles auftritt, und wie erst, wenn er es wagt, als Bewußtsein zu erscheinen.   Was bei anderen Völkern heldenmütige Ausdauer heißt, wird  uns als häßliche Verstocktheit angerechnet, was man von anderen als rührende Anhänglichkeit an das eigene Volk preist,   nennt man mit Bezug auf uns engherzigen Separatismus. Andere gelten als Nation im Staate, wir sollen just "der Staat im Staate" sein. Anderen gibt man die Menschenrechte ohne Bezahlung, wir müssen unser Volkstum dafür opfern.

Es ist ein schiefer Gesichtswinkel, unter welchem die Judenfrage betrachtet wird. Daran sind außer dem bereits Angeführten noch zwei Momente schuld: Die Haltung der Juden selbst und das Auftreten des Antisemitismus.

"Was willst Du, damit Dir geholfen sei?" fragte das Mitleid den Juden. "Aus dem Ghetto will ich", lautete die Antwort. Da sprengte das Mitleid die Tore der Judengasse. Es war aber mitleidiger, als es sonst zu sein pflegt und fuhr zu fragen fort: "Was willst Du noch, armer Freigelassener?" Mag sein, daß das Mitleid die Antwort, so wie sie ausfiel, erwartete oder gar dem Gefragten in den Mund legte, weil es die Juden zu etwas Besserem nicht mehr für fähig halten mochte, das ändert nichts an dem Rechte, diese Antwort als verhängnisvoll anzusehen. "Aufgehen, Assimilieren, Eins werden, Amalgamieren!" schallte es enthusiastisch zurück. Von da ab beginnt die Kette von beiderseitigen Mißverständnissen und Irrungen, welche jetzt so stark geworden ist, daß sie die Gleichberechtigung zu erwürgen droht.

Der passendste Zeitpunkt ist versäumt worden, um vor die Völker hinzutreten und zu sagen: "Wollt Ihr uns befreien, so befreiet uns vollends. Helfet uns, uns wieder auf eigene Füße stellen. Ihr habt das klassische Volk der Schönheit, die Griechen, wieder aufgerichtet, richtet auch uns, das klassische Volk der Sittlichkeit, wieder auf. Unsere Taten sollen dann eure Tat belohnen. "Solche Worte, in jener für Ideale empfänglichen Zeit gesprochen, hätten die Judenfreunde zu begeisterter Bewunderung hingerissen, hätten für uns statt Mitleides Liebe geworben, hätten uns dort, wo die Antipathien wider uns mühselig unterdrückt wurden, geradezu die wärmsten Sympathieen gewonnen. Es hat nicht sollen sein, und es konnte damals nicht sein. Solche Worte konnten von den Lippen der Ghetto-Sprößlinge nicht kommen. Sie vermochten nichts Großes und Erhabenes mehr vom und im Judentum, welches sie in seiner tiefsten Erniedrigung mitertragen hatten, erwarten.

Was Wunder aber, wenn die Nichtjuden nicht jüdischer sein zu müssen glaubten, als die Juden selbst? Die Stimmen der wenigen christlichen Freunde einer nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes verhallten natürlich ungehört. Die europäischen Völker gewöhnten sich, die Assimilation als eine conditio sine qua non der Aufnahme der Juden in die bürgerliche Gesellschaft anzusehen. Was früher ein Nebending, das man sich rein aus Unterschätzung der jüdischen Kulturkraft zur Juden-Emanzipation hinzugedacht hatte, gewesen war, wurde jetzt immer mehr zur Hauptsache. Von den Juden darin bestärkt, gewöhnten sich die Christen in der gewöhnten Assimilations-Willfährigkeit das Ideal aller jüdischen Bürgertugend, die Summe alles von den Juden ihnen für die Emanzipation abzustattenden Dankes zu sehen.

Wie irrtümlich diese Ansicht war und ist, zeigt am besten der Umstand, daß der Antisemitismus gerade in jenen Ländern, wo die Assimilationsbestrebungen der Juden die stärksten waren und am freudigsten begrüßt wurden, den fettesten Nährboden fand. Denn Tatsache ist, daß durch diese Bestrebungen die Juden jedenfalls nicht besser geworden sind. Man spielt nicht ungestraft Jahre lange eine Rolle, für die man nicht geschaffen ist, man heuchelt — und wäre es auch Heuchelei in bester Absicht — nicht ungestraft ein ganzes Leben lang Gedanken und Empfindungen, die einem fremd sind, und verleugnet nicht so lange ungestraft oft die edelsten Gefühle und Anschauungen, nur, um sie nicht einer mißverstehenden Kritik aussetzen zu müssen. Alles das zehrt am Charakter, und ist daher nicht geeignet, zu bessern.

So kam es, daß der alte Judenhaß aus seinem Schlafe erwachte, immer mehr Unzufriedene und Enttäuschte warb, die bald in Kampfesstellung traten und fleißig nach dem Splitter im fremden Auge suchten, wobei ihnen allerdings das Malheur passierte, den Balken im eigenen zu übersehen. Doch das ist ja Menschenbrauch und Menschenschwäche.

Antisemitismus nannte sich der ungestüme neue Sittenrichter, dessen Strenge mehr und mehr in die alte judenfeindliche Brutalität und Unmenschlichkeit ausartete, wodurch naturgemäß wieder eine Reaktion hervorgerufen wurde. Juden sowohl als humane Christen, — von den letzteren auch solche, die nichts weniger als wohlwollende Gesinnungen den Juden entgegenbrachten, erschraken vor den Ausschreitungen der neuen Bewegung. Sie wurde aus Gründen der Wohlanständigkeit in Acht und Bann getan. Um sie einzudämmen, glaubte man alles widerlegen zu müssen, was sie vorzubringen weiß, auch das, was darunter wahr und für niemanden verletzend ist. Das war und ist das letzte Glied in der Kette der Irrungen.

Weil die Antisemiten eine jüdische Nationalität annehmen, leugnet man dieselbe und übersieht dabei, daß die von der antisemitischen Galle noch unbesudelte jüdische Nationalitätsidee den Schlüssel zur endgültigen Lösung der Judenfrage bietet.

Die jüdische Nationalitätsidee.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Abneigung gegen die Juden tief im Volke wurzelt. Im allgemeinen mag man die Juden nicht und die Judenfreunde täten im Interesse des jüdischen Stammes gut daran, sich darüber nicht hinwegzutäuschen. Weder vermögen die Ermahnungen edler Kämpfer für Recht und Menschlichkeit das Bürgertum, noch die Gleichheitslehre des internationalen Sozialismus die breiten Volksmassen vom Judenhasse abzubringen. Selbst die Intelligenz ist großenteils nicht im Stande, sich der Antipathien gegen die Juden zu erwehren. Trotz aller Befehdung in den verschiedenen Zeiten und Ländern erhält sich der Judenhaß und schläft nur zeitweilig ein, um wieder neu zu erwachen. Auf den letzten Grund dieser traurigen und unausrottbaren völkergeschichtlichen Erscheinung soll hier nicht eingegangen, das heißt, es soll das Wesen des Judenhasses an sich hier nicht untersucht werden. Um so notwendiger ist es jedoch, die Ursachen seiner zeitweiligen gewalttätigen Ausbrüche zu erkennen.

Eine lange Reihe von Erfahrungen steht diesbezüglich zu Gebote. Sie lehrt, was man so selten einsehen will, daß im Grunde genommen für die judenfeindlichen Eruptionen der verschiedenen Zeiten und Länder wesentlich ein und dieselben Ursachen vorhanden sind:

Auf der einen Seite das numerische Verhältnis der Juden zu ihren jeweiligen nichtjüdischen Staatsgenossen, wonach ihrer zwar zu viele sind, um nicht durch die größere Auffälligkeit die Volksinstinkte zu reizen, jedoch wieder zu wenige, um sich erfolgreich zur Wehre setzen zu können; auf der anderen Seite der Umstand, daß es auf der großen, weiten Welt keine Instanz gibt, welche die Juden in Schutz nimmt und ihre Menschen- und Volksrechte wahrt. Staatsrechtliche Gleichstellung, das heißt eine solche mit örtlich und zeitlich begrenzter Wirkung, haben die Juden in manchen Ländern erlebt, aber nur eine völkerrechtliche Gleichstellung böte ihnen dauernde und allseitige Hilfe.

Mag auch der einzelne Jude ein Vaterland haben, das jüdische Volk hat keines, und das ist sein Unglück. Das jüdische Volk muß wieder sein eigenes Stück Erde unter den Füßen fühlen und aus dem Heimatsboden neue materielle und moralische Kräfte ziehen. Doch darf dies nicht so aufgefaßt werden, als ob verlangt würde, daß alle Juden ihre jetzigen Wohnstätten verlassen, um ihre erwählte Volksheimat zu bevölkern. So ist es nicht gemeint. Nicht darauf, daß alle Juden in einem Lande vereinigt werden, sondern daß für die Judenheit ein nationales Zentrum geschaffen werde, zielt die jüdische Nationa1itätsidee. Ein beträchtlicher Teil des Volkes, der sich naturgemäß zunächst meist aus den Ländern der stärksten Judenbedrückung rekrutieren wird, soll sich auf dem Boden niederlassen, welcher bestimmt ist, die Heimat Israels zu sein. Durch den Ackerbau wird er daselbst jene Liebe zur Scholle gewinnen, welche einem Volk ein Land erhält, und jene körperliche und sittliche Gesundung finden, welche das eigentliche Ziel aller jüdischen Bestrebungen sein muß. Die Vorteile einer solchen Eventualität auch für die außerhalb des nationalen Bodens verbleibenden Juden liegen auf der Hand. Vor allem würde dadurch erreicht, daß die jüdische Bevölkerung in den Ländern der europäischen Zivilisation durch zeitweilige Abflüsse an Zahl beständig unterhalb jenes Sättigungspunktes erhalten würde, über welchen hinaus erfahrungsgemäß die Juden nicht mehr gut vertragen werden. Das würde natürlich eben so sehr ein beträchtliches Nachlassen der antisemitischen Spannung, als eine Milderung des Daseinskampfes der jüdischen — und übrigens auch der nichtjüdischen — Volksmassen bedeuten.

Hiezu kämen die Rückwirkungen der nationalen Entwicklung in der jüdischen Volksheimat auf die Juden der übrigen Länder. Das Bewußtsein, einem lebenden Volke anzugehören, welches ein eigenes Heim, eine Stätte freudigen Schaffens für die Söhne zu Hause, eine Stätte der Zuflucht für die Söhne in der Feme, besitzt, wird auch die Juden der Diaspora veredeln und versittlichen, stärken und stählen. Der Fluch der Lächerlichkeil, der ihr Unglück doppelt schwer macht, wird von ihnen weichen; ihre ganze Stellung unter den Völkern wird, eine normale, eine gesunde werden. Der Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden, der trotz allen Assimilationen und Emanzipationen, trotz allein guten Willen von beiden Seiten noch immer — wozu es sich nicht eingestehen wollen ? — so viel Gedrücktes, Peinliches an sich hat, wird erst dann ungezwungen und unbefangen werden, der Judenhaß in seiner Eigenartigkeit jede Existenzberechtigung verlieren. Wenn dieser Haß sich aber anfangs doch noch sollte regen wollen, da tritt erst die völkerrechtliche Bedeutung eines nationalen Zentrums für die auswärtigen Söhne der Nation so recht zu Tage. Das kleinste politische Gemeinwesen hat Sitz und Stimme im Konzerte der Völker; es kann protestieren, wenn seine Bürger oder die Konnationalen seiner Bürger irgendwo in ihren Rechten gekränkt oder an ihrem Leben bedroht werden, kann Genugtuung für jede solche Unbilde verlangen. Ein Volk ohne völkerrechtliche Geltung ist vogelfrei. Je rascher und gründlicher die zivilisierte Welt diese Vogelfreiheit bezüglich der Juden aufheben will, desto früher und radikaler wird sie von dem Judenhasse, welcher sich wie Mehltau auf ihre schönsten Blüten senkt, befreit werden.

Land, Land! — Darin liegt also das Geheimnis der Lösung der Judenfrage. Wo aber soll dieses Land, welches den zweitausendjährigen Wanderer aufnehmen soll, gesucht werden ? Man braucht es nicht erst zu suchen, jedermann kennt es; es gibt kein zweites, das in Betracht gezogen werden könnte. Und so hat sich denn auch in Wirklichkeit die national-jüdische Partei, welche sich deshalb auch die zionistische nennt, für dieses Land, für Palästina entschieden.

Spricht schon der Umstand dafür, daß dieses Land mit den Volkstraditionen und Volkshoffnungen auf das innigste verwoben ist, so daß eine jüdisch - nationale Bewegung nur dann Aussicht hat, die ganze Judenheit mit elementarer Gewalt zu erfassen und zu begeistern, wenn sie "Zion" auf ihre Fahne schreibt - so gibt es auch noch viele andere Gründe, welche Palästina empfehlen, ja als das einzig und allein für die Errichtung eines neuen jüdischen Gemeinwesens geeignete Land erscheinen lassen.

Zunächst bietet dasselbe die relativ größten Garantien gegen den Abfall vom Ackerbau, gegen die Rezidive. Der für Leib und Seele gleich beschwerliche Übergang von städtischer zu ländlicher Arbeit ist nur dann zu ermöglichen, wenn einerseits allzureichliche Gelegenheit zur Rückkehr in die alten gewohnten Berufe fehlt und andererseits ein kräftiges moralisches Agens vorhanden ist, welches der Entmutigung entgegenarbeitet, die Tatkraft vervielfacht, die Ausdauer in's Unglaubliche steigert. Diese beiden Voraussetzungen treffen bezüglich Palästinas ein. Trotz seiner im Interesse der Kultur so erfreulichen unmittelbaren Nähe zu Europa werden doch die Sirenenklänge ihrer europäischen Berufe zu den Ohren der Kolonisten in dieses ernstheilige Land nicht dringen.   Die Geister des geschichtlichen Bodens, auf dem sie stehen, werden, bemerkt oder unbemerkt, den Pionnieren jüdischer Zivilisation und jüdischer nationaler Selbstständigkeit zuraunen: "Haltet aus, verzaget nicht, per aspera ad astra!"

Noch ein anderer Grund ist für Palästina ausschlaggebend. Es liegt im semitischen Oriente. Dort, wo Israel heimisch ist, wo Land und Leute der jüdischen Eigenart entsprechen, kann diese erhalten bleiben und sich voll ausleben, nur dort kann das jüdische Volk seine große rassenversöhnende Aufgabe, von welcher noch weiter unten die Rede sein soll, übernehmen.

Fügt man noch hinzu, daß das heilige Land auch in Bezug auf die Nähe zu den jetzigen Wohnsitzen der hinzubringenden jüdischen Massen, auf Klima, Fruchtbarkeit und Bevölkerungsdichte zum Kolonisationsgebiete sich eignet, so hat man alle seine Vorzüge genannt.

Die Kritik.

Der Plan wäre entwickelt, nun kommt die Kritik zu Worte, dieselbe wird sich wohl in doppelter, durch die jüdischerseits bisher in aller Stille erhobenen Widersprüche angedeuteter Richtung bewegen. Undurchführbarkeit und Moralwidrigkeit werden dem Zionismus zur Last gelegt werden.

Bevor wir nun zu der eigentlichen Widerlegung solcher Behauptungen übergehen, müssen wir zwei Umstände anführen, welche zwar nicht beweismachend, aber doch wenigstens geeignet sind, der Zionsidee geneigtere Ohren zu gewinnen: Erstens, daß große Geister und edle Herzen unter Nichtjuden und Juden die nationale jüdische Idee begriffen und verkündeten; zweitens, daß schon jetzt sichtbare Erfolge der nationaljüdischen Bewegung vorhanden sind.

Doch wir wollen uns natürlich mit solchen Anführungen nicht begnügen, sondern gehen auf die Sache selbst ein.

Die Juden sind eine Nation, wenn sie auch nicht ihren vollen nationalen Besitzstand sich erhalten haben, — und damit ist die erste Voraussetzung eines Erfolges jüdisch nationaler Bestrebungen gegeben. Den meisten Nichtjuden, ob Judengegnern oder Judenfreunden, erscheint das Judentum auch als eine volkliche Verbindung und auch unter den Wohlwollenden würde sicherlich keiner anstehen, diese Meinung auszusprechen, wenn er nicht fürchten müßte, die Juden, welche durchaus nur mehr als Religionsgenossenschaft gelten wollen, zu verletzen. Anständige Naturen wollen eben den Ruf des Antisemitismus nicht riskieren und fügen sich daher aus bewußter oder unbewußter Gutmütigkeit in den seltsamen Wunsch der Juden. Diese haben es verstanden, der überwiegenden Mehrheit der Christen eine Ansicht zu suggerieren, welche diese im Grunde gar nicht hegen, und die vor einem ernst prüfenden Urteile nicht Stand halten kann. Die Empfindung der Völker, daß sie in einer bestimmten Gemeinschaft eine Nation vor sich haben, ist das beste Argument für die Nationsqualität derselben. Da nützen keine subtilen Beweise gegen die Rassenreinheit. Ob reine Rasse oder nicht, — eine eigentümliche unabstreifbare volkliche Vergangenheit, ein eigenartig gestimmtes Gemüt, ein eigenartiges Temperament, eine eigenartige Denkweise, welche sich auch dort finden, wo die jüdische Religion längst zu wirken aufgehört hat, lassen die Juden als eine Nation erscheinen. Und so wird es bleiben, denn die Juden sind im ganzen ein zähes Volk, das sich allen extremen Assimilationsgelüsten widersetzt; unsere "mosaische Konfession" der Jetztzeit ist im Grunde nichts anderes, als der unbewußte Drang des an sich selbst verzweifelnden Judentums, in irgend einer Gestalt fortzuleben. (2)

Freilich ist die nationale Kraft des gegenwärtigen Judentums eine gebundene, welche erst mit dem Augenblicke frei würde, in welchem es seine Geschichte fortzusetzen wieder beginnen könnte, d. h. dann, wenn es wieder zu seiner Sprache, deren Wiederbelebungsprozess übrigens schon begonnen hat, und zu seinem Lande kommt.

Das jüdische Volk besitzt die Kulturmacht, dieses Ziel zu erreichen, ein nationales Gemeinwesen zu bilden, zu erhalten und zur Blüte zu bringen. Seine hohen geistigen und sittlichen Anlagen werden ja blos von übelwollenden, gehässigen Neidern bestritten, und sein Staatssinn hat wohl in der europäischen Schule eine Kräftigung erhalten. Man schlage die Geschichte und Kulturgeschichte aller zivilisierten Nationen nach, überall wird man Großartiges leistenden Männern jüdischen Stammes begegnen. In Dichtung und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ragen sie hervor.

"Ihr seid Kraftnaturen" — sagt der Franzose Ernest Laharanne in seiner Broschüre "Die neue orientalische Frage" (Paris, Verlag von Dentu, 1840) — "und wir beugen uns vor euch. Ihr waret stark während euerer antiken Geschichte, stark nach der Zerstörung Jerusalems, stark im Mittelalter, als es nur zwei dunkle Mächte gab : Die Inquisition mit dem Kreuze, die Piraterie mit dem Halbmond. Ihr habt euch in der Zerstreuung erhalten, freilich nicht ohne den immensen Tribut von achtzehn Jahrhunderten der Verfolgung zu entrichten. Aber der Rest eurer Nation ist noch stark genug, um die Pforten Jerusalems wieder aufzurichten. Das ist eure Aufgabe".

Diese Aufgabe wird durchgeführt werden müssen, wenn auch der Weg zum Ziele, wie dies bei so schwierigen Werken natürlich ist, noch nicht in allen seinen Etappen genau in den zionistischen Plan eingezeichnet ist. Jedenfalls ist die bereits begonnene unoffizielle Kolonisation verfolgter Juden in Palästina nur der erste Schritt, der gemacht werden mußte, um vor allem die Durchführbarkeit der Sache in Bezug auf das jüdische Menschenmaterial und die Eignung des palästinensischen Bodens völlig außer Frage zu stellen. Darüber hinaus geht der Wert dieser Kolonisation nicht. Die Schwierigkeiten, welche die hohe Pforte jetzt dem Werke entgegengesetzt, obgleich oder richtiger, weil es in der anspruchlosesten, harmlosesten Gestalt aufzutreten sich Mühe gibt, weisen nachdrücklich auf die Gefahren hin, welche aus einer Fortsetzung der Ansiedlungstätigkeit bei vollständigem Mangel an völkerrechtlichen Garantien entspringen könnten. Der Bestand und die Fortentwicklung der Kolonien wäre diesfalls in jedem Augenblicke bedroht.

Noch ein Zweites spricht dagegen, daß man sich behufs Erreichung des zionistischen Zieles   einzig und allein auf den Fortgang der Kolonisation Palästinas verläßt: Die durch die Geschichte mehr als einmal erhärtete Tatsache, daß eine Bewegung, wie z. B. die jüdisch-nationale, von einigen auch noch so wohlmeinenden Reichen nie an's Ziel geführt werden kann. Vielmehr muß sie, um es zu erreichen, von der Begeisterung der Massen des eigenen Volkes und den Sympathien anderer Nationen getragen werden.

Wäre dies trotz aller Anstrengungen seitens der Zionisten am Ende doch nicht zu erreichen, dann freilich müßten die Ideale derselben als undurchführbar angesehen werden. Im entgegengesetzten Falle aber wäre nicht einzusehen, warum sie nicht realisierbar sein sollten, wenn es auch ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit geometrischer Genauigkeit die Linie des Siegeszuges der Zionsidee zu zeichnen. Das jüdische Volk auf der ganzen Erde begeistern, die Völker interessieren, das ist die Hauptsache, das ist die Garantie des Erfolges. Der Tagespolitik angehörend, Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden, die Unterstützung einflußreicher Freunde und Gönner genießend, wird der jüdisch-nationale Gedanke die Bahn finden, welche zu seiner Realisierung führt, werden die Hindernisse überwunden werden, welche jedem großen politischen Werke entgegenstehen und nur Memmen zurückschrecken.

Doch eine Sache soll nicht blos durchführbar, sie soll auch moralisch unanfechtbar sein. Und das ist der Zionismus, wiewohl ihn seine jüdischen Gegner zu verdächtigen trachten und mancherlei Anklagen gegen ihn schleudern.

Zunächst wird die jüdisch-nationale Bewegung als Sünde gegen die patriotischen und nationalen (3) Pflichten der Juden hingestellt. Diese Behauptung ist vollständig ungerechtfertigt. Gerade das Gegenteil ist wahr: Der Zionismus ist sowohl in seinem jetzigen Stadium der Bewegung als in dem zukünftigen des erreichten Zieles eine Bürgschaft für eine treue patriotische Gesinnung der Juden gegenüber den einzelnen Staaten, in welchen sie wohnen und für die innigste Anhänglichkeit an die einzelnen Völker, in deren Mitte sie leben.

Man möge sich gegenwärtig halten, was die jüdisch-nationale Bewegung anstrebt : Erklärtermaßen eine eigene Heimat für das jüdische Volk, in welcher ein Teil desselben wohnen und dem anderen Teile eine moralische, nötigenfalls auch  eine materielle Stütze bieten soll. Die Erreichung dieses Zieles bedeutet soviel, als die Herbeiführung einer neuen Aera, in welcher der Antisemitismus endlich ganz jede Daseinsberechtigung verloren haben, und die zivilisierte Welt von einer Bewegung verschont bleiben wird, die das Volksgefühl verroht und die Veredelung der Menschheit aufhält. Der Sieg des Zionismus ist gleichbedeutend mit dem Anbruch einer neuen  Zeit, in welcher die in der Zerstreuung verbleibenden Juden von jenem bitteren Gefühle des Unmutes frei, das durch den ewig ihnen zusetzenden Judenhaß mit Naturnotwendigkeit hervorgerufen wird und die Lauterkeit des Patriotismus und die Wärme der Hingebung für die einzelnen Volker beeinträchtigt, — sich  voll und ganz und ohne jeden Hintergedanken in den Dienst des Vaterlandes und der betreffenden Nation werden stellen können. Soweit die Zukunft.

Aber auch in der Gegenwart, im Stadium der Bewegung, bietet ein zionistisch denkendes Judentum in Bezug auf Loyalität die größten Bürgschaften. Durch den Drang nach sittlicher Hebung und durch das intensive nationale Empfinden wird der Sinn für Treue wohl verläßlicher und glaubwürdiger bekundet, als durch die Bereitwilligkeit, das eigene Volkstum aufzugeben und durch rein mechanische Nachäffung.

Oder sollte man davor fürchten zu müssen glauben, daß es den Nalionaljuden einfallen könnte, innerhalb der einzelnen Staaten besondere nationale Aspirationen zu erheben? Wie sollte das möglich sein? Wir Juden haben wohl überall Anspruch auf Menschenrechte und sind verpflichtet, überall diesen Anspruch geltend zu machen; nationale Rechte aber besitzen   wir dort nicht, wo wir nicht auf nationalem Boden stehen. Unsere nationale Eigenart zu betonen, um sie zu erhalten, ist unser Menschenrecht —nationale Opposition aber können wir billiger- und vernünftigerweise nie sein. Unser nationales Streben liegt außerhalb des Interessenbereiches der einzelnen Staaten und Völker.

Darum wiederholen wir: Wir Juden können und müssen als Zionisten, als nationale Juden ergebenere Söhne des Vaterlandes, treuere Brüder der Nation sein, denn in unserer erborgten Maske von jetzt. (4) Der Wunsch ist berechtigt, daß diese Erkenntnis allgemein durchdringe. Möchten doch endlich alle Nationen die Eitelkeit ablegen, um jeden Preis das belanglose Bekenntnis des Deutschtums, Slawentums u. s. w. von uns zu fordern; möchten sie uns doch als ihre Brüder jüdischer Nation in ihre Reihen aufnehmen. Dann werden sie, was Begeisterung und Opferfreudigkeit für Vaterland und Brudernation betrifft, unsererseits nicht den Schein, sondern das Sein haben.

Doch die jüdisch-nationalen Bestrebungen sollen kulturfeindlich, rückschrittlich sein. Auch diesen unbegründeten Vorwurf kann der Zionismus nicht auf sich sitzen lassen, weil ihm daran liegt, gerade die edelsten Männer aller Völker, die ja zumeist in den Reihen des Fortschrittes stehen, für seine Bestrebungen und Ziele zu gewinnen. Gerade diese aber, gerade die begabtesten und hervorragendsten Persönlichkeiten, welche sich sonst ihr eigenes Urteil zu bilden vermögen, befinden sich in dieser Frage — merkwürdig genug — im Schlepptau anderer. Sie sind zumeist von dem hohen Kulturwert der Assimilation und ihrer Ziele überzeugt. Dieser Kulturwert wird übrigens zweifach bestimmt.

Die einen — und zwar die meisten Judenfreunde und die radikalen jüdischen Assimilanten — sehen in der gänzlichen Beseitigung der jüdischen Nationalität, als dem Wesen und Endzweck der Assimilation, die Aufhebung einer Störung des menschheitlichen Fortschrittes. Ihnen ist Judentum, in welcher Gestalt immer, eine Ruine aus Altertum und Mittelalter. Die andern, die gemässigten Assimilanten, schreiben im Gegenteile, dem jüdischen Elemente noch eine grosse Mission unter den Völkern zu; nach ihrer Meinung hätte Israel die Aufgabe, den  Völkern sich anpassend, den Fortschritt und die Aufklärung, die Menschenliebe und die Sittlichkeit — die Theologen (5) setzen an Stelle aller dieser Momente: den Monotheismus —     zu verbreiten. Diese Gemäßigten,  welche sich gar so sehr gegen das Nationaljudentum sträuben, sind eigentlich die größten Chauvinisten unter den Juden. Zu glauben, daß  der jüdische Stamm in seiner gegenwärtigen moralischen Verfassung und materiellen Lage, stets unter dem abziehenden Schatten eines alten und dem vorausgeworfenen Schatten eines neuen Ghetto stehend, dazu berufen sei, die anderen Völker zu schulmeistern, ist eine lächerliche Überhebung. Diese ist genau so tadelnswert, als die voreilige Verzweiflung an der Lebensfrische des jüdischen Volkes seitens der radikalen Assimilanten.

Die Juden sind das elastischeste Volk der Erde. Stürme brausen über sie hinweg und drücken sie zu Boden — sie richten sich immer wieder auf, verjüngen sich, schaffen neue Genies und neue Gedanken. Das hat die Geschichte mehr als einmal bewiesen. Wohl ist der unmittelbare Effekt des Ghetto abschreckend und weil es aus dem Ghetto so recht eigentlich gar nicht herauskommt, so hat sich des jüdischen Volkes eine fortschreitende leibliche und sittliche Ermüdung bemächtigt. Aber man gebe seinen natürlichen Anlagen nur den weitesten und den ureigensten Spielraum, man fördere seine nationale Wiedergeburt, so wird man ob seiner ungebrochenen Kraft erstaunen. Dann wird der jüdische Stamm den vor zwei Jahrtausenden entzweigerissenen Faden seiner Kulturtätigkeit wieder aufnehmen und fortspinnen. Erst dann, von dem Alpdruck jahrhundertelanger Verfolgungen befreit, wird dieses Volk, welches der Welt die Bibel gegeben, welches die eine Hälfte der modernen Zivilisation geschaffen hat, wieder neues Epochales leisten.

Da wird ihm zunächst eine Kulturaufgabe zufallen, wie sie herrlicher nicht gedacht werden kann, und zu der ihm und nur ihm seine lange Wanderschaft die Befähigung verliehen hat. Orientalen vermöge ihrer ererbten Geistes- und Gemütseigenschaften, Okzidentalen durch eine achtzehnhundertjährige Erziehung, sind die Juden die einzig geeigneten Mittler für das große Werk, welches mit der Kultivierung der Völker Asiens und Afrikas beginnen und mit der Versöhnung der morgen- und abendländischen Rassen enden wird. Schön sagt Laharanne von diesem Berufe des jüdischen Volkes: "Wie wird der Orient erbeben am Tage eurer Ankunft. Wie schnell wird unter dem Gesetze der Arbeit die Entnervung der Rassen dort schwinden, wo Wollust, Müßiggang und Raub ihre tausendjährige Herrschaft hatten! Ihr werdet im Orient der moralische Weltpol sein. Ihr habt das Buch der Bücher geschrieben. Werdet die Erzieher der wilden arabischen Horden und der afrikanischen Völkerschaften."

Ebenso aber, wie zu diesem Werke der Versöhnung zweier gegensätzlicher Rassen ist Israel auch zu einer Hauptrolle in einem noch umfassenderen Versöhnungswerke berufen.

Von denjenigen, welche auf dem sogenannten kosmopolitischen Standpunkte stehen, werden die zionistischen als nationale Bestrebungen verdammt. Richtig ist wohl, daß die Nationaljuden keine Kosmopoliten in der Parteibedeutung dieses Wortes sind. Sie glauben eben in echtjüdischer Weise, daß der Menschheitsidee die lautere nationale Idee nicht gegenüberstehe, vielmehr daß die Nationalität das notwendige Medium sei, um etwas für die Gesamtmenschheit zu leisten. Sie sehen in der Nationalität die erweiterte Familie, welche die Freundschaft mit den Nichtverwandten nicht ausschließt; sie sehen in ihr die von der Natur und der Geschichte eingerichtete Abteilung zur Bewältigung eines Teiles menschheitlicher Kulturarbeit; sie erblicken in ihr die Liebe und nicht den Haß, die Ordnung und nicht die Trennung. Die Tatsachen widersprechen dieser Auffassung nicht. Sie zeigen nur, daß die meisten Völker für den nationalen Gedanken noch nicht reif sind, daß sie gerne in atavistische Irrtümer verfallen, welche mit der nationalen Idee selbst nichts zu schaffen haben, daß sie die Nationen, diese friedlichen Bezirke einer neuen sozialen Welt, noch mit dem aggressiven Geiste erfüllen, welcher den bisherigen Gruppierungen der europäischen Menschheit  innewohnte.

Darum machen auch die Zionisten, welche die reine, von allen Schlacken überwundener europäischer Epochen geläuterte nationale Idee auf ihre Fahne geschrieben haben,   den Anspruch darauf, gute und hingebungsvolle Vorkämpfer der geeinigten Menschheit zu sein.    Sie erheben diesen Anspruch um so lauter und nachdrücklicher, als die bisherigen geschichtlichen Leistungen der Juden einen auf dem Gebiete der Sitte ausnehmend schöpferischen Geist, als alle ihre Lebensäußerungen ein besonders weiches, für alles   Menschenelend empfindsames Herz verraten. Menschheitsglück — ist ein uraltes Ideal des jüdischen Volkes, welche es in neue, die alten ergänzenden Taten umsetzen wird, wenn es wieder einmal freie Gottesluft einatmet.

Doch angenommen, nicht die Zionisten hätten mit ihrer Auffassung von dem Verhältnisse   zwischen Menschheit und Nationalität Recht, sondern jene Auffassung sei die richtige, wonach die Nationen der Erde sich jeden individuellen Strebens zu Gunsten der Gesamtmenschheit zu begeben   hätten! Auch dann muß für die Juden ein Ausnahmestandpunkt gefordert werden. Die Bedrückung der Juden ist eine von dem Unglück der übrigen Menschheit gesonderte, neben ihm herlaufende Tatsache. Bis zur sozialen   Erlösung der Menschheit ist noch ein weiter Weg, welche Richtung man auch einschlägt. Die Geschichte kennt keine Umwälzungen ohne Reaktionen; ihre vornehmsten Sturmläufe sind doch nur Hindernisrennen. Die Judenheit müsste nun diese lange, bange Zeit des Überganges in einem ungleich traurigeren Zustande mitmachen, als alle anderen Völker, und das darf man billiger Weise von ihr nicht verlangen. Man lasse sie doch zuvor wenigstens jene Stufe des Wohlbefindens erreichen, welche schon der heutige Zustand der menschlichen Gesellschaft dem Nichtjuden gewährt.

Es ist bereits angedeutet worden, daß die Erlösung der Juden aus diesem ihrem speziell jüdischen Jammer nichts weniger als ein Schaden für die Sache der Schaffung besserer sozialer Zustände auf Erden sein würde. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Zionismus in der Theorie mit der internationalen Sozialdemokratie paktiert. Nimmer wird sich wohl eine jüdische Partei Bestrebungen anschließen, welche die Begriffe Vaterland, Religion, Familie, Ehe aufheben möchten, und nur aus dem Grunde entstanden, weil die Reinheit dieser Institutionen unter dem schmutzigen Tritte des Materialismus litt. Kaum werden auch solche An- und Absichten im jüdischen Lande die herrschenden werden. Der jüdische Geist wird wohl auf sozialem Gebiete seine eigenen Wege gehen. Im eigenen Heim wird die jüdische Nation wieder ihre gewaltigen sittlichen, d. i. sozialen Anlagen entfalten und kraft derselben die endliche soziale Erlösung des Menschengeschlechtes herbeiführen helfen. Der seiner Ketten ledige jüdische Genius wird den Weg zum allgemeinen Menschheitsglück verkürzen. "Ihr seid des zukünftigen Weltalters Triumphbogen," sagt der mehrzitierte Laharanne, "unter welchem der große Menschheitsbund vor den Zeugen der vergangenen und zukünftigen Geschichte verbrieft und versiegelt wird."

Doch nicht blos direkt durch die eminente soziale Befähigung der jüdischen. Rasse, sondern auch indirekt, wie dies sofort ausgeführt werden soll, wäre die Lösung der Judenfrage in jüdisch-nationalem Sinne gleichbedeutend mit einer Beschleunigung des sozialen Entwicklungsprozesses der Menschheit.

Man hört oft die Meinung, der Antisemitismus sei eine Vorfrucht des Sozialismus. Das Gegenteil ist wahr. Der Antisemitismus ist ja überhaupt keine Erscheinung der Jetztzeit an sich, keine bloße Etappe auf dem Wege vom Kapitalismus zum Kollektivismus, sondern wie dies eingangs ausgeführt wurde — eine uralte Sache im neuen Kleide. So lange nicht ein nationaler Mittelpunkt für die Juden geschaffen ist, wird die Abneigung gegen den jüdischen Stamm stets neue Erscheinungsformen zu finden wissen und in diesen die sozialen Instinkte der Massen irreführen. Greift der Zionismus nicht durch, so wird nach einem allfälligen, scheinbar völligen Siege der Gleichheitsidee die Judenfrage als ungelöstes Residuum, der Judenhaß als ein verhängnisvoller Keil im Fleische der neuen Gesellschaft zurückbleiben Für  eine ersprießliche gemeinsame Tätigkeit im Dienste der Gesamtmenschheit ist die Herstellung eines völkerrechtlichen Gleichgewichtes zwischen den Juden und den Völkern unbedingte Voraussetzung.

Man mag also die Sache nach welcher Seite immer betrachten, die von den Zionisten vorgeschlagene Art der Lösung der Judenfrage liegt im Interesse der ganzen zivilisierten Welt, im Interesse aller Nationen und Parteien.(6)

Darum erwarten wir Zionisten, daß unsere Darlegungen einen Widerhall in der zivilisierten Welt finden werden; darum richten wir sie als einen Appell an die Guten und Edlen aller Nationen:

Urteilen Sie über unsere Vorschläge nach reiflicher Prüfung! Verurteilen Sie nicht aus Entgegenkommen für jüdische Freunde, bei welchen Sie andere Ansichten voraussetzen. Alle diese werden freudig in unser Lager übergehen, wenn die entschuldbare Angst vor Ihrer Mißbilligung von ihnen genommen wird.

Helfen Sie uns bei dem großen Werke der nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes mit Rat und Tat.

Wir appellieren an Ihre Einsicht, welche die unmittelbaren und mittelbaren Vorteile der zionistischen Lösung der Judenfrage für die Völker erkennen muß; wir appellieren an Ihr Heil, das dem unglücklichsten Volke der Welt die von uns geforderte Genugtuung nicht versagen kann. Leihen Sie uns Ihre moralische Unterstützung und der Dank dieses so lange gemarterten Volkes, der Dank einer Welt ist Ihnen sicher.

Anmerkungen (Nummerierung von haGalil eingefügt):
(1) In Ermanglung einer anderen besseren Kollektiv-Bezeichnung ist hier der Ausdruck Philosemiten gewählt, um alle den Antisemitismus Mißbilligenden zu bezeichnen.
(2) "Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraumes", sagt Graetz, "hat also noch noch immer einen nationalen Charakter; sie ist keineswegs bloße Religions- oder Kirchengeschichte". (Geschichte der Juden, V. Band, Einleitung).
(3) Daß hier die nationalen Pflichten im Sinne der Assimilation, also deutsch-, französisch-, englisch-, russisch- u. s. w. nationale Pflichten gemeint sind, braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden.
(4) Schon Jeremias, welcher die erste Zerstörung Jerusalems mitgemacht hatte, ruft in einer und derselben Prophetenrede aus: "Fördert das Heil der Stadt, wohin ich euch habe fortführen lassen und betet für sie zu dem Herrn, den in ihrem Wohl ist euer Wohl enthalten" (Cap. 29 V. 7) und "Ich werde mich von euch finden lassen, spricht der Herr, und Zurückbringen eure Gefangenen und euch sammeln von allen Völkern und Orten, wohin ich euch verstossen, spricht der Herr, und werde euch zurückbringen an den Ort, von welchem ich euch habe fortführen lassen". (Cap. 29, V. 14.)
(5) Die gemäßigte Assimitation hängt so ziemlich mit dem sogenannten Reformjudentum zusammen, wiewohl zwei Dinge nicht zu übersehen sind: Erstens, daß auch die sogenannte  Neu-Orthodoxie in Westeuropa sich zuweilen als assimilatorisch gibt, was ihr umso leichter wird, als ihr ja die Betonung des religiösen Prinzipes die Hauptsache ist, und zweiten daß   das Nationaljudentum überhaupt keine jüdisch-religiöse Partei ist, sondern über diesen Parteien steht und sie alle zur Tat einen will.
Das Reformjudentum ist eigentlich auch keine religiöse Partei. Die Mehrzahl der jüdischen Freigeister will von dieser Fraktion, deren Geist der der halben Assimilalion und der Assimilation in Äußerlichkeiten ist, nichts wissen. Darum wird sie schon längst von den   konsequenten Assimilanten ignoriert, welche höchstens noch bei feierlichen Gelegenheiten die Zugehörigkeit zu ihr hervorkehren.
(6) Der beliebte Vorwurf, die Zionisten täten den Antisemiten einen Gefallen, ist kindisch. "Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe" und — wenn ein Hauseigentümer an fremden Türen bettelt und nur deshalb nicht nach Hause geht, weil sich sonst die anderen freuen würden, — so handelt er sicher nicht in seinem Interesse.

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hagalil.com 10-05-07

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