Autoemanzipation!
Mahnruf an seine
Stammesgenossen von einem russischen Juden.
Mit einem
Vorwort von Achad Haam
Jüdischer Verlag, Berlin 1920, dritte Auflage
Vorwort des Verfassers.
"Wenn ich
selbst mir nicht helfe, wer denn? und wenn nicht heute, wann denn?"
Hillel
Auf den Jammer blutiger
Gewalttätigkeiten ist ein Moment der Ruhe gefolgt und Hetzer wie Gehetzte
können eine Weile verschnaufen. Unterdessen werden die jüdischen Flüchtlinge
mit eben jenem Gelde, das zum Zwecke der Auswanderung gesammelt wurde —
"repatriiert!" Die Juden im Okzident aber haben den Hepp-Hepp-Ruf wieder
ertragen gelernt, wie ihre Väter in vergangenen Tagen. Der flammende
Ausbruch der Entrüstung über die erlittene Schmach hat sich in einen
Aschenregen verwandelt, der den glühenden Boden allgemach bedeckt. Schließt
nur die Augen und versteckt den Kopf wie der Strauß — ein dauernder
Friede ist Euch nicht beschieden, wenn Ihr den flüchtigen Moment der
Ruhe nicht benützt und radikalere Heilmittel ersinnet als jene Palliative
waren, mit denen an unserem unglücklichen Volke seit Jahrtausenden
herumgepfuscht wird.
September 1882.
Das uralte Problem der Judenfrage setzt
wie vor Zeiten so auch heute noch die Gemüter in Erregung. Ungelöst, wie die
Quadratur des Zirkels, bleibt es, ungleich dieser, immer noch die brennende
Frage des Tages. Der Grund hierfür liegt darin, daß jenes Problem kein bloß
theoretisches Interesse darbietet, sondern sich im wirklichen
Leben gleichsam von Tag zu Tag verjüngt und immer gebieterischer zur
Entscheidung hindrängt.
Nach unserer Auffassung besteht der
Kernpunkt des Problems in folgendem:
Die Juden bilden im Schöße der Völker,
unter denen sie leben, tatsächlich ein heterogenes Element, welches von
keiner Nation gut vertragen werden kann.
Die Aufgabe besteht nun darin,
ein Mittel zu finden, durch welches jenes exklusive Element dem
Völkerverbande derart angepaßt werde, daß der Judenfrage der Boden für immer
entzogen sei.
Wir können hierbei natürlich nicht an
die Herstellung einer absoluten Harmonie denken. Eine solche hat wohl auch
unter den übrigen Völkern niemals bestanden. Jener Messiastag, an welchem
die "Internationale" verschwinden und die Nationen in der Menschheit
aufgehen werden, liegt noch in unsichtbarer Ferne. Bis dahin müssen die
Wünsche und Ideale der Völker sich darauf beschränken, einen erträglichen
Modus vivendi zu schaffen.
Auf den ewigen Frieden wird man noch
lange warten müssen; bis dahin aber werden sich die Beziehungen der Nationen
zueinander durch ein bedingtes Einvernehmen leidlich gut regulieren lassen —
ein Einvernehmen, welches durch Völkerrecht, Verträge, besonders aber durch
eine gewisse Ebenbürtigkeit der Stellung und der gegenseitigen Ansprüche
sowie durch gegenseitige Achtung hergestellt wird.
In den Beziehungen der Völker zu den
Juden ist eine solche Ebenbürtigkeit der Stellung nicht zu erkennen.
Man vermißt hier die Grundlage jener gegenseitigen Achtung, welche durch
Völkerrecht oder Verträge reguliert und gesichert zu werden pflegt. Erst
wenn diese Grundlage hergestellt sein wird, wenn die Ebenbürtigkeit der
Juden mit den übrigen Nationen eine Tatsache geworden ist, kann das Problem
der Judenfrage als gelöst betrachtet werden.
Leider ist eine solche Ebenbürtigkeit,
die in einer längst vergessenen Vergangenheit als Realität existierte, erst
wieder in einer so entfernten Zukunft zu erwarten, daß unter den jetzigen
Verhältnissen das Einreihen des jüdischen Volkes in die Kategorie der andern
Völker illusorisch erscheint.
Es fehlen ihm hierzu die meisten jener
Attribute, welche notwendig zur Erkennung einer Nation dienen. Es fehlt ihm
jenes ureigene Leben, das ohne gemeinsame Sprache und Sitte, ohne räumliche
Zusammengehörigkeit nicht denkbar ist. Das jüdische Volk hat kein eigenes
Vaterland, wenn auch viele Mutterländer; es hat kein Zentrum, keinen
Schwerpunkt, keine eigene Regierung, keine Vertretung. Es ist überall
anwesend und nirgends zu Hause. Die Nationen haben es nie mit einer
jüdischen Nation, sondern immer nur mit Juden zu tun. Für eine
jüdische Nationalität fehlt es den Juden an einer gewissen, jeder anderen
Nation innewohnenden charakteristischen Volkstümlichkeit, welche durch das
Zusammenwohnen auf einem Staatsgebiete bedingt ist. Diese
Volkstümlichkeit konnte sich natürlicherweise in der Zerstreuung nicht
herausbilden. Vielmehr scheint bei den Juden jede Erinnerung an die einstige
gemeinsame Heimat vernichtet zu sein. Dank ihrer leichten
Anpassungsfähigkeit haben sie nur um so leichter sich die ihnen angeborenen
Eigentümlichkeiten derjenigen Völker angeeignet, unter die das
Schicksal sie geworfen. Nicht selten haben sie sogar, ihren Schutzgebern
zuliebe, sich ihrer traditionellen Originalität gänzlich entäußert.
Sie haben sich gewisse kosmopolitische Tendenzen angeeignet oder eingeredet,
welche ebensowenig andern zusagen, als ihnen selbst genügen konnten.
Indem sie sich mit anderen Völkern zu
amalgamieren suchten, haben sie sich gewissermaßen mutwillig ihrer eigenen
Nationalität begeben. Nirgends aber haben sie es durchgesetzt, daß sie von
ihren Mitbürgern als ebenbürtige Eingeborene anerkannt worden wären.
Was jedoch die Juden am meisten von der
Erstrebung einer eigenen nationalen Existenz zurückhält, ist der Umstand,
daß sie nach einer solchen Existenz kein Bedürfnis fühlen. Ja sie fühlen
nicht nur kein Bedürfnis danach, sondern leugnen sogar die Berechtigung
eines solchen Bedürfnisses.
Beim Kranken ist das fehlende Bedürfnis
nach Speise und Trank ein sehr bedenkliches Symptom. Nicht immer gelingt es,
ihn von seiner verhängnisvollen Anorexie zu befreien. Und glückt es selbst,
diese zu heben, so ist es noch fraglich, ob der Kranke imstande sein wird,
die bereits begehrte Speise aufzunehmen.
Die Juden sind in der traurigen Lage
eines solchen Kranken. Auf diesen wichtigsten aller Punkte müssen wir mit
aller Entschiedenheit eingehen. Wir müssen den Beweis führen, daß das
Missgeschick der Juden vor allem in ihrem Mangel an Bedürfnis nach
nationaler Selbständigkeit begründet ist, daß dieses Bedürfnis aber
notwendig in ihnen geweckt und wachgehalten werden muß, wenn sie nicht einer
ewig schmachvollen Existenz preisgegeben sein wollen; mit einem Wort: daß
sie eine Nation werden müssen.
In dem unscheinbaren Umstande, daß die
Juden den Völkern nicht als selbständige Nation gelten, liegt zum Teil das
Geheimnis ihrer Ausnahmestellung und ihres endlosen Elends. Die bloße
Zugehörigkeit zu diesem Volke ist ein unauslöschliches Brandmal, abstoßend
für den Nichtjuden und peinlich für den Juden selbst. Und dennoch ist diese
Erscheinung in der Natur des Menschen tief begründet.
Unter den lebenden Nationen der Erde
stehen die Juden als eine schon seit langem abgestorbene Nation da. Mit dem
Verlust ihres Vaterlandes sind sie ihrer Selbständigkeit verlustig gegangen
und einer Zersetzung anheimgefallen, die sich mit dem Wesen eines
einheitlichen, lebendigen Organismus nicht verträgt. Der unter der Wucht der
Römerherrschaft erdrückte Staat verschwand vor den Augen der Völker. Aber
nachdem das jüdische Volk seine staatlich-leibliche Existenz, sein
politisches Dasein aufgegeben, konnte es dennoch der totalen Vernichtung
nicht anheimfallen, hörte es nicht auf, geistig als Nation
fortzubestehen. Die Welt erblickte in diesem Volke die unheimliche Gestalt
eines Toten, der unter den Lebenden wandelt. Diese geisterhafte Erscheinung
eines wandelnden Toten, eines Volkes ohne Einheit und Gliederung, ohne Land
und Band, das nicht mehr lebt und dennoch unter den Lebenden umhergeht;
diese sonderbare Gestalt, welche in der Geschichte ihresgleichen kaum
wiederfindet, die ohne Vorbild und ohne Abbild ist, konnte nicht verfehlen,
in der Einbildung der Völker auch einen eigentümlichen, fremdartigen
Eindruck hervorzubringen. Und wenn die Gespensterfurcht etwas Angeborenes
ist und eine gewisse Berechtigung findet im psychischen Leben der Menschheit
— was Wunder, daß sie sich auch angesichts dieser toten und dennoch lebenden
Nation in hohem Grade geltend machte?
Es hat sich eine Scheu vor dem
Judengespenst durch Geschlechter und Jahrhunderte vererbt und befestigt.
Diese Scheu führte zu einer Voreingenommenheit, welche ihrerseits, in
Verbindung mit noch andern, später zu erörternden Umständen, der
Judophobie Platz gemacht hat.
Im Verein mit allen anderen unbewußten
und abergläubischen Vorstellungen, Instinkten und Idiosynkrasien hat auch
die Judophobie bei allen Völkern der Erde, mit denen die Juden verkehrten,
das volle Bürgerrecht erworben. Die Judophobie ist eine Abart der
Dämonopathie, nur mit dem besonderen Unterschiede, daß das Judengespenst dem
ganzen Menschengeschlechte und nicht bloß einzelnen Völkerschaften zu eigen
geworden ist, und daß es nicht wie andere Gespenster wesenlos ist, sondern
aus Fleisch und Blut besteht und selber von den Wunden, welche ihm von der
scheuen, sich bedroht wähnenden Menge beigebracht werden, die qualvollsten
Schmerzen erduldet.
Die Judophobie ist eine Psychose. Als
Psychose ist sie hereditär, und als eine seit zweitausend Jahren vererbte
Krankheit ist sie unheilbar.
Die Gespensterfurcht ist es, welche als
Mutter der Judophobie jenen abstrakten, ich möchte sagen platonischen Haß
hervorgerufen hat, dank welchem die ganze jüdische Nation für die wirklichen
oder angeblichen Vergehen ihrer einzelnen Mitglieder verantwortlich gemacht
und so vielfältig verleumdet, so schmählich ins Gesicht geschlagen zu werden
pflegt.
Freund und Feind haben von jeher jenen
Judenhaß zu erklären oder zu rechtfertigen gesucht, indem sie gegen die
Juden allerlei Beschuldigungen erhoben. Sie hätten Jesum gekreuzigt,
Christenblut getrunken, Brunnen vergiftet, Wucher getrieben, den Bauer
exploitiert usw. Diese und tausend andere Beschuldigungen gegen ein ganzes
Volk erwiesen sich als grundlos und erscheinen schon deshalb als hinfällig,
weil sie massenhaft herbeigezogen werden mußten, um das böse Gewissen der
Judenverfolger zu beschwichtigen, um das Verdammungsurteil über die
ganze Nation zu rechtfertigen, um die Notwendigkeit zu beweisen, daß
der Jude (richtiger das Judengespenst) verbrannt werden müsse. Wer zuviel
beweisen will, beweist eben nichts. Und wenn den Juden auch mancherlei mit
gutem Rechte vorgeworfen wird, so sind es jedenfalls keine großen Laster,
keine todeswürdigen Verbrechen, um deretwillen der Stab über die ganze
Nation gebrochen werden müßte. In konkreten Fällen sehen wir vielmehr die
widersprechende Erscheinung, daß Juden im unmittelbaren Verkehre mit
Nichtjuden sich leidlich gut vertragen, daß sie häufig in durchaus
freundschaftlichem Verhältnis zu ihren nichtjüdischen Nachbarn stehen. Daher
kommt es auch, daß die vorgebrachten Beschuldigungen gewöhnlich ganz
allgemeiner Natur, meist aus der Luft gegriffen sind, gewissermaßen a priori
entstehen und höchstens in einzelnen Fällen zutreffen, nicht
aber an der ganzen Nation sich bewahrheiten.
So gehen Juden und Judenhaß seit
Jahrhunderten unzertrennlich vereint durch die Geschichte. Wie das Volk der
Juden, dieser ewige Ahasverus, so scheint auch der Judenhaß nie sterben zu
wollen. Man müßte mit Blindheit geschlagen sein, um zu behaupten, daß die
Juden nicht das auserwählte Volk des allgemeinen Hasses sind. Die Völker
mögen in ihren gegenseitigen Beziehungen, in ihren Instinkten und
Bestrebungen noch so auseinandergehen — in ihrem Widerwillen gegen die Juden
reichen sie sich die Hände, in diesem einzigen Punkte sind sie alle
miteinander einverstanden. In welchem Grade und unter welcher Gestalt sich
diese Abneigung kundgibt, hängt freilich von der Kulturstufe jedes einzelnen
Volkes ab. Im Wesen aber besteht sie überall und immer, gleichviel, ob sie
sich kundgibt in Form von Gewalttätigkeiten, in neidischer Scheelsucht oder
unter der Maske von Toleranz und Schutz.
Als Jude geplündert sein, oder als Jude
beschützt werden müssen, ist gleich beschämend, gleich peinlich für das
menschliche Gefühl der Juden.
Indem wir die Judophobie als eine dem
Menschengeschlechte eigentümliche, hereditäre Dämonopathie aufgefaßt und den
Judenhaß als auf einer vererbten Verirrung des menschlichen Geistes beruhend
darstellen, müssen wir die für uns wichtige Folgerung ziehen, daß man auf
die Bekämpfung dieser feindseligen Strebungen ebenso verzichten muß, wie auf
die Bekämpfung jeder anderen erblichen Disposition. Diese Einsicht ist um so
wichtiger, als es endlich angezeigt ist, von jeder Zeit und Kräfte raubenden
Polemik als von einer unproduktiven Klopffechterei Abstand zu nehmen. Denn
mit dem Aberglauben kämpfen selbst Götter vergebens. Voreingenommenheit oder
böser Instinkt vertragen sich mit keiner noch so scharfen und klaren
Beweisführung. Man muß entweder die materielle Kraft haben, diese finstern
Mächte, wie jede andere blinde Naturkraft, in Schranken zu halten, oder
ihnen einfach aus dem Wege gehen.
Im Seelenleben der Völker also finden
wir die Begründung der Voreingenommenheit gegen die jüdische Nation. Aber
auch noch andere, nicht weniger wichtige Momente, welche die Verschmelzung
oder die Gleichstellung der jüdischen Nation mit den anderen Nationen
unmöglich machen, müssen in Betracht gezogen werden.
Im allgemeinen besitzt kein Volk eine
Vorliebe für den Ausländer. Diese Tatsache hat ihre ethnologische Begründung
und kann keinem Volke zum Vorwurf gemacht werden.
Unterliegt nun der Jude diesem
allgemeinen Gesetze in gleichem Maße wie die übrigen Nationalitäten?
Keineswegs! Die Abneigung, die dem Ausländer im fremden Lande entgegentritt,
kann in dessen Heimat mit gleicher Münze vergolten werden.
Ohne Anstoß und offen verfolgt der
Nichtjude im Ausland seine eigenen Interessen. Man findet es überall
natürlich, ihn — allein oder im Verein mit Andern — für diese Interessen
kämpfen zu sehen. Der Ausländer braucht im fremden Lande kein Patriot zu
sein oder zu scheinen. Der Jude ist aber in seiner Heimat nicht
nur kein Einheimischer, er ist auch kein Ausländer, er ist recht eigentlich
ein Fremder, "kat' exoehen". Man sieht in ihm weder den Freund noch den
Feind, sondern einen Unbekannten, von welchem nur bekannt ist, daß er keine
Heimat besitzt. Dem Ausländer mag man nicht vertrauen; dem Juden —
nicht trauen. Der Ausländer beansprucht eine Gastfreundschaft, welche
er mit gleicher Münze bezahlen kann. Der Jude kann auf solche Weise nicht
quittieren; er darf daher keine Ansprüche machen auf Gastfreundschaft. Er
ist kein Gast — viel weniger ein willkommener Gast. Eher gleicht er dem
Bettler; und welcher Bettler ist willkommen? Eher ist er ein
Schutzbedürftiger. Und wo ist der Schutzbedürftige, dem Schutz nicht auch
verweigert werden könnte ? Die Juden sind Fremdlinge, welche keine Vertreter
haben können, weil sie kein Vaterland haben. Weil sie ein solches nicht
haben, weil ihre Heimat ohne Grenzen ist, hinter denen sie sich verschanzen
könnten — ist auch ihr Elend ohne Grenzen. Für die Juden als für wahre
Fremde ist das Gesetz nicht geschrieben. Dagegen existieren überall
Judengesetze. Und soll das allgemeine Gesetz auch für die Juden
gelten, so muß dieses durch ein besonderes Gesetz erst ausdrücklich
bestimmt werden. Sie müssen, wie die Neger, wie die Frauen, ungleich allen
freien Völkern, emanzipiert werden.
Um so schlimmer für sie, wenn sie,
ungleich den Negern, einer edlen Rasse angehören und, ungleich den Frauen,
nicht allein bedeutende Frauen, sondern auch Männer, ja sogar große Männer,
aufzuweisen haben.
Da der Jude nirgends zu Hause ist,
nirgends als Einheimischer betrachtet wird, so bleibt er überall ein
Fremdling. Daß er selbst, daß auch seine Vorfahren im Lande geboren sind,
ändert an diesem Tatbestand nicht das Geringste. In den allermeisten Fällen
wird er als Stiefkind, als Aschenbrödel behandelt, im günstigsten Falle gilt
er als Adoptivkind, dessen Rechte bestritten werden können: nie als
legitimes Kind des Vaterlandes. Der auf sein Germanentum stolze Deutsche,
der Slawe, der Kelte gibt nicht zu, daß der semitische Jude ihm ebenbürtig
sei. Und wenn er auch, als gebildeter Mensch, ihm alle bürgerlichen Rechte
einzuräumen bereit ist, so wird er es doch nie dahin bringen, in diesem
seinen Mitbürger den Juden zu vergessen. Die legale Emanzipation
der Juden ist der Kulminationspunkt der Leistungen unseres Jahrhunderts.
Aber diese legale Emanzipation ist nicht die gesellschaftliche,
und mit der Dekretierung der ersteren sind die Juden noch bei weitem nicht
von der Ausschließlichkeit ihrer gesellschaftlichen Stellung
emanzipiert.
Die Emanzipation der Juden findet
natürlich ihre Rechtfertigung darin, daß sie immer ein Postulat der Logik,
des Rechtes und des wohlverstandenen Interesses gewesen sein
wird. Niemals wird man sie als einen spontanen Ausdruck menschlichen Gefühls
ansehen können. Weit entfernt, ihre Entstehung dem spontanen Gefühle der
Völker zu verdanken, ist sie darum auch nirgends selbstverständlich,
und hat sie noch nirgends so tiefe Wurzel gefaßt, daß von ihr zu sprechen
nicht mehr nötig wäre. Immerhin, ob die Emanzipation aus eigenem Antriebe,
oder auf Grund bewußter Motive vorgenommen wurde, bleibt sie eine reiche
Gabe für das arme, erniedrigte Bettelvolk, dem man gern oder ungern das
splendide Almosen hinwirft; für das Bettelvolk, das man trotzdem nicht gerne
bei sich beherbergen mag. Denn man kann keine Sympathie, kein Zutrauen zu
einem vaterlandslosen, wandernden Bettler hegen. Der Jude darf nicht
vergessen, daß ihm das tägliche Brot des Bürgerrechtes gegeben werden
muß. Das Brandmal, das diesem Volk anhaftet, das ihm die so wenig
beneidenswerte Isolierung unter allen Nationen aufdrängt, wird durch keine
offizielle Gleichstellung weggewischt werden können, solange dieses Volk
seiner Natur gemäß unstete Landstreicher schaffen wird; solange die Juden
selbst in arischer Gesellschaft nicht gerne von ihrer semitischen Herkunft
sprechen, nicht gerne an diese erinnert werden mögen; solange man sie
verfolgen, dulden, beschützen, emanzipieren wird.
Zu jenem entwürdigenden
Abhängigkeitsverhältnis des ewig fremden Juden zum Nichtjuden kommt nun ein
wesentliches, praktisch wichtiges Moment hinzu, welches eine Verschmelzung
der Juden mit den Ureinwohnern vollends unmöglich macht.
Im großen Kampfe ums Dasein unterwerfen
die Kulturvölker sich gern den Gesetzen, welche diesen Kampf in eine
friedliche Konkurrenz, in einen edlen Wetteifer verwandeln helfen. Hier
machen die Völker gewöhnlich einen Unterschied zwischen dem In- und
Ausländer, wobei natürlicherweise dem ersteren immer der Vorzug gegeben
wird. Wenn nun dieser Unterschied schon in bezug auf den ebenbürtigen
Ausländer geltend gemacht wird, wie grell muß er nun dem ewig fremden Juden
gegenüber ausfallen! Mit welchem Unwillen muß der Bettler angesehen werden,
der es wagt, seine lüsternen Augen auf die ihm fremde Heimat zu werfen —
wie auf ein geliebtes Weib, das mißtrauische Verwandte beschützen ! Und hat
er trotzdem Erfolge, und gelingt es ihm, manche Blume von ihrem Kranze zu
pflücken, dann wehe dem Unglücklichen! Er beklage sich nicht, wenn es ihm
ergeht, wie es den Juden in Spanien und Rußland ergangen ist.
Damit es den Juden schlecht ergehe,
bedarf es übrigens ihrerseits nicht einmal besonderer Erfolge. Dort, wo sie
in größeren Massen angehäuft sind, müssen sie schon durch ihre Zahl
ein mehr oder weniger bedeutendes Uebergewicht in der Konkurrenz zu
ungunsten der nichtjüdischen Bevölkerung ausmachen. In den westlichen
Provinzen Rußlands sehen wir die dort zusammengepferchten Juden im
schauerlichsten Pauperismus ein kümmerliches Dasein fristen. Und
dennoch hört man nicht auf, sich über die Exploitation der Juden zu
beklagen.
Resümieren wir das Gesagte, so ist der
Jude für die Lebenden ein Toter, für die Eingeborenen ein Fremder, für die
Einheimischen ein Landstreicher, für die Besitzenden ein Bettler, für die
Armen ein Ausbeuter und Millionär, für die Patrioten ein Vaterlandsloser,
für alle Klassen ein verhaßter Konkurrent.
Auf diesem naturgemäßen Antagonismus
beruht die Unzahl der beiderseitigen Mißverständnisse und der
Beschuldigungen und Vorwürfe, welche beide Parteien im Recht oder Unrecht
einander entgegenschleudern. So appellieren die Juden, anstatt die eigene
Lage richtig zu erkennen und eine entsprechende rationelle ligne de
conduite festzustellen, an die ewige Gerechtigkeit und wähnen dadurch etwas
ausrichten zu können. Andererseits, statt einfach sich auf ihre natürliche
Uebermacht zu stützen und ihren historisch-tatsächlichen Standpunkt, den
Standpunkt des Stärkeren, festzuhalten, versuchen die Nichtjuden ihre
abweisende Stellung durch eine Masse von Beschuldigungen zu rechtfertigen,
welche bei näherer Prüfung sich als grundlos oder unwesentlich erweisen. Wer
aber unparteiisch sein will, wer die Dinge dieser Welt nicht nach den
Prinzipien eines utopistischen Arkadiens beurteilen und zurechtlegen,
sondern einfach konstatieren und erklären will, um daraus einen
praktisch-nützlichen Schluß zu ziehen, der wird für den geschilderten
Antagonismus keine von beiden Parteien ernstlich verantwortlich
machen. Den Juden aber, um die es uns hier zu tun ist, wird er sagen: Ihr
seid doch wahrlich ein törichtes und verächtliches Volk! Töricht seid
ihr, weil ihr unbeholfen dastehet und der menschlichen Natur etwas zumutet,
was ihr von jeher abging — die Humanität nämlich. Verächtlich
seid ihr, weil ihr keine wahre Eigenliebe und kein nationales
Selbstgefühl habt.
Nationales Selbstgefühl! Wo dieses
hernehmen? Das ist ja das große Unglück unseres Stammes, daß wir keine
Nation ausmachen, daß wir bloß Juden sind. Eine über den ganzen Erdboden
zerstreute Herde sind wir, ohne schützenden und sammelnden Schäfer. Unter
glänzenden Umständen bringen wir es zum Range der Ziegenböcke, wie sie in
Rußland den Rassepferden beigesellt werden. Und das ist das höchste Ziel
unseres Ehrgeizes!
Wahr ist, daß unsere lieben Schutzgeber
von jeher bieder dafür gesorgt haben, daß wir nie zu Atem kommen und unser
Selbstgefühl nicht zur Geltung gelange. Als vereinzelte Juden, aber nicht
als jüdische Nation, führen wir seit Jahrhunderten den harten und ungleichen
Kampf ums Dasein. In der Vereinzelung mußte jeder für sich seinen
Geist und seine Energie für ein Stück tränenbenetzten Brotes und etwas
sauerstoffhaltige Luft verzetteln. In diesem verzweifelten Kampfe unterlagen
wir nicht. Wir führten den ruhmvollsten aller Partisanenkriege mit allen
Völkern der Erde, welche uns einmütig vernichten wollten. Aber der Krieg,
den wir führten, und den wir noch Gott weiß wie lange führen werden, galt
nicht einem Vaterlande, sondern der kümmerlichen Erhaltung von Millionen —
"hausierender Juden!"
Wenn alle Völker der Erde nicht imstande
waren, unser Dasein zu vernichten, so vermochten sie nichtsdestoweniger, in
uns das Gefühl unserer nationalen Selbständigkeit zu ersticken. Und mit
fatalistischem Gleichmute sehen wir es an, wie man in manchem Lande uns eine
Anerkennung verweigert, welche auch den Zulus nicht leicht versagt werden
würde. In der Zerstreuung behaupteten wir unser individuelles Leben,
bewiesen wir unsere Widerstandsfähigkeit, verloren aber das gemeinsame Band
unseres nationalen Selbstbewußtseins. Indem wir unser materielles Dasein zu
erhalten suchten, waren wir nur zu oft gezwungen, unsere moralische Würde
außer acht zu lassen. Wir bemerkten nicht, daß wir durch diese unwürdige,
wenn auch aufgezwungene Taktik nur um so tiefer in den Augen unserer
Widersacher gesunken sind, nur um so mehr einer erniedrigenden Verachtung,
einer vogelfreien Existenz preisgegeben wurden, die schließlich uns zu einer
unheilvollen Erbschaft geworden. Auf der großen weiten Erde fand sich kein
Platz für uns. Damit wir nur irgendwie das müde Haupt zur Ruhe legen können,
baten wir bloß um ein kleines Plätzchen, und so verkleinerten wir allmählich
mit unseren Ansprüchen auch unsere Selbstwürde, die in fremden und eigenen
Augen bis zur Unkenntlichkeit verwischt wurde. Wir waren der Spielball, den
die Völker sich gegenseitig zuwarfen. Wir wurden ebenso gerne aufgefangen,
wie gestoßen. Man trieb mit uns das böse Spiel um so lieber, je nachgiebiger
und elastischer unser nationales Selbstbewußtsein sich in den Händen der
Spieler erwies.
Wie konnte unter solchen Umständen von
einer nationalen Selbstbestimmung, von einer freien aktiven Entwicklung
unserer nationalen Kraft oder von urwüchsiger Genialität die Rede
sein?
Beiläufig bemerkt, haben unsere Feinde
nicht ermangelt, aus diesem letzteren, an sich teilweise nicht unwahren,
aber im Grunde genommen höchst irrelevanten Charakterzug Münze zu schlagen,
um unsere Inferiorität zu beweisen. Man sollte meinen, daß in ihren Reihen
die genialen Männer wie Brombeeren an der Hecke wachsen. Die Armseligen! Dem
Adler, der einst zum Himmel emporstieg und die Gottheit erkannte, machen sie
den Vorwurf, daß er nicht hoch genug in den Lüften schwebt, wenn ihm die
Flügel abgeschnitten sind. Doch auch mit abgeschnittenen Flügeln sind wir
auf der Höhe der großen Kulturvölker geblieben. Gönnet uns einmal das Glück
einer Selbständigkeit, lasset uns über unser Schicksal allein verfügen,
gebet uns ein Stückchen Land, wie den Serben und Rumänen, gönnet uns erst
den Vorteil einer freien nationalen Existenz — dann waget es, ein
absprechendes Urteil über uns zu fällen, uns den Mangel an genialen Männern
vorzuwerfen! Für jetzt leben wir noch unter dem Druck der Uebel, die ihr uns
zufügt. Was uns fehlt, ist nicht die Genialität, sondern das Selbstgefühl
und das Bewußtsein der Menschenwürde, das ihr uns geraubt.
Wenn wir mißhandelt, beraubt,
geplündert, geschändet werden, dann wagen wir es nicht, uns zu verteidigen
und, was noch schlimmer ist, fast finden wir es so in der Ordnung. Schlägt
man uns ins Gesicht, so kühlen wir die brennende Wange mit kaltem Wasser,
und hat man uns eine blutige Wunde beigebracht, so legen wir einen Verband
an. Werden wir hinausgeworfen aus dem Hause, das wir uns selbst gebaut, so
flehen wir demütig um Gnade, und gelingt es uns nicht, das Herz unseres
Drängers zu erweichen, so ziehen wir weiter und suchen — ein anderes Exil.
Hören wir auf dem Wege einen müßigen Zuschauer uns zurufen: "Arme Teufel von
Juden, ihr seid doch recht zu bedauern", so sind wir aufs Tiefste gerührt,
und sagt man von einem Juden, er mache seinem Volke Ehre, so ist dieses Volk
töricht genug, darauf stolz zu sein. So weit sind wir gesunken, daß wir fast
übermütig werden vor Freude, wenn, wie im Okzident, ein geringer Bruchteil
unseres Volkes mit den Nichtjuden gleichgestellt wurde. Wer
gestellt werden muß, steht bekanntlich schwach auf den Füßen. Wird keine
Notiz genommen von unserer Abstammung, und werden wir wie die anderen
Landeskinder angesehen, so sind wir dankbar — bis zur absoluten
Selbstverleugnung. Für die uns gegönnte behagliche Stellung, für den
Fleischtopf, den wir ungestört benutzen dürfen, reden wir uns und den
anderen ein, daß wir gar keine Juden mehr sind, sondern Vollblutsöhne des
Vaterlandes. Eitler Wahn! Ihr möget euch als noch so treue Patrioten
bewähren, ihr werdet dennoch bei jeder Gelegenheit an eure semitische
Abstammung erinnert werden. Dieses verhängnisvolle "Memento mori" wird euch
aber nicht hindern, so lange von der gewährten Gastfreundschaft Gebrauch zu
machen, bis man euch eines schönen Morgens über die Grenze hinauswirft, bis
der verflixte Mob euch daran erinnert, daß ihr im Grunde doch nichts als
Landstreicher und Parasiten seid, für welche kein Gesetz geschrieben ist.
Aber auch eine humane Behandlung gelte
uns nicht als Beweis, daß wir gewünscht und nicht eher verwünscht
werden.
Welche klägliche Figur machen wir doch!
Wir zählen nicht als Nation in der Reihe der anderen Nationen und haben
keine Stimme im Rate der Völker, auch nicht in Dingen, die uns selbst
angehen. Unser Vaterland — die Fremde, unsere Einheit — die Zerstreuung,
unsere Solidarität — die allgemeine Anfeindung, unsere Waffe — die Demut,
unsere Wehrkraft — die Flucht, unsere Originalität — die Anpassung, unsere
Zukunft — der nächste Tag. Welche verächtliche Rolle für ein Volk, das einst
seine Makkabäer hatte!
Was Wunder, daß ein Volk, welches für
das liebe Leben sich mit Füßen treten ließ und diese Füße auch zu küssen
gelernt, der tiefsten Verachtung anheimfallen mußte.
Das Verhängnisvolle in unserer
Geschichte liegt darin, daß wir weder sterben noch leben können. Sterben
können wir nicht, ungeachtet der Schläge unserer Feinde, und wollen
wir nicht durch eigene Hand, durch Renegation und Selbstvernichtung. Aber
auch leben können wir nicht, dafür sorgen schon unsere Feinde. Als Nation
ein neues Leben beginnen, um zu leben wie die anderen Völker — auch das
wollen wir nicht, dank jenen übereifrigen Patrioten, welche es für nötig
erachten, ihrer übrigens ganz selbstverständlichen Bürgertreue die
Berechtigung zu jedem selbständig nationalen Leben zum Opfer zu bringen.
Solche patriotischen Fanatiker verleugnen ihr ureigenes Wesen zugunsten
jeder anderen beliebigen, höher oder niedriger stehenden Nationalität. Aber
sie betören niemand. Sie sehen nicht, wie gerne man sich für ihre jüdische
Kameradschaft bedankt.
So leben wir seit achtzehn Jahrhunderten
in Schmach — und. nicht ein einziger ernstlicher Versuch, sie abzuschütteln!
Wohl kennen wir die große
Leidensgeschichte .unseres Volkes, und wir sind wahrlich die letzten, die
unsere Vorfahren dafür verantwortlich machen wollten.
Die Sorge für die individuelle
Selbsterhaltung mußte jeden, nationalen Gedanken, jede gemeinschaftliche
Volksbewegung im Keime ersticken.
Wenn die nichtjüdischen Völker, dank
unserer Zerstreuung, in jedem einzelnen von uns das ganze jüdische Volk
treffen wollten, so waren wir zwar als Volk resistent genug, um nicht zu
unterliegen, aber auch nur zu ohnmächtig, um uns zu erheben und einen
aktiven Kampf auf eigene Faust fortzuführen. Unter dem Drucke aller uns
feindlichen Völker des Erdbodens sind wir im Laufe unseres langen Exils
jedes Selbstvertrauens, jeder Initiative verlustig gegangen.
Zudem hat der Messiasglaube, der Glaube
an die Einmischung einer höheren Macht zugunsten unserer politischen
Auferstehung, und die religiöse Annahme, daß wir eine über uns von Gott
verhängte Strafe geduldig ertragen müssen, uns jeder Sorge um unsere
nationale Befreiung, um unsere Einheit und Unabhängigkeit enthoben. Wir
verließen daher faktisch jeden Vaterlandsgedanken und taten dies um so
williger, je mehr wir für unser materielles Fortkommen zu sorgen hatten. So
sanken wir immer tiefer und tiefer. Die Vaterlandslosen wurden
vaterlandsvergessen. Ist es nicht endlich an der Zeit, einzusehen, wie
schimpflich dies für uns ist ?
Glücklicherweise stehen aber gegenwärtig
die Dinge etwas anders. Die Ergebnisse der letzten Jahre im gebildeten
Deutschland, in Rumänien, in Ungarn, besonders aber in Rußland, haben das
hervorgebracht, was die viel blutigeren Verfolgungen im Mittelalter nicht zu
bewirken vermochten. Das Volksbewußtsein, welches damals nur im latenten
Zustande eines sterilen Märtyrertums sich befunden, entlud sich unter
unseren Augen in der Masse der russischen und rumänischen Juden in der Form
eines unwiderstehlichen Dranges nach Palästina. So verfehlt auch dieser
Drang in seinen Resultaten sich erwiesen, so zeugt er doch für den richtigen
Instinkt des Volkes, dem es klar geworden, daß es einer Heimat bedarf. Die
harten Prüfungen, die es überstanden, haben jetzt eine Reaktion
hervorgerufen, die etwas anderes bedeutet, als die fatalistische Erduldung
einer von Gottes Hand verhängten Strafe. Auch an der dunklen Masse der
russischen Juden sind die Prinzipien der modernen Kultur nicht spurlos
vorübergegangen. Ohne auf das Judentum und auf ihren Glauben zu
verzichten, ist sie aufs Tiefste empört über eine unberechtigte Mißhandlung,
die nur darum ungestraft sich vollziehen konnte, weil eben die jüdische
Bevölkerung für die russische Regierung eine fremde ist. Und die
übrigen europäischen Regierungen — wie sollen sie sich um Bürger eines
Reiches kümmern, in dessen innere Angelegenheiten sich einzumischen niemand
ein Recht hat?
Heutzutage, seitdem unsere
Stammesgenossen auf einem kleinen Teile der Erde zu Atem gekommen und für
die Leiden ihrer Brüder teilnahmsfähiger geworden sind; heutzutage, seitdem
man eine Anzahl untergeordneter und erdrückter Nationalitäten ihre
Selbständigkeit wiedergewinnen ließ, dürfen auch wir nicht einen Augenblick
mehr die Hände im Schoß ruhen lassen, dürfen wir nicht zugeben, daß wir auch
in Zukunft dazu verdammt sein sollen, die aussichtslose Rolle des "ewigen
Juden" fortzuspielen.
Ja, aussichtslos ist diese Rolle zum
Verzweifeln.
Hat ein einzelner Mensch das Unglück, in
eine Lage zu geraten, wo er sich von der Gesellschaft verachtet und
verstoßen sieht, so nimmt es niemand Wunder, wenn er einen Selbstmord
begeht. Aber wo ist das Todeswerkzeug, welches allen auf der Erde
zerstreuten Gliedern des jüdischen Volksorganismus den Gnadenstoß erteilen
könnte? Und welche Hand würde sich dazu hergeben? Je weniger dies möglich
und wünschenswert ist, um so mehr lastet auf uns die Verpflichtung, die
ganze uns noch gebliebene moralische Kraft aufzubieten, um uns zu
retablieren, damit auch wir endlich im Kreise der lebenden Nationen eine
erträglichere und würdigere Stellung einnehmen.
Wenn aber der Standpunkt, von dem wir
ausgingen, ein richtiger ist, wenn die Voreingenommenheit des
Menschengeschlechts gegen uns auf angeborenen und unausrottbaren, in
anthropologischer und sozialer Hinsicht tief begründeten Prinzipien beruht,
so müssen wir auch den langsamen Fortschritt der Menschheit auf sich beruhen
lassen und einsehen lernen, daß, solange wir nicht wie die anderen Nationen
ein eigenes Heim haben, wir ein für allemal die edle Hoffnung aufgeben
müssen, mit den anderen gleichwertige Menschen zu werden. Wir müssen uns zu
der Einsicht bekehren, daß, ehe die große Humanitätsidee alle Völker der
Erde vereinigen wird, noch eine Reihe von Jahrtausenden vergehen kann, und
daß bis dahin ein Volk, welches überall und nirgends zu Hause ist, auch
überall als fremder Körper von den Volksorganismen empfunden werden wird. Es
ist dir Zeil gekommen für eine nüchterne und leidenschaftslose Erkenntnis
unserer wahren Lage. Mit unparteiischem Blicke, ohne vorgefaßte
Meinung müssen wir im Völkerspiegel die tragisch-possenhafte Figur unseres
Volkes herauserkennen, welche verzerrten Gesichts und mit verstümmelten
Gliedern die große Weltgeschichte mitmachen hilft, ohne mit der eigenen
kleinen Volksgeschichte auch nur leidlich fertig zu werden. Wir müssen uns
ein für allemal mit der Idee befreunden, daß die anderen Nationen vermöge
eines ihnen innewohnenden, naturgemäßen Antagonismus uns ewig
ausstoßen werden. Vor dieser Naturkraft, welche wie jede andere
Elementarkraft wirkt dürfen wir unsere Augen nicht verschließen; wir müssen
von ihr Notiz nehmen. Beklagen dürfen wir uns über dieselbe nicht.
Verpflichtet sind wir dagegen, uns selbst zusammenzunehmen, uns
aufzuraffen und darauf zu achten, dass wir nicht in Ewigkeit das
Aschenbrödel, der Amboß der Völker verbleiben.
So wenig wir das Recht haben, alle
anderen Völker für unser nationales Unglück verantwortlich zu machen,
ebensowenig sind wir berechtigt, unser nationales Glück einzig und allein in
ihre Hände zu legen. Auf dem unabsehbar langen Wege zum vollkommenen
praktischen Humanismus, wenn es überhaupt je zu einem solchen kommen soll,
befindet sich das Menschengeschlecht und wir mit ihm kaum auf der ersten
Etappe. Darum müssen wir von der Wahnvorstellung ablassen, daß wir mit
unserer Zerstreuung eine providentielle Mission erfüllen — eine Mission, an
welche keiner glaubt, ein Ehrenamt, das wir, aufrichtig gesprochen, gern
aufgeben möchten, wenn nur damit zugleich auch der Schimpfname "Jude" aus
der Welt geschafft werden könnte.
Nicht in illusorischen
Selbsttäuschungen, sondern nur in der Wiederherstellung eines eigenen,
einheitlichen nationalen Bandes haben wir unsere Ehre, unser Heil zu suchen.
Bisher gelten wir in der Welt nicht als solide Firma, und wir genießen daher
auch keines rechten Kredits.
Wenn die nationalen Bestrebungen mancher
unter unseren Augen entstandenen Völker eine innere Berechtigung hatten,
kann es dann noch fraglich sein, ob auch den Juden diese Berechtigung
zukomme ? Mehr als jene greifen sie in das internationale Kulturleben ein;
mehr als jene haben sie sich um die Menschheit verdient gemacht, haben sie
eine Vergangenheit, eine Geschichte, eine gemeinsame unvermischte
Abstammung, eine unverwüstliche Lebenskraft, einen unerschütterlichen
Glauben und eine beispiellose Leidensgeschichte aufzuweisen; mehr als an
jeder anderen Nation haben an ihnen die Völker sich versündigt. Ist das noch
immer zu wenig, um sie vaterlandsfähig, vaterlandswürdig zu machen?
Das Streben der Juden nach einer
national-politischen Einheit und Selbständigkeit hat nicht allein eine
innere Berechtigung wie das jedes anderen unterdrückten Volkes, es müßte
auch Zustimmung finden bei den Völkern, denen wir, mit Recht oder Unrecht,
unbequem sind. Dieses Streben muß eine Tatsache werden, die sich der
internationalen Politik der Gegenwart unwiderstehlich aufdrängt and gewiß
auch eine Zukunft haben wird.
Wohl muß man gleich am Anfange auf ein
großes Geschrei gefaßt sein. Wohl werden die ersten Regungen dieses Strebens
von den meisten der mit Recht furchtsam und skeptisch gewordenen Juden als
unbewußte Zuckungen eines schwer darniederliegenden Organismus ausgegeben
werden; und gewiß wird die Durchführung und Verwirklichung solcher
Bestrebungen den größten Schwierigkeiten unterliegen, vielleicht nur nach
übermenschlichen Anstrengungen möglich werden. Man bedenke aber nur, daß
sich den Juden kein anderer Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage darbietet
und daß es feige wäre, einen solchen Weg nicht zu betreten, bloß weil er
lang, schwierig und gefährlich ist, weil er nur wenig sichere Chancen für
einen glücklichen Erfolg bietet. Wer nicht wagt, gewinnt nicht — und
wahrlich, was haben wir noch zu verlieren? Im schlimmsten Falle bleiben wir
auch fernerhin, was wir bislang waren, und was wir aus Feigheit nicht
aufhören wollen zu sein: die ewig verachteten Juden.
Wir haben in der letzten Zeit in Rußland
sehr bittere Erfahrungen gemacht. Dieses Land hat unserer zu viel und zu
wenig. Zu viel in den südwestlichen Provinzen, wo den Juden der Aufenthalt
gestattet, zu wenig in allen anderen, wo dieser ihnen verboten ist. Hätte
die Regierung und mit ihr die russische Nation die Einsicht, daß eine
gleichmäßige Verteilung der jüdischen Bevölkerung der Wohlfahrt des ganzes
Reiches nur zugute käme, und hätte sie auch dieser Einsicht gemäß gehandelt,
dann wäre es wahrscheinlich zu all den Verfolgungen nicht gekommen, die wir
erlebt haben. Leider aber kann und will man dort nicht zu dieser Einsicht
kommen. Das ist nicht unsere Schuld, und ebensowenig eine Folge des
niedrigen Kulturzustandes des russischen Volkes; sind wir ja gerade in einem
großen Teile der intelligent sein sollenden Presse den enragiertesten
Widersachern begegnet; es ist vielmehr einzig und allein die Folge jener
allgemeinen, in der Natur der menschlichen Dinge begründeten Ursachen, die
wir oben erörtert haben. Und da es nicht unsere Aufgabe sein soll, das
Menschengeschlecht zu verbessern, so müssen wir sehen, was wir selbst
unter den gegebenen Umständen zu tun haben.
Unter den gegebenen und nicht zu
ändernden Umständen waren wir, sind wir und werden wir zu allen Zeiten die
Parasiten sein, welche der herrschenden Bevölkerung zur Last fallen und es
ihr niemals recht machen werden. Das wird um so weniger der Fall sein, da
wir, wie es scheint, nur in einem minimalen Verhältnis uns mit den Nationen
vermischen können. Daher muß es unsere Pflicht sein, dafür zu sorgen,
daß der Überschuß, der ungelöste Rückstand, entfernt und anderwärts
untergebracht werde. Keinem andern kann es obliegen, dafür zu sorgen,
als uns selbst. Wenn man die Juden unter alle Nationen der Erde gleichmäßig
verteilen könnte, so würde es vielleicht keine Judenfrage mehr geben. Aber
dies ist nicht möglich. Es muß vielmehr zugegeben werden, daß man für eine
Masseneinwanderung der Juden sich selbst in den
vorgeschrittensten Staaten sehr bedanken wird.
Mit schwerem Herzen sprechen wir dies
aus; aber wir müssen die Wahrheit eingestehen. Und diese zu erkennen, tut
uns um so mehr not, als wir nur durch die rechte Einsicht imstande sein
werden, die rechten Mittel zur Besserung unserer Lage zu finden.
Auch wäre es sehr traurig, wenn wir die
praktischen Ergebnisse unserer Erfahrungen nicht benutzen wollten.
Diese Ergebnisse beruhen vor allem in
der sich immer mehr verbreitenden Erkenntnis, daß wir nirgends zu Hause
sind, und daß wir endlich doch irgendeine Heimat, wenn nicht ein
eigenes Vaterland haben müssen.
Ein weiteres Ergebnis unserer
Erfahrungen besteht darin, daß der klägliche Ausgang der Emigration aus
Rußland und Rumänien einzig und allein dem hochwichtigen Umstände
zuzuschreiben ist, daß wir unvorbereitet von ihr überrascht
wurden, daß für die Hauptsache nicht vorgesorgt worden — weder für ein Asyl,
noch für eine regelrechte Organisation der Auswanderung selbst. Bei diesem
Umzüge von Tausenden hat man eine Kleinigkeit vorzubereiten vergessen, die
kein Kleinbürger vergißt, wenn er umziehen will — eine neue passende
Wohnung.
Wenn wir nun um eine sichere Heimat
besorgt sind, um das ewige Wanderleben aufzugeben und unsere Nation in
eigenen und fremden Augen aufzurichten, so dürfen wir vor allem nicht davon
träumen, das alte Judäa wieder herzustellen. Wir dürfen nicht dort wieder
anknüpfen, wo einst unser Staatsleben gewaltsam abgebrochen und zertrümmert
worden ist. Unsere Aufgabe, wenn einmal gelöst sein soll, sei eine
bescheidene. Ohnehin ist sie schwierig genug. Nicht das "heilige"
Land soll jetzt das Ziel bitterer Bestrebungen werden, sondern das
"eigene". Wir brauchen nichts, als ein großes Stück Landes für unsere
armen Kinder, welches unser Eigentum bleiben soll, aus dem kein fremder Herr
uns verdrängen könnte. Dorthin wollen wir das Heiligste mitbringen, was wir
aus dem Schiffbruch unseres einstigen Vaterlandes gerettet: die
Gottesidee und die Bibel. Denn nur diese sind es, welche unser
altes Vaterland zum Heiligen Lande gemacht, nicht etwa Jerusalem oder der
Jordan. Möglicherweise könnte das heilige Land auch unser eigenes werden.
Dann um so besser, aber es muß vor Allem festgestellt werden — und
darauf kommt es nur an — welches Land uns überhaupt zugänglich und
gleichzeitig geeignet ist, den Juden aller Länder, welche ihre Heimat
verlassen müssen, eine sichere, unangefochtene, produktionsfähige
Zufluchtsstätte zu bieten.
Wir verkennen nicht, daß die Erreichung
dieses Zieles, welches die Lebensaufgabe unserer Nation ausmachen sollte,
den größten inneren und äußeren Schwierigkeiten begegnen wird. Schwieriger
aber als alles andere wird schon die erste notwendigste Bedingung hierfür zu
beschaffen sein: der nationale Entschluß. Denn leider, ein starres
Volk sind wir. Wie leicht könnte eine konservative Opposition, von der die
Geschichte unseres Volkes so vieles zu erzählen weiß, einen solchen
Entschluß im Keime ersticken. Wehe dann unserer ganzen Zukunft!
Welch ein Unterschied zwischen einst und
jetzt! Einmütig und in geschlossenen Reihen vollzogen wir einst einen
geordneten Auszug aus Aegypten, um einer schmachvollen Sklaverei zu entgehen
und ein Vaterland zu erobern. Jetzt wandern wir aus als Flüchtlinge und
Vertriebene, den Kazapenfußtritt auf dem Nacken, den Tod im Herzen, ohne
einen Moses als Führer, ohne Verheißung eines Landes, das wir durch eigene
Kraft zu besetzen bestimmt wären. Durch aller Herren Länder treibt man uns:
hier eskortiert man uns mit aller Höflichkeit weiter, damit wir keine Pest
verschleppen, dort werden wir im besten Falle irgendwo und irgendwie
untergebracht, um frei und unbehelligt — mit alten Kleidern zu handeln,
Zigaretten zu drehen, oder Stümper des Ackerbaues zu werden. Es war ein
Euphemismus, wenn wir von Emigration sprachen. Beschämt und ratlos standen
die Flüchtlinge an der Grenze und spähten mit ihren hohlen Augen nach Hilfe.
Einige wenige Baracken und einige tausende von Freibillets dienten quasi als
Antwort! — Dann noch einige Repatriationstransporte, noch tausend bittere
Enttäuschungen, und die Flut einer zu neuem Leben erwachten Volksbewegung
wird zur Ebbe. Ringsum wird's still, und unsere wohltätigen Brüder im Westen
begeben sich behaglich zur Ruhe. Der wogende See von gestern legt sich und
verwandelt sich in den alten Sumpf mit dem alten kriechenden Gezüchte.
So drehen wir uns ratlos im verzauberten
Kreise bereits seit Jahrtausenden und lassen das blinde Schicksal über uns
walten! Denn die tausendjährigen Leiden haben aus uns nur ein Volk von
"barmherzigen Brüdern" gemacht, aber keine rationellen Volksärzte
geschaffen. Wir folgen dem alten Schlendrian, indem wir immer nur zur
Palliative der Wohltätigkeit greifen. Aber wir wollen es nicht verstehen,
unser Siechtum an seiner Wurzel zu fassen, um es radikal zu heilen.
Intelligent und reich an Erfahrungen,
sind wir kurzsichtig und leichtsinnig wie Kinder, haben wir keine Zeit
gefunden, uns zu sammeln und uns zu fragen, ob denn dieses tolle Treiben,
oder besser dieses tolle Getriebensein nie ein Ende nehmen soll ?
Im Leben der Völker wie im Leben des
einzelnen, gibt es wichtige Momente, die nicht oft wiederkehren und die,
benutzt oder unbenutzt, einen, entscheidenden Einfluß auf die Zukunft, auf
das Wohl oder Wehe des Volkes wie des einzelnen ausüben. Wir
durchleben gegenwärtig einen solchen Moment. Das
Bewußtsein des Volkes ist erwacht. Die großen Ideen des 18. und
19. Jahrhunderts sind auch an unserem Volke nicht spurlos vorübergegangen.
Wir fühlen uns nicht allein als Juden; wir fühlen uns als Menschen. Als
Menschen wollen wir auch leben und eine Nation sein wie die anderen. Und
wenn wir das ernstlich wollen, dann müssen wir vor allem uns dem alten Joch
entwinden und uns männlich aufrichten. Dann müssen wir vorerst uns selbst
helfen wollen. Dann erst wird auch die fremde Hilfe nicht auf sich
warten lassen.
Aber die Zeit, die wir gegenwärtig
durchleben, ist nicht bloß aus Gründen unserer inneren Erfahrung,
nicht bloß infolge unseres neu erwachten Selbstbewußtseins zu endlichem
Handeln geeignet.
Die allgemeine Geschichte der
Gegenwart scheint dazu berufen, unsere Verbündete zu werden. Im Laufe von
einigen wenigen Dezennien sahen wir Nationen sich zu neuem Leben aufrichten,
die in einer früheren Zeit nicht gewagt hätten, an ein Wiederaufkommen zu
denken. Schon dämmert es im Dunkel der traditionellen Staatsweisheit.
Bereits neigen die Regierungen, allerdings erst dort, wo sie nicht anders
können, ihr Ohr der immer lauter werdenden Stimme des nationalen
Selbstbewußtseins. Freilich waren die Glücklichen, die ihre nationale
Selbständigkeit erlangten, keine Juden. Sie standen auf eigenem Boden und
redeten eine Sprache, und darin waren sie allerdings vor uns im Vorteil.
Aber wenn unsere Lage auch eine
schwierigere ist, so sind wir deshalb doch nur um so mehr verpflichtet, alle
uns zu Gebote stehenden Kräfte aufzubieten, um unserem nationalen Elend in
rühmlicher Weise ein Ende zu machen. Opferbereit und entschlossen müssen wir
ans Werk gehen, und Gott wird uns helfen. Opferbereit waren wir immer, und
auch an Entschlossenheit fehlte es uns nicht, um unsere Fahne fest-, wenn
auch nicht hochzuhalten. Aber im wogenden Ozean der Weltgeschichte
segelten wir ohne Kompaß, und einen solchen gilt es zu schaffen.
Weit, sehr weit entfernt ist der Hafen,
den wir mit der Seele suchen. Wir wissen zurzeit noch nicht einmal, wo er
sich befindet, ob im Osten oder im Westen. Dem tausendjährigen Wanderer
jedoch darf kein noch so weiter Weg zu lang sein.
Wie aber jenen Hafen finden, ohne eine
Expedition auslaufen zu lassen ? Sind wir einmal so glücklich, zu wissen,
was uns nottut, und haben wir erst einen Entschluß gefaßt, dann müssen wir
mit aller Vorsicht und Sorgfalt Schritt für Schritt vorwärtsgehen, ja nicht
voreilig sein und uns mit aller Kraft dagegen stemmen, daß wir nicht auf
Seitenwege abgelenkt werden. Wohl fehlt uns der geniale Moses als Führer —
solche Führerschaften gewährt das Geschick einem Volke nicht zu wiederholten
Malen. Aber die klare Erkenntnis dessen, was uns am meisten nottut, die
Erkenntnis der unabweisbaren Notwendigkeit einer eigenen Heimat würde eine
Anzahl tatkräftiger, ehrenfester und hochgestellter Volksfreunde unter uns
erwecken, die vereint die Führung ihres Volkes übernehmen und vielleicht
nicht minder, wie jener Einzige, uns von Schmach und Verfolgung zu erlösen
imstande wären.
Was sollen wir zunächst tun, wie den
Anfang machen?
Wir glauben, der Keim zu diesem Anfang
ist bereits gegeben: er findet sich in den bereits bestehenden Alliancen.
Ihnen steht es zu, sie sind berufen und verpflichtet, den Grundstein zu
legen zu jenem Leuchtturm, auf den unsere Augen gerichtet sein werden.
Freilich müßten diese Alliancen, wenn sie ihrer neuen großen Aufgabe
gewachsen sein sollen, von Grund aus metamorphosiert werden. Sie müssen
einen Nationalkongreß ausschreiben, dessen Zentrum sie selbst bilden
sollen. Lehnen sie diese Funktion jedoch ab und glauben sie über den Rahmen
ihrer bisherigen Tätigkeit nicht hinausgehen zu können, dann müssen sie zum
mindesten aus sich ein besonderes nationales Institut, sagen wir ein
Direktorium bilden, das jene uns fehlende Einheit zu vertreten hätte,
ohne welche ein Gedeihen unserer Bestrebungen nicht denkbar ist. Als
Vertreter unserer nationalen Interessen müßte dieses Institut aus den
Spitzen unseres Volkes zusammengesetzt werden und die Leitung unserer
allgemeinen nationalen Angelegenheiten mit Energie in die Hand nehmen.
Unsere größten und besten Kräfte — Männer der Finanz, der Wissenschaft und
der Praxis, Staatsmänner und Publizisten — müßten einmütig sich die Hände
reichen, um nach dem gemeinsamen Ziele zu steuern. Dieses würde
hauptsächlich und zunächst darin bestehen, dem Ueberschusse der in
den verschiedenen Ländern als Proletarier lebenden und den Eingeborenen zur
Last fallenden Juden eine sichere und unantastbare Zufluchtsstätte zu
schaffen.
Natürlich kann es uns durchaus nicht um
eine Gesamtauswanderung des Volkes zu tun sein. Die relativ geringe Anzahl
der Juden im Okzident, welche einen unbedeutenden Prozentsatz der
Bevölkerung ausmacht und vielleicht aus diesem Grunde besser gestellt ist,
ja bis zu einem gewissen Grade sich dort naturalisiert hat, mag auch
fernerhin verweilen, wo sie sich befindet. Auch dort, wo die Juden nicht
leicht toleriert werden, mögen die Wohlhabenden verbleiben. Aber es gibt,
wie wir bereits gesagt haben, einen gewissen Saturationspunkt, welchen die
Juden nicht überschreiten dürfen, wenn sie nicht den Gefahren der
Judenverfolgung ausgesetzt sein wollen, wie in Rußland, Rumänien, Marokko
usw. Dieser Ueberschuß ist es, der, sich und den anderen eine Last, das böse
Fatum des ganzen Volkes heraufbeschwört. Für dieses Plus eine
Zufluchtsstätte zu schaffen, ist jetzt höchste Zeit.
Mit der Gründung eines solchen
dauernden Asyls muß man sich beschäftigen, nicht mit zwecklosen Sammlungen
von Geldspenden für Pilger oder für Flüchtlinge, die in ihrer Bestürzung ein
ungastliches Heim verlassen, um in dem Abgrunde einer unbekannten Fremde
unterzugehen.
Die erste Aufgabe jenes von uns so sehr
vermißten und unbedingt ins Leben zu rufenden Nationalinstitutes müßte darin
bestehen, ein für untere Zwecke passendes, möglichst einheitliches und
zusammenhängendes Territorium ausfindig zu machen. In dieser
Beziehung werden sie wohl am besten jene beiden in entgegengesetzten
Weltgegenden liegenden Länder empfehlen, welche sich in der letzten Zeit den
Rang streitig gemacht haben und zwei entgegengesetzte Strömungen für die
Auswanderung der Juden schufen. Diese Spaltung war der Todeskeim für die
ganze Bewegung.
Ohne Plan, Ziel und Einheit,
wie die letzte Emigration gewesen, müßte man sie tatsächlich als
gänzlich mißlungen und im Sande verlaufen betrachten, wenn sie nicht zu
lehrreich wäre für unser zukünftiges Tun und Lassen. Bei dem totalen Mangel
an Voraussicht, verständiger Kalkulation und kluger Einigkeit war es
unmöglich, in diesem Chaos von umherirrenden, hungernden Flüchtlingen eine
irgendwie aussichtsvolle Bewegung nach einem bestimmt vorgesteckten Ziele zu
erkennen. Das war keine Emigration, sondern eine verhängnisvolle Flucht. Für
die armen Flüchtlinge waren die Jahre 1881—82 ein mit Verwundeten und
Leichen bedeckter Heerweg. Und selbst die Wenigen, welche so glücklich
waren, das Ziel ihrer Wünsche, den ersehnten Hafen, zu erreichen, fanden in
diesem nichts Besseres als auf dem gefahrvollen Wege. Ueberall, wo sie
hinkamen, war man bestrebt, sie sich vom Halse zu schaffen. Die Auswanderer
sahen sich bald vor der verzweifelten Alternative, entweder ohne Obdach,
ohne Hilfe und ohne Rat im fremden Lande umherzugehen, oder beschämt in die
ihnen nicht weniger fremde, lieblose Heimat zurückzuwandern. Diese
Auswanderung war für unser Volk nichts als ein neues Datum in seiner
Martyrologie. Aber dieses ziellose Umherirren im Labyrinth des Exils, an das
unser Volk von jeher gewöhnt ist, bringt es nicht um einen Schritt vorwärts,
es versinkt vielmehr immer tiefer in dem klebrigen Morast seines
Wanderweges. In der letzten Emigration ist kein Zeichen des Fortschritts zum
Bessern zu entdecken. Verfolgung, Flucht, Zerstreuung und neues Exil — ganz
wie in der guten alten Zeit. Die Ermüdung des Verfolgers gönnt uns jetzt
eine kleine Rast, wollen wir uns damit zufriedengeben? Oder wollen wir
vielmehr diese Rast dazu benutzen, um aus den erworbenen Erfahrungen die
gehörige Moral zu ziehen, damit wir neuen Schlägen, die nicht ausbleiben
können, entgehen?
Hoffentlich sind wir jetzt über jenen
Zustand hinaus, in welchem die Juden des Mittelalters kläglich vegetierten.
Die Söhne der modernen Kultur in unserem Volke halten ihre Selbstwürde nicht
weniger hoch, als unsere Dränger die ihrige. Aber nicht eher werden wir
diese Selbstwürde mit Erfolg wahren können, als bis wir uns gänzlich auf
eigene Füße gestellt haben. Ist erst ein Asyl für unser armes Volk — für die
Flüchtlinge, die unser historisch-prädestiniertes Geschick uns immer
schaffen wird — gefunden, dann werden wir gleichzeitig auch in der Achtung
der Völker steigen. Es wird gegen den jetzigen Zustand schon ein gewaltiger
Fortschritt sein, wenn wir wissen, wohin wir unsere Schritte zu richten
haben, falls wir zur Auswanderung gezwungen sind. Wir werden alsdann nicht
mehr wie in den letzten Jahren von so traurigen Eventualitäten überrascht
werden, wie sie leider gewiß noch mehr als einmal in Rußland sowohl als auch
in anderen Ländern sich zu wiederholen versprechen. Rüstig müssen wir an die
Arbeit gehen, um das große Werk der Selbstbefreiung zu vollenden. Wir
müssen zu allen Mitteln greifen, welche der menschliche Geist und die
menschliche Erfahrung geschaffen, damit das heilige Werk einer nationalen
Wiedergeburt nicht dem blinden Zufalle überlassen bleibe.
Das Terrain, das wir zu erstehen haben,
muß ein produktives sein und eine gute Lage und genügende Ausdehnung haben,
um eine Ansiedlung von einigen Millionen zu gestatten. Dieses Terrain muß
als Nationalgut unveräußerlich sein. Seine Auswahl ist natürlich von der
ersten und höchsten Wichtigkeit und darf dem zufälligen Gutdünken oder
gewissen vorgefaßten Sympathien Einzelner nicht überlassen werden, wie dies
leider in der letzten Zeit geschehen. Dieses Terrain muß einheitlich und
räumlich zusammenhängend sein. Denn es liegt in der Natur unserer Aufgabe,
daß wir als Gegengewicht gegen unsere Zerstreuung ein einziges Asyl
besitzen, da eine Anzahl von Asylen wiederum unserer alten
Zerstreuung gleichkommen würde. Darum mußte die Auswahl eines solchen
nationalen, allen Anforderungen entsprechenden permanenten Terrains mit
aller Vorsicht getroffen und einem einzigen nationalen Institute, einer von
unserem nationalen Direktorium gebildeten Kommission von Sachverständigen
anvertraut werden. Nur eine solche Oberinstanz wird nach gründlichen und
umfassenden Untersuchungen ein kompetentes Urteil abgeben und bestimmen
können, auf welchen der beiden Kontinente und auf welche
Territorien in denselben unsere endgültige Wahl zu fallen habe.
Dann erst und nicht früher soll das
Direktorium, in Gemeinschaft mit einem Konsortium von Kapitalisten als
Gründern einer später zu bildenden Aktiengesellschaft, einen Strich Landes
ankaufen, auf welchem mit der Zeit einige Millionen Juden sich ansiedeln
könnten. Dieser Landstrich könnte entweder in Nordamerika ein kleines
Territorium, oder in der asiatischen Türkei ein suzeränes, von der Pforte
und den anderen Mächten als neutral anerkanntes Paschalik bilden. Gewiß
würde es eine wichtige Aufgabe des Direktoriums sein, die Pforte und wohl
auch die anderen europäischen Kabinette diesem Plane geneigt zu machen.
Das angekaufte Terrain müßte unter
Kontrolle des Direktoriums durch Vermessung in kleine Parzellen geteilt
werden, die je nach örtlichen Umständen entweder zu landwirtschaftlichen
oder baulichen oder industriellen Zwecken bestimmt werden könnten. Jede
entsprechend arrondierte Parzelle (Ackerwirtschaft, Haus mit Garten,
Stadthaus, Fabrikanlage usw.) würde ein "Lot" bilden, das dem Bewerber je
nach seinem Wunsch zu übergeben wäre.
Nach erfolgter Vermessung und
Veröffentlichung detaillierter Karten und eingehender Beschreibungen des
Terrains wäre ein Teil der Lots an Juden gegen angemessene Bezahlung zu
einem im Verhältnis des Ankaufspreises genau fixierten, vielleicht um etwas
erhöhten Preise zu verkaufen. Der Erlös samt Gewinn würde teilweise der
Finanzgesellschaft gehören, zum Teil in eine vom Direktorium zu verwaltende
Unterstützungskasse für hilflose Emigranten fließen. Zur Gründung dieser
Kasse könnte das Direktorium auch eine Nationalsubskription eröffnen. Es ist
mit Bestimmtheit vorauszusehen, daß unsere Stammesgenossen allerwärts einen
derartigen Subskriptionsaufruf mit Freuden begrüßen würden, daß einem
derartigen heiligen Zwecke die reichsten Spenden zufließen würden.
In der jedem Käufer ausgelieferten, auf
Namen ausgestellten, vom Direktorium und der Gesellschaft unterschriebenen
Eigentumsurkunde würde genau die auf der Generalkarte befindliche Nummer des
Lots angegeben werden, so daß jeder klar ersehen könnte, wo sein
angekauftes, ihm allein gehörendes Stückchen Erde — Acker oder Bauplatz —
sich befindet.
Sicherlich würde so mancher Jude, der
vielleicht augenblicklich noch durch einen wenig beneidenswerten
Erwerbszweig an die alte Heimat gefesselt ist, mit Freuden die Gelegenheit
ergreifen, um für sich und seine Kinder durch eine solche Urkunde einen
Anker in der Not zu schaffen und jenen traurigen Erfahrungen aus dem Wege zu
gehen, an denen die jüngste Vergangenheit so reich ist.
Derjenige Teil des Territoriums, welcher
dem Direktorium auf Grund der erwähnten Nationalsubskription und des zu
erwartenden finanziellen Gewinnes zur unentgeltlichen Verteilung zufiele,
wäre an mittellose, aber arbeitsfähige Emigranten abzugeben, welche durch
örtliche Komitees zur Berücksichtigung empfohlen wären.
Wie die Spenden der Nationalsubskription
nicht mit einem Male, sondern etwa in jährlichen Raten einzulaufen hätten,
so müßte auch die Ansiedlung allmählich und in einer gewissen Ordnung vor
sich gehen.
Würde die Expertise ihr Gutachten
zugunsten Palästinas oder Syriens abgeben, so dürfte diese Entscheidung auf
der Voraussetzung beruhen, daß das Land durch Arbeit und Fleiß mit der Zeit
in ein recht produktives verwandelt werden könne. In diesem Falle würde dort
Grund und Boden in Zukunft im Preise steigen.
Wird aber das Urteil der Berufenen
zugunsten Nordamerikas ausfallen, so müssen wir uns beeilen. Wenn man
bedenkt, daß in den Vereinigten Staaten Nordamerikas in den letzten 38
Jahren die Bevölkerungszahl von 17 Millionen auf 50 Millionen gestiegen ist,
und daß der Zuwachs der Bevölkerung in den nächsten 40 Jahren wahrscheinlich
in demselben Verhältnise fortdauern wird, so sieht man wohl ein, daß
augenblickliches Handeln notwendig sei, wenn wir uns nicht für immer die
Möglichkeit verschließen wollen, in der neuen Welt ein sicheres Asyl für
unsere unglücklichen Brüder zu gründen.
Daß der Ankauf von Ländereien in Amerika
bei dem raschen Aufschwünge dieses Landes kein gewagtes Unternehmen,
sondern, vielmehr ein lohnendes Geschäft sein würde, muß jeder, der auch nur
ein wenig Urteil hat, auf den ersten Blick einsehen.
Ob jedoch dieser Akt unserer Selbsthilfe
ein mehr oder weniger gutes Geschäft werden wird oder nicht, kommt wenig in
Betracht gegenüber der hohen Bedeutung, die ein solches Unternehmen für die
Zukunft unseres unsteten Volkes haben müßte. Denn unsicher und prekär wird
unsere Zukunft in Ewigkeit bleiben, so lange in unserer Lage nicht ein
radikaler Umschwung eintritt. Nicht die bürgerliche Gleichstellung
der Juden in dem einen oder anderen Staate vermag diesen Umschwung
herbeizuführen, sondern einzig und allein die Autoemanzipation des
jüdischen Volkes als Nation, die Gründung eines eigenen jüdischen
Kolonistengemeinwesens, welches dereinst unsere ureigene, unveräußerliche
Heimat, unser Vaterland werden soll.
An Einwendungen gegen unsere
Ausführungen wird es freilich nicht fehlen. Man wird uns vorhalten, daß wir
die Rechnung ohne den Wirt machen. Welches Land wird uns die Erlaubnis dazu
hergeben, daß wir uns innerhalb seiner Grenzen als Nation konstituieren ?
Auf den ersten Blick könnte freilich von diesem skeptischen Standpunkt aus
unser Gebäude als ein Kartenhaus erscheinen, Kindern und Witzbolden zum
Ergötzen. Wir glauben aber, daß nur gedankenlose Kindheit sich ergötzen
könnte an dem Anblick von Schiffbrüchigen, die sich ein kleines Boot
anfertigen wollen, um von einen ungastlichen Lande fortzugehen. Ja wir gehen
sogar soweit, daß wir jenen ungastlichen Völkern selbst die sonderbare
Zumutung machen, bei unserem Rückzuge beizustehen. Unsere "Freunde" würden
mit demselben Vergnügen fortziehen sehen, mit welchem wir ihnen den Rücken
kehren.
Natürlich wird die Gründung eines
jüdischen Asyls ohne Unterstützung der Regierungen nicht zustande kommen
können. Um diese zu erlangen und den Bestand unseres Asyls für immer zu
sichern, werden die Schöpfer unserer nationalen Wiedergeburt mit
Beharrlichkeit und Umsicht vorgehen müssen. Was wir erstreben, ist im Grunde
weder neu, noch für irgend jemand gefährlich. Anstatt der vielen Asyle,
die wir von jeher zu suchen gewohnt sind, wollen wir ein einziges Asyl
haben, dessen Existenz aber auch politisch gesichert sein müßte.
"Jetzt oder nie!" sei unsere Losung.
Wehe unsern Nachkommen, wehe dem Andenken unserer jüdischen Zeitgenossen,
wenn wir diesen Moment verpassen!
Wir resümieren den Inhalt dieser Schrift
in folgenden Sätzen:
Die Juden sind keine lebende Nation; sie
sind überall Fremde, daher sind sie verachtet.
Die bürgerliche und politische
Gleichstellung der Juden genügt nicht, sie in der Achtung der Völker zu
heben.
Das rechte, das einzige Mittel wäre die
Schaffung einer jüdischen Nationalität, eines Volkes auf eigenem Grund und
Boden, die Autoemanzipation der Juden, ihre Gleichstellung als Nation unter
Nationen durch Erwerbung einer eigenen Heimat.
Man rede sich nicht ein, daß die
Humanität und die Aufklärung jemals radikale Heilmittel für das Siechtum
unseres Volkes sein werden.
Der Mangel an nationalem Selbstgefühl
und Selbstvertrauen, an politischer Initiative und an Einheit sind die
Feinde unserer nationalen Wiedergeburt.
Damit wir nicht gezwungen sind, von dem
einen Exil ins andere zu wandern, müssen wir eine umfangreiche produktive
Zufluchtsstätte haben, einen Sammelpunkt, der unser eigen ist.
Der gegenwärtige Moment ist dem
entwickelten Plane günstiger als jeder andere.
Die internationale Judenfrage muß eine
nationale Lösung erfahren. Freilich kann unsere nationale Wiedergeburt nur
sehr langsam vor sich gehen. Wir müssen den ersten Schritt tun.
Unsere Nachkommen müssen uns in gemessenem, nicht übereiltem Tempo
folgen.
Die nationale Wiedergeburt der Juden muß
durch einen Kongreß jüdischer Notabeln angebahnt werden.
Kein Opfer wäre zu groß, um das Ziel zu
erreichen, welches die allerwärts gefährdete Zukunft unseres Volkes
sicherstellen soll.
Die finanzielle Ausführung des
Unternehmens kann nach Lage der Sache keinen unüberwindlichen
Schwierigkeiten begegnen.
Helft Euch selbst, und Gott wird Euch
helfen!
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10-05-07 |