Eröffnungsrede auf dem XV. Kongress
(Basel, August 1927)
Von Chaim Weizmann
Raum und Zeit verknüpfen in bedeutsam
symbolischer Weise diese Zusammenkunft mit dem Beginn unserer Bewegung. Vor
drei vollen Jahrzehnten begann hier eine Epoche der jüdischen Geschichte,
hier setzte das jüdische Volk den Grenzstein der Galuth. Und der Name dieser
Stadt wurde für ewige Zeiten in diese neue Geschichte eingeführt durch zwei
Schöpfungen : den ersten Baseler Kongress und das Baseler Programm,
Begriffe, die eine so unzerstörbare Verbindung von Namen und Sinn darstellen
wie jener dritte, der sich ihnen viel später gesellte : die
Balfour-Deklaration.
Nun, da aus dieser Erklärung die Wirklichkeit des Erez Israel von heute
geworden ist, finden wir uns wieder an der Stätte zusammen, von der aus wir
uns vor drei Jahrzehnten unseren Weg in das neue Leben bahnten. Wir vereinen
uns im Schatten des Genius, der diesen Kongress geschaffen hat, im
Gedächtnis Theodor Herzls, von dem gerade hier kostbare Erinnerungen und
eine fast legendär gewordene Tradition so viel zu erzählen wissen. Nichts
auch scheint angemessener, als von solcher Stelle aus Rückschau und Umschau
zu halten. In der Zeitspanne einer Generation hat eine tiefe historische
Wandlung das Wesen und die Lage des jüdischen Volkes in seiner Gesamtheit
umgestaltet, eine Wandlung, die unmittelbar oder mittelbar durch die Arbeit
der Zionistischen Organisation bewirkt worden ist. Unsere Bewegung,
geschaffen von einer Minderheit im jüdischen Volke, die Erfahrung weder in
der Sphäre der Politik, noch im Bereiche moderner Kolonisation besass, sieht
jetzt nach drei Jahrzehnten auf zwei grundlegende Leistungen zurück : sie
schuf die Elemente eines jüdischen Gemeinwesens, und sie normalisierte die
Haltung der Welt zur Judenfrage.
Diese beiden Wirkungen sind nicht voneinander zu sondern, sie ergänzen und
verstärken einander: dass das jüdische Volk in Palästina seine natürliche
Schaffenskraft erwies, half den Aspekt der Judenfrage für die Welt völlig
wandeln ; und dass die Welt lernte, das jüdische Volk anders zu sehen, gab
uns immer mehr Ansporn zu schöpferischer Tat.
Wer immer unvoreingenommen das zionistische Werk in Palästina betrachtete,
konnte sich seiner Bedeutsamkeit nicht verschliessen. So haben zionistische
Idee und zionistisches Aufbauwerk in Erez Israel eine tiefe und
entscheidende Änderung in der Einstellung der Welt zur Judenfrage bewirkt.
Das jüdische Problem von heute ist nicht mehr dasselbe, was es vor einer
Generation war. Die gespenstischen Nebel um die Judenfrage sind zerstört.
Nicht länger betrachtet die Welt das jüdische Problem als ein peinliches
Rätsel, ohne Aussicht auf Lösung. Sie hat zu verstehen begonnen, dass für
dieses Problem eine natürliche Lösung gefunden werden kann und muss. Das
entscheidende Ereignis war der Wille, die Judenfrage in ihrem wahren Wesen
zu erkennen und aus dieser Wahrheit Konsequenzen zu ziehen. Dadurch ist das
Judentum zur Aktivität erwacht und zu politischem Handeln reif geworden. Die
nüchterne, vernünftige Überlegung vermochte zu zeigen, dass die Judenfrage
eine nationale Frage ist. Ein Volk, das gewaltsam von dem Boden seiner
Heimat getrennt wurde, das kein natürliches Zentrum hatte, musste sich zur
Selbsthilfe organisieren, um den Boden für seine Wurzeln wiederzugewinnen.
Dies ist, auf die schlichteste Formel gebracht, das Wesen der gewaltigen
Umwälzung, die die Stellung des jüdischen Volkes in der Welt durch den
Zionismus erfahren hat.
Wie die Welt schliesslich auf diese unsere Entschlossenheit reagiert hat,
wissen wir aus den Ereignissen der letzten zehn Jahre. Die äusseren Etappen
dieser Entwicklung sind die Balfour-Deklaration, der Beschluss von San Remo,
die Zustimmungen der grossen Regierungen der Welt, die Gesetzwerdung des
Mandates, das die Balfour-Deklaration in sich fasst. Die Balfour-Deklaration
hat zum Mandat geführt und von da zur Schaffung jener stabilen politischen
Bedingungen, die unentbehrliche Voraussetzung für unser Werk sind.
Die jüdische Welt hat mit Freude und Vertrauen die bedeutsame Tatsache
begrüsst, dass Grossbritannien mit der Übernahme des Palästina-Mandates
betraut wurde. Was wir seit jenem Moment in Palästina geschaffen haben, hat
bewirkt, dass das gegenseitige Verständnis ständig zunahm und dass engere
Beziehungen zwischen den Bestrebungen der Zionisten und den Problemen und
Schwierigkeiten hergestellt wurden, denen sich die Mandatarmacht gegenüber
sieht. Mit jedem Vorwärtsschreiten unserer Arbeit vertieft sich dieses
Verständnis. Und so festigt sich unsere politische Stellung nicht nur
gegenüber den unmittelbar mit uns ins Berührung kommenden Regierungsorganen,
sondern auch – was in einem so demokratischen Lande von grösster Bedeutung
ist - in der öffentlichen Meinung des englischen Volkes. Und auch in den
anderen Ländern haben wir wichtige Positionen in der öffentlichen Meinung
gewonnen.
Zwar hat uns das Palästina-Mandat politisch noch nicht alles gegeben, was
wir wünschen, nicht alles, was wir zu erwarten berechtigt sind, auch nicht
alles, was sein Inhalt wirklich umfasst. Aber es hat die Tore weit geöffnet
zu unbehinderter Tätigkeit, und es hat einen Zustand geschaffen, bei dem
unsere politische Position wachsen muss und wird, im Verhältnis zur
wachsenden Entwicklung unseres Gemeinwesens. Es hat uns im vollen Sinne zu
Herren uns eigenen Geschickes gemacht, politisch wie sozial: was wir säen,
werden wir ernten. Dies war das Ergebnis nach aussen von dreissig Jahren
zionistischer Arbeit. Vor allem aber bedeutete der Zionismus eine innerliche
Revolution des jüdischen Volkes selbst. Dem atomisierten haltlosen Volke war
plötzlich der Schlüssel zu seinem eigenen Schicksal in die Hände gegeben.
Der Lebenswillen des Volkes, zurückgedrängt und entmutigt durch
vielhundertjährige Knechtschaft, richtet sich auf in einer grossen neuen
Hoffnung. Das Bewusstsein, eine nationale Aufgabe zu haben, verlieh dem
Volke die beinahe verloren gegangene Würde wieder. Was durch Jahrhunderte
geschlummert hatte, brach wie aus unterirdischen Schleusen mit der
elementaren Macht eines reissenden Stromes hervor. Der Zionismus war die
innerliche Befreiung des Judentums vor seiner äusseren Freiwerdung. Der Sinn
unseres Lebens und Leidens war wieder offenbar geworden. ber nicht allein
die neu gewonnene, erleuchtende Erkenntnis vom Wesen der Judenfrage, nicht
der Wille, unser Geschick als Volk wieder selbst in die Hand zu nehmen,
nicht dies bloss hat die grosse Wandlung bewirkt, sondern die Arbeit, die
hingebungsvolle und bescheidene Arbeit im Dienste dieses Ideals selbst war
es, die uns zu anderen Menschen gemacht hat. Der Zionismus war nicht dazu
bestimmt, uns persönlich das Leben leichter oder annehmlicher zu machen.
Wenn es je eine Aufgabe gegeben hat, vor die die Gottheit Schweiss und Blut
gestellt hat, so ist es die unsere. Wir wussten, dass es für unsere
Generation kein Rasten und kein Ruhen geben kann; denn der Weg, den wir
beschriften hatten, war weit und dornenvoll. Aber wir alle, die
Repräsentanten des jüdischen Volkes, die in dieser Stadt vor dreissig Jahren
sich legitimiert erachtet haben, in seinem Namen zu sprechen und seine
Ansprüche zu verkünden, wir haben mit Freude und Enthusiasmus dieses
persönliche Schicksal der Ruhelosigkeit auf uns genommen, um die
Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes zu beenden.
Aber nicht nur im zionistischen Menschen vollzog sich solche Wandlung; weit
über die Grenzen unserer Bewegung hinaus hat die Erneuerung des Judentums
ihre Wirkung ausgeübt. Das Versteckenspiel, die Erbschaft unseres
Ghetto-Daseins, die Scham, sich als Jude zu bekennen, die Vernachlässigung
aller jüdischen Werte hat allmählich nahgelassen. Der Zionismus — und das
ist vielleicht sein Grösstes — hat dem Judentum einen neuen Wertbegriff
gegeben. Freilich, dreissig Jahre sind eine kurze Zeit in der Geschichte
eines Volkes, insbesondere eines so alten und schicksalsreichen Volkes wie
des unseren. In solcher Frist kann die Verwirklichung einer Idee nicht
vollendet werden. Aber heute stehen wir mitten in der schaffenden Arbeit,
wir bauen bereits jenes nationale Heim, das im Baseler Programm als das Ziel
der Zionistischen Bewegung bezeichnet wurde. Was einst als phantastischer
Traum erschien, gestaltet sich in unseren Tagen zu historischer
Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit ist so stark, dass kein Teil der
jüdischen Welt, in dem noch jüdisches Gefühl lebendig ist, heute
teilnahmslos an ihr vorübergeht. Unter den verschiedensten Formen und den
mannigfaltigsten Namen zieht Erez Israel alle gutgesinnten Elemente des
jüdischen Volkes in seinem Bannkreis. Von der werdenden jüdischen Heimstätte
geht eine vereinigende zentripetale Kraft aus, die auf einer höheren Stufe,
als es die Erkenntnis vermochte, die auseinandergerissenen Teile des
Judentums zusammenführt. Das ist eine Tatsache von tiefgreifender,
vielleicht entscheidender Bedeutung. Denn uns liegt ob, die gesammelte
nationale Kraft auf Erez Israel zu konzentrieren. Und je wuchtiger sich der
dem Aussenstehenden fast unerklärliche jüdische Lebenswille, je bewusster
sich unser zionistischer Aufbauwille geltend macht, desto stärker wird die
Anziehungskraft sein, die vom lebendigen jüdischen Palästina ausgeht.
Wir stehen heute mitten in der Arbeit des Aufbaus. Es ist schwer, in einem
Rückblick, der eine historische Würdigung geben will, das Auf und Nieder
dieser stetigen Entwicklung zu charakterisieren. Ein Aufbauwerk, eine
Kolonisation wie die unsere, macht verschiedene Phasen durch. Unser Werk ist
heute bereits eingeordnet in die Zusammenhänge der realen Welt, es steht in
dauernder Wechselwirkung mit vielen Tatsachen, die von uns unabhängig sind
und die uns oft überrennen. Muss es ausgesprochen werden, dass wir selbst
oft nicht mit allen Einzelheiten unseres eigenen Werkes zufrieden sind ?
Eine nur allzu begreifliche Ungeduld ist vor allem unzufrieden mit dem Tempo
unseres Fortschritts. Denn uns treibt auch mit grausamer Gewalt das
Bewusstsein von der kritischen Lage Hunderttausender unserer Brüder, für die
in dem Gebäude der übrigen Welt kein Raum zu sein scheint, zu schnellen
Taten. Aber diese Disproportion zwischen unserem Wollen oder Müssen und
unserem Können darf uns doch nicht zu einer Unterschätzung unserer
bisherigen Leistung führen. Wenn wir alle Umstände berücksichtigen, wenn wir
bedenken, in welcher Zeit, mit welchem Volk, in welchem Land und unter
welchen Bedingungen unsere Arbeit vor sich gehen musste, so können wir ohne
Überhebung sagen, dass das, was der Zionismus nach dreissig Jahren seines
Bestandes vollbracht hat, einzig dasteht in der jüdischen Geschichte. Und
wenn sich von Zeit zu Zeit besondere Schwierigkeiten auftürmen, die wir
Krisen nennen, wenn wir infolge des Zusammentreffens einer Reihe von
ungünstiger Momente Rückschläge erleiden, so darf und wird uns das nicht aus
dem Gleichgewicht bringen. Gerade im gegenwärtigen Moment ist unser ganzes
Denken und Sorgen aufgerührt durch eine solche Krise. Es wäre unklug, ihre
Schwere zu unterschätzen, aber es wäre gefährlich, sie zu übertreiben. Wir
haben das Vertrauen: die Fundamente unseres Baus sind fest genug, ihr
standzuhalten. Wir werden unsere äussersten Kräfte anspannen, die Krise zu
überwinden, aber unser zionistischer Wille wird keinen Augenblick entmutigt.
Was wir jetzt erfahren, hat aber auch seine Lehre in sich — und solche Lehre
ist vielleicht nicht zu teuer erkauft. Der Kongress darf das jüdische Volk
innerhalb und ausserhalb Palästinas nicht darüber im Zweifel lassen, dass er
diese Lehre gezogen hat.
An dem ersten Tage, als wir uns vor dreissig Jahren zusammenfanden, haben
wir klar verkündet, dass wir mit einer Botschaft des Friedens in unsere alte
Heimat zurückkehren wollen. Dem sind wir treu geblieben. So wie unser
Nationalismus im Innern nicht leere Überhebung, sondern das Bekenntnis zur
geistigen und kulturellen Wurzel unseres Seins, Besinnung auf uns selbst
bedeutet, so sind auch die konkreten Auswirkungen unserer nationalen
Bewegung keine agressiven Aktionen gegen andere Völker, sondern aufbauende
Taten: die Schaffung einer kulturellen und ökonomischen Wirklichkeit, die
die Basis eines höher gerichteten Daseins bilden soll. In diesen letzten
Jahren, den Jahren der Aufbauarbeit in Palästina, hat sich unsere
Überzeugung gefestigt, dass aus unserem Werke zwar vor allem das jüdische
Volk, aber auch alle Bewohner des Landes Palästina, in dem wir unsere
nationale Heimstätte zu errichten völkerrechtlich befugt sind, Nutzen haben.
Wir haben oftmals versichert, dass wir mit unseren arabischen Nachbarn in
Frieden und Freundschaft zusammen leben wollen; wir können heute sagen, dass
das wirkliche Leben Palästinas die Aufrichtigkeit unserer Gesinnung bereits
bewiesen hat.
In dieser Stunde, da wir uns zu schwerer und sorgenvoller Arbeit
zusammengefunden haben, gilt unser ganzes Denken den Menschen, die in der
vordersten Front unserer Bewegung stehen, den Pionieren, die im Lande an dem
Aufbau unseres Werkes schwer und mühevoll arbeiten. Viele unserer Brüder,
die ihr persönliches Geschick mit dem Lande unserer Hoffnung verbunden
haben, sind heute zu einem Dasein der Untätigkeit verurteilt. Sie leiden
nicht nur, weil sie kaum das kärgliche Brot zur Fristung ihres Daseins
erhalten können, sondern noch vielmehr, weil die Arbeit, auf die sie ihre
Hoffnung setzten und mit der sie den ganzen Sinn ihres Lebens erfüllten, zu
stocken scheint. Wir wissen, dass diese Stockung nur vorübergehend ist, und
wir sehen, wie einzelne Teile unseres Werkes sich bereits heute
zufriedenstellend und hoffnungsvoll entwickelt haben. Aber wir dürfen nicht
zulassen, dass der heutige Stand länger andauert. Die Zionistische
Organisation als die verantwortliche Repräsentantin des zum Aufbau seiner
Heimstätte entschlossenen jüdischen Volkes muss alles tun, um die
Produktivität im Lande wieder zu beleben. Dies ist vor allem eine Frage der
Mittel. Wir haben Arbeitskräfte bereitstehen, die mit grösster
Selbstlosigkeit an unserem Werke bauen wollen. Aber wir haben nicht die
richtige Proportion zwischen Kapital und Arbeit, den beiden Elementen jedes
wirtschaftlichen Aufbaus, herzustellen vermocht. Dieser Kongress darf nicht
auseinandergehen, ohne Mittel und Wege gefunden zu haben, die das Los der
Arbeitslosen in Erez Israel erleichtern und dadurch gleichzeitig den Umfang
unserer zionistischen Tätigkeit vergrössern. Von diesem Jubiläumskongress
soll nicht nur ein Gruss tiefer Dankbarkeit für diese unsere Menschen in
Palästina ausgehen, sondern auch ein wohl erwogener und durchdachter Plan
zur Beseitigung des akuten Notstandes und zur Festigung unseres
Aufbauwerkes.
Unsere Bewegung steht an ihrem dreissigsten Geburtstage mitten im Ernst des
Lebens, und wir hoffen und fühlen, dass sie mit der Grosse ihrer Aufgaben
auch selbst gewachsen ist. Wir haben ein grosses Ideal proklamiert, und wir
sind auf unserem Wege der Verwirklichung ein weites Stück vorwärts gekommen.
Langsam werden die Konturen des nationalen Heimes erkennbar. Schon heute, wo
die Sache erst beginnt, ist die moralische, die befreiende, die umwälzende
Wirkung dieser Arbeit gewaltig. Die ganze Welt beobachtet unser Tun, und wir
können wohl sagen, dass sie in ihrer Mehrheit uns wohlwollend beobachtet.
Wir haben von vielen Seiten Ermutigung erfahren, und auch die Gegnerschaft,
auf die wir gestossen sind, hat uns nicht geschwächt, sondern stärker
gemacht. Wir stehen mitten in dem aufbauenden Freiheitskampf des jüdischen
Volkes. Wir sind aus einem Häuflein belächelter Enthusiasten die Träger
einer grossen Verantwortung geworden. Dieser Kongress, unser
Jubiläumskongress, muss sich dieser Verantwortung bewusst sein und sich
ihrer würdig zeigen.
in: Chaim Weizmann: Reden und
Aufsätze, 1901-1936, Tel Aviv 1937, S. 174-180.
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