Rede auf dem VIII. Zionistenkongress
(August 1907)
Von Chaim Weizmann
Bis jetzt war der Zionismus nichts
anderes als diplomatischer Zionismus. Man dachte, das jüdische Volk
begeistern zu können, indem man eine modernisierte Schtadlanut hervorgerufen
hat. Man dachte, das jüdische Volk begeistern zu können, indem man ihm
sagte, dieser oder jener Machthaber ist unseren Bestrebungen günstig. Das
war Ihr politischer Zionismus und dafür haben Sie eine Begeisterung
hervorgerufen. Dies konnte auch bis zu einem gewissen Grade gelingen, weil
das jüdische Volk es wirklich gerne sah, dass sich auch ein Machthaber mit
ihm beschäftigt. Aber es hat auch eingesehen, dass es noch nicht genügt,
wenn Machthaber ihm günstig sind und wenn Regierungen ihm zugeben, dass es
recht hat. Sie geben es zu, werden aber keinen Finger rühren, um uns
Gerechtigkeit zu schaffen, trotz der glänzenden Forderungen Nordaus, sie
werden keinen Finger heben, uns zu helfen, weil man mit Gerechtigkeit allein
in Europa nicht mehr hilft. Wir müssen zugeben, das ist ein pessimistischer
Standpunkt, aber es ist richtig.
Es war eine Ironie für die jüdische Politik, wenn man sie nur auf die
Diplomatie reduziert hat. Das ist die Schuld derjenigen Herren, die die
einseitige Auffassung vom politischen Zionismus hatten. Wir wollen eine
ehrliche Synthese der beiden Richtungen.
In dem Momente, wo ich diese ehrliche, gesunde Synthese der beiden
Richtungen in unserer Bewegung sehen werde, dann werden wir vielleicht nicht
die eine Seite mehr betonen, als es Ihnen passt. Aber ich behaupte, ich habe
diese Synthese nicht gesehen. Und gerade das hat uns vielleicht zu diesem
langsamen Versinken gebracht, in dem wir uns jetzt befinden. Gewiss! Herr
Motzkin hatte recht, indem er sagte, Herzl hat Möglichkeiten hingestellt,
aber Herzl hat mit den realen Möglichkeiten im Judentum nicht gerechnet,
weil er sie nicht gekannt hat. Und das war vielleicht sein Glück und hat ihn
vielleicht zu dem grossen Führer gemacht, welcher er war.
"Das jüdische Volk hat noch nicht gezeigt, dass es will." Ich nehme Ihren
Satz auf: es hat noch nicht gezeigt, dass es will. Aber zeigen Sie mir den
Weg, wie Sie es dazu bringen werden, dass es einen Willen zeigt. Ist aber
das nicht eine Willensbezeugung, wenn ein grosser Teil der zionistischen
Reihen nach Palästina geht und sagt, trotz der Tatsache, dass sich noch
manches in einer starken Krise befindet, werden wir es doch tun, weil kein
anderer Weg vorhanden ist?
Und lassen Sie sich das sagen: die Regierungen werden nur dann auf Sie
hören, wenn sie sehen werden, dass Sie imstande sind, Palästina zu besitzen.
Der Weg ist schwer, aber den Weg müssen wir betreten, und ich möchte, dass
die Zionistische Organisation ihn betritt. Keiner von uns würde den grossen
Gedanken verneinen wollen, dass der Zionismus eine politische Bewegung ist.
Aber reduzieren Sie nicht die Politik darauf, dass Sie zu Regierungen gehen
und sich Gutachten über den Zionismus einholen. Das wird nichts nützen ! Wir
sind zu allen Regierungen gegangen. Wir können nicht die Runde noch einmal
beginnen.
Ich verstehe unter politischem Zionismus, dass man die Judenfrage als eine
internationale Frage hinstellen und formulieren soll. Und man soll sagen:
Gewiss, die Judenfrage ist eine internationale Gefahr für die Regierungen.
Wir Juden fordern von den Regierungen unser Recht! Und wir Juden sagen : wir
brauchen Eure Hilfe! Allein wir tun auch selbst alles, um unsere Position in
dem Lande, welches wir als unsere Heimat betrachten, allmählich zu stärken.
Dann werden die Regierungen uns verstehen. Bis heute versteht kein
englischer Staatsmann, warum eigentlich der Zionistenkongress Uganda
refüsiert hat. Wir müssen den Regierungen die zionistische Politik so klar
machen, dass sie sie so verstehen, wie sie die Juden verstehen.
Die Gegner der praktischen Arbeit sagen: wir können die Verantwortlichkeit
nicht übernehmen, dass wir nicht ein Fiasko erleiden, denn es wird heissen,
nicht die Versuche sind missglückt, sondern der Zionismus ist missglückt.
Aber wenn man eine solche Politik verfolgt, kann man überhaupt nichts
unternehmen. Haben wir immer darauf Rücksicht genommen, was die anderen
sagen werden ? Nein! Es ist schwer und unangenehm, ein Fiasko zu erleiden !
Aber wir haben gar keine Garantien, dass wir bei allen möglichen
Vorsichtsmassregeln, die wir ergreifen, kein Fiasko erleben werden. Und die
Herren, die nicht hier sind, die sich für Uganda begeistert haben, haben sie
geglaubt, dass sich dort alles glatt abwickeln und nicht ein Fiasko möglich
sein werde ? Betrachten wir den Zionismus als eine historische Bewegung,
dann müssen wir auch in Kauf nehmen, dass Momente kommen werden, wo wir ein
Fiasko erleiden. Aber gar nicht anfangen ! Abwarten ! Denken, es wird kommen
?
Ich fasse den politischen Zionismus auf als Synthese der Arbeiten auf allen
Gebieten, der praktischen Arbeit als ein Mittel zur Erreichung des
politischen Zieles, des Charters, der die Folge der praktischen Arbeit sein
wird. Ich bin dafür, die Judenfrage als internationale Frage mit allem
Nachdruck aufzurollen. Aber von beiden Seiten muss die Arbeit getan werden.
Die Beziehung zwischen politischer und praktischer Arbeit kann man mit dem
Graben eines Tunnels vergleichen, das von beiden Seiten in Angriff genommen
werden muss, bis die Leute in der Mitte zusammentreffen. Auch das ist mit
Gefahren verbunden. Der Tunnel kann einstürzen. Von der einen Seite habe ich
wenigstens den Willen gesehen, das Graben zu beginnen, die andere Seite
behauptet, die Erde sei zu stark oder der Tunnel könne einstürzen. Ich
möchte, und das wäre die Synthese, die ich mir wünsche — dass das Graben
einmal beginne. Der Kongress soll dem Aktions-Komitee einen klaren, nicht
verschwommenen Auftrag geben. Der Charter soll erstrebt werden, aber nur als
Folge unserer Anstrengungen im Lande. Wenn uns die Regierungen heute einen
Charter ausstellen, wird es ein Stück Papier sein ; anders, wenn wir in
Palästina arbeiten, dann ist er beschrieben mit Schweiss und Blut,
zusammengehalten durch einen Kitt, der sich nie lösen wird.
Stenographisches Protokoll des VIII.
Zionistenkongresses, S. 300—305.
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10-05-07 |