Nachahmung und Assimilation
Von Ahad haAm
Mit dem Worte "Nachahmung" bezeichnen wir —
zumeist in ungünstigem Sinne — alles, was der Mensch spricht und tut, denkt und
empfindet, nicht aus der Tiefe seiner Eigenart heraus, nicht als notwendige
Folge aus dem Zustande seiner seelischen Kräfte und ihres Verhältnisses zur
Außenwelt, sondern infolge der in ihm eingewurzelten Neigung, es anderen gleich
zu tun, es selbst so zu machen, nur weil andere es so machen.
Wenn es wahr ist, was manche Philosophen
behaupten, dass das sittlich Gute absolut gut und ebenso das Böse absolut böse
ist, dass wir nicht durch Verstandesschlüsse, sondern durch einen uns
innewohnenden sittlichen Instinkt zwischen beiden unterscheiden, dann dürfen wir
wohl die Nachahmung als moralisch minderwertig bezeichnen, da unser sittlicher
Instinkt diese äffische Eigenschaft nicht gutheißt. Wenn aber jene andren wahr
sprechen, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf die Abwägung ihres
Vorteils — beziehungsweise Nachteils — für das Wohlergehen und die Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft zurückführen, dann sind wir wohl berechtigt, das
ungünstige Urteil unseres sittlichen Instinktes in diesem Punkte anzuzweifeln.
Wenn auch die Theorie des französischen Philosophen Tarde, der die ganze
Menschengeschichte als Ergebnis der nach bestimmten Gesetzen wirkenden
Nachahmung betrachtet, nicht ohne Übertreibung und Einseitigkeit ist, so genügt
doch schon ein wenig Nachdenken, um die Richtigkeit der Grundtatsache
anzuerkennen, dass diese hässliche Eigenschaft in der Tat eine der Grundlagen
der menschlichen Gesellschaft bildet, ohne welche diese weder entstehen, noch
nach ihrer Entstehung sich hätte entwickeln können. Dies ist ja auch ganz
natürlich. Denn waren die Menschen so beschaffen, dass sie in keinem Punkte
voneinander beeinflusst würden, sondern ein jeder "aus der Tiefe seiner Eigenart
heraus" denken und handeln würde, ohne irgendeine fremde geistige Macht auf sich
einwirken zu lassen, — wie wären dann je solche Menschen zu
konventionellen, sozialen Gütern gelangt, zu festen Gesetzen und Sitten, zu
allgemeinen religiösen und sittlichen Begriffen und dergleichen Dingen mehr, die
in ihrer Gesamtheit zwar alle natürliche Folgen aus allgemeinen Ursachen
sind, aber in ihren Einzelheiten besondere individuelle
Ursachen voraussetzen? Was aber vor allem ins Gewicht fällt: Wie wäre denn in
irgendeiner Gesellschaft die Entstehung und Entwicklung der Sprache denkbar,
wenn nicht ein jeder dem anderen nachahmte, sondern anstatt dessen wartete, bis
ihn seine eigenen seelischen Kräfte dazu bringen würden, einen jeden Gegenstand
genau mit demselben Namen zu bezeichnen wie sein Nachbar? — Und so wäre der
Mensch ohne Sprache geblieben und hätte sich nie aus dem tierischen Zustande
empor gerungen.
Indessen würde auch die Nachahmung nicht
genügen, die Verbreitung dieser Güter unter allen Individuen der Gesellschaft
durchzusetzen, wenn sie bloß bewirkte, dass ein jeder alle seine Nachbarn
in genau demselben Maße
nachahmte. Denn dann waren ja die Träger der Nachahmung ebenso zahlreich wie die
Nachahmer selber, und ein jeder würde sich gemäß dem "Zustande seiner seelischen
Kräfte" zum Objekt für seine Nachahmung einen Träger aus vielen
heraussuchen, so dass wiederum keine einheitlichen, sozialen Güter möglich
wären. Um daher der ganzen Gesellschaft ein einheitliches Gepräge zu
geben, ist es notwendig, dass ein gemeinsamer Mittelpunkt existiere, der
imstande ist, sich alle Herzen zu unterwerfen, — die nahen unmittelbar,
die fernen mittels der nahen, und auf diese Weise den einzigen oder mindestens
hauptsächlichen Träger für die Nachahmung aller übrigen darzustellen.
Einen derartigen allgemeinen Mittelpunkt finden
wir in der Tat in jeder Gesellschaft in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung,
besonders in jener grauen Vorzeit, da der Geist des Menschen sich aus der Tiefe
der Tierheit zu der Höhe eines menschlichen, sozialen Lebens mühsam emporrang.
Auf dieser niederen Stufe, die wir in ähnlicher Form noch jetzt bei den wilden
Stämmen wieder finden, da der Mensch von allen Seiten von Gefahren umringt ist,
fühlt er besonders den Wert der körperlichen Kraft und erweist dem
Stärkeren göttliche Ehren. Die ganze Familie oder der ganze Stamm blickt dann
mit demütiger Verehrung zu ihrem Oberhaupt und Beschützer, dem
"göttlichen Fürsten", empor, und sie entäußern sich gleichsam ihres Selbst samt
all ihren Eigentümlichkeiten und Neigungen vor der Erhabenheit dieses "Ideals".
Es ist daher nicht zu verwundern, daß gerade er von nun an den
Mittelpunkt bildet, dem die Nachahmungssucht seiner Mitmenschen von
selbst zustrebt, und daß ohne jegliches Hinzutun seinerseits, einzig und
allein infolge der Selbstentäußerung der niedrigeren Individualität vor der
höheren, seine Worte, Taten und Manieren zum Gesamtgut der Gesellschaft werden.
Dieses Gesamtgut vererbt sich sodann von den Vätern auf die Söhne, und auch
unter diesen befindet sich in jeder Generation ein "göttlicher Fürst", der das
Erbe der Väter treu bewahrt und da, wo es den fortgeschrittenen
Lebensbedürfnissen, nicht mehr genügt, das seinige hinzufügt, das auch wieder
vermittels der Nachahmung zum Gemeingut wird. Auf diese Weise erweitert und
entwickelt sich leicht ein soziales, fest ausgeprägtes Zusammenleben in jeder
Gesellschaft, deren Individuen im Laufe der Zeit gewissermaßen als viele
Abklatsche eines einzigen Gesamttypus erscheinen.
Es gibt keine Nation und keine Gesellschaft,
nicht einmal unter den allerjüngsten, die sich nicht im Anfangsstadium in diesem
oder in einem ähnlichen Zustande befunden hätte: in dem Zustande der Entstehung
und des Zusammenschlusses der getrennten Elemente zu einem einzigen sozialen
Körper, rings um große "zentrale" Männer, vermittels der Nachahmung der
Selbstentäußerung. Nur daß in späterer Zeit, nachdem der menschliche Geist etwas
fortgeschritten ist, die Ursache der Selbstentäußerung und daher die Ursache der
Nachahmung und des sozialen Zusammenschlusses nicht bloß eine körperliche Kraft,
sondern auch eine große geistige Kraft werden kann.
Allein die Nachahmung dieser Art, deren
Mittelpunkt ein "zentraler" Mann bildet, verringert sich notwendig von
Geschlecht zu Geschlecht. Denn da eine jede neue Generation die bisherigen
Ergebnisse der Nachahmung, das heißt, die Errungenschaften, die bereits zum
Gemeingut geworden sind, von den vorangegangenen Generationen überkommt, und da
mit der Ausbreitung und Erweiterung dieser Errungenschaften das Gepräge der
Gesellschaft immer mehr an Vollkommenheit gewinnt, so kommt schließlich die
Zeit, da dieses soziale Gepräge vollständig ausgebildet und von allen Seiten
scharf umrissen ist, ohne dass noch die Häupter der lebenden Generationen
Gelegenheit zum Eingreifen hätten, um auch ihrerseits prinzipielle
Neuerungen hinzuzufügen. Den gemeinsamen Mittelpunkt der
Nachahmung bildet dann lediglich die
Vergangenheit, die Gesamtheit jener "zentralen Männer",
die zu ihren Lebzeiten ihr persönliches Gepräge der ganzen Gesellschaft
aufdrückten. Und in derselben Weise, in der die Nachahmungsergebnisse aller
Generationen der Entstehungsperiode sich zu einer Gesellschaftsordnung
verdichtet haben, so werden jetzt auch die Schöpfer dieser Ordnung, die
in jenen Generationen lebten, zu einem einzigen Nachahmungszentrum verdichtet,
welches gleichsam ein abstraktes Sonderwesen bildet. Sie werden in dem Begriff
"Ahnen" zusammengefasst, im Verhältnis zu denen die neuen Generationen mitsamt
ihren Führern sich ihrer Individualität entäußern und in ihres Nichts
durchbohrendem Gefühle mit "demütiger Verehrung" zu den glorreichen Helden der
Vergangenheit emporblicken.
Daneben hört allerdings auch die gegenseitige
Nachahmung unter den
Individuen der lebenden Generation nicht auf, aber sie geht bloß in
unwichtigen Einzelheiten und ohne gemeinsamen Mittelpunkt vor sich und auch ihr
Ursprung ist zumeist ein ganz anderer. Anstatt der aus der "demütigen Verehrung"
fließenden
Selbstentäußerung, die unter den Individuen der gegenwärtigen Generation
kein passendes Objekt mehr findet, weil sie alle in gleicher Weise von der
Vergangenheit abhängig sind, pflegt jetzt die gegenseitige Nachahmung unter den
Lebenden durch die Konkurrenz erweckt zu werden, deren Beweggrund der
Neid und die Selbstliebe sind. Vielen gelingt es, die Aufmerksamkeit der übrigen
Gesellschaft auf sich zu lenken und durch irgendeine Leistung, sei sie
theoretischer oder praktischer Natur, sich über ihre Genossen zu erheben. Der
Erfolg dieser regt auch die anderen zur Nachahmung an, aber nicht mehr, weil
diese sich ihrer Eigenart entäußern wollen, sondern im
Gegenteil, weil sie ihre Eigenart bewahren wollen, weil
auch sie das Bestreben haben, sich zu der Höhe ihrer Genossen emporzuschwingen.
Und ebenso wie sich die Nachahmung der letzten
Art von der früheren in ihrem Ursprung unterscheidet, so unterscheiden sich
beide auch in ihrer Beschaffenheit. Im Zustande der Selbstentäußerung will der
Mensch den Geist des
Nachgeahmten, der sich in dessen Taten offenbart, sich zu eigen machen,
und deswegen ahmt er diese Taten vollständig nach, ohne im
Geringsten von der Form abzuweichen, die ihnen jener ihn so mächtig anziehende
Geist gegeben hätte. Hingegen im Zustande der Konkurrenz will der Nachahmer
lediglich seinen eigenen Geist durch jene Taten ausprägen,
die der Nachgeahmte gemäß seinem Geiste vollbracht hatte, und er bestrebt
sich daher, das gegebene Vorbild zu variieren, insofern sein eigener
Geist von dem Geiste des andern und sein eigener Zustand von dem Zustande des
andern verschieden ist.
Aber auch die Nachahmung der letzteren Art ist
von großem Vorteil für die Gesellschaft. Wenn die Nachahmung der
Selbstentäußerung, die die "Ahnen" zum Mittelpunkt hat, die retardierende Kraft
bildet, die die Gesellschaft in ihrem Bestande festhält, so stellt die
Nachahmung der Konkurrenz zwischen ihren Individuen die impulsive Kraft dar, die
sie immer weiter vorwärts treibt, nicht durch gewaltsame Eruptionen und
plötzliche Erschütterungen, sondern durch geringe, aber ununterbrochene
Änderungen, die im Laufe der Zeit zu einer großen Summe anschwellen und die von
den "Ahnen" gezogenen Schranken durchbrechen.
Doch bleibt die Nachahmung nicht immer auf den
Umkreis einer einzigen Gesellschaft beschränkt. Das fortgeschrittene soziale
Leben bringt schließlich die verschiedenen Gesellschaften in Berührung
miteinander und zwingt sie, sich gegenseitig kennen zu lernen. Dann muss
notwendig die Nachahmung ihr Gebiet erweitern und die Grenzen der Gesellschaft
und der Nation überschreiten.
Die Beschaffenheit der Nachahmung dieser Art
hängt mit der Beschaffenheit der sich berührenden Gesellschaften zusammen. Sind
sie sich in Bezug auf das Maß ihrer Kräfte und die Stufe ihrer Bildung gleich
oder ähnlich, dann beginnt sofort unter ihnen die konkurrierende Nachahmung: sie
lernen von einander verschiedene Dinge, die zur schärferen Ausprägung ihrer
Eigenart dienen, und suchen in diesen Dingen sich gegenseitig zu übertreffen.
Steht hingegen die eine Gesellschaft in ihren körperlichen oder geistigen
Kräften hinter der anderen um viele Grade zurück, so daß sie beim Anblick dieser
ihrer Gegnerin notwendig ihre eigene Nichtigkeit und das Gefühl der
Selbstentäußerung empfinden muß, dann treibt sie diese Selbstentäußerung zur
Nachahmung der anderen, nicht zum Zwecke der Ausprägung ihrer eigenen
Individualität, sondern bloß aus "demütiger Verehrung", und deswegen ist die
Nachahmung eine vollständige, ohne jegliche Abänderung. Sie
kopiert dann ihre Gegnerin nicht bloß in denjenigen Dingen, die ihr diese
Selbstentäußerung eingeflößt haben und in denen die nachgeahmte Gesellschaft in
der Tat zu einer hohen Stufe gelangt ist, sondern sie ahmt dieselbe sogar in den
Dingen nach, an welchen jene Gesellschaft selber bloß infolge ihrer
Selbstentäußerung vor ihrer eigenen fernen Vergangenheit festhält, die
aber an und für sich durchaus nicht die Macht hätten, eine andere Gesellschaft
zur Selbstentäußerung zu veranlassen.
Ein derartiger Zustand ist für die in ihm
befindliche Gesellschaft mit der größten Gefahr verbunden. Die neue
Selbstentäußerung vor der fremden Gesellschaft schwächt nach und nach die alte
Selbstentäußerung vor den "Ahnen" ab. Das Nachahmungszentrum rückt allmählich
von diesen zu jener hinüber und das Gefühl der nationalen und sozialen
Zusammengehörigkeit geht, da es seinen Stützpunkt verloren hat, allmählich
seinem Untergang entgegen. Die Gesellschaft gelangt schließlich zu jenem
seltsamen Zustande einer wandelnden Ruine der weder Tod noch Leben bedeutet, und
ihre Mitglieder beginnen ihre individuelle Eigenart aus
dieser seltsamen Lage dadurch zu befreien, dass sie mit der fremden Gesellschaft
eine vollständige Assimilation eingehen.
Ist die Ursache der Selbstentäußerung eine
materielle Kraft und hat die schwächere Gesellschaft keinerlei Aussicht,
auch ihrerseits zu großer materieller Macht zu gelangen, dann gibt es für sie in
der Tat keine andere Rettung als die Assimilation. In derselben Weise sind auch
alle jene kleinen Nationen, die ihr Land an ihre stärkeren Gegnerinnen verloren
haben, zugrunde gegangen. Die Kraft der Faust, das am meisten verehrte Ideal
jener Zeit, flößte stets der besiegten Nation die Selbstentäußerung vor der
Siegerin ein. Nachdem sie nun in diesem Zustande der Sklaverei und Erniedrigung
längere Zeit verweilt hat, ohne sich helfen zu können, verliert sich allmählich
in den Herzen ihrer Mitglieder das Gefühl der Ehrfurcht vor den "Ahnen", bis sie
ihre Nation einzelweise verlassen und in der stärkeren verschwinden.
Anders hingegen verhält es sich gewöhnlich,
wenn die Selbstentäußerung von einer großen geistigen Kraft ausgeht. Die
fremde materielle Kraft ist für jedermann durch ihre Wirkungen sichtbar. Es ist
daher dem Schwächeren unmöglich, deren Wert zu verkleinern oder deren Wirkungen
Einhalt zu tun. Eine geistige Macht hingegen, die von außen kommt, ist nicht
allgemein sichtbar und man kann daher Mittel und Wege finden, ihre Bedeutung
herabzusetzen und ihr den Weg in die fremde Gesellschaft zu versperren. Wenn
daher eine fremde geistige Kraft in irgendeiner Gesellschaft deren
Selbstentäußerung hervorruft, so dass die Glieder derselben die fremde
Lebensweise, in der sich jene Kraft verkörpert, zu kopieren beginnen - dann
erheben sich stets patriotische Eiferer, die die Bedeutung der fremden Kraft in
den Augen ihrer Mitgenossen herabzusetzen und diese von der fremden Lebensweise
vollkommen fernzuhalten suchen, damit sie ihnen unbekannt und unverstanden
bleibe und keine Anziehung auf sie ausübe. Zumeist gelingt es auch diesen
Patrioten, der Ausbreitung der neuen Kraft allerlei Hindernisse in den Weg zu
legen und auf diese Weise ihren Wirkungen im Anfangsstadium Einhalt zu tun. Aber
diese Hinderung bringt keine dauernde Heilung. Vielmehr bleibt die Gesellschaft
stets der Gefahr ausgesetzt, dass sie durch die Lebensbedingungen gezwungen
werden könnte, sich der ferngehaltenen Gesellschaft zu nähern, und daß dann
wiederum die Annäherung die Selbstentäußerung, die Selbstentäußerung die
Nachahmung und die Nachahmung schließlich die Assimilation bewirken wird. Ja
noch mehr, selbst die künstliche Fernhaltung an sich hat häufig das Gegenteil
vom Gewünschten zur Folge, indem sie bei vielen, welche das fremde Leben von der
Ferne anschauen und im geheimen danach begehren, das Gefühl der
Selbstentäußerung noch verstärkt und sie schließlich dahin bringt, dass sie mit
einem einzigen Male den Zaun durchbrechen und ins feindliche Lager desertieren.
Tatsachen dieser Art bringen schließlich in den
meisten Fällen dazu, dass die Führer der Gesellschaft endlich — wohl ihnen, wenn
es noch rechtzeitig geschieht — ein Einsehen haben und zur Überzeugung gelangen,
dass nicht die Nachahmung
an und für sich die Assimilation bewirkt, sondern dass es die
Selbstentäußerung ist, die vermittels der
Nachahmung die Assimilation herbeiführt, dass man daher, anstatt der
Nachahmung Einhalt zu tun, die Selbstentäußerung an sich
überwinden muss, und zwar gleichfalls vermittels der Nachahmung, aber in Form
der Konkurrenz. Man muss — mit anderen Worten — der
betreffenden Gesellschaft jene geistige Kraft, die sie zur Selbstentäußerung
antreibt, derartig beibringen, dass sie keinerlei Ursache mehr hat, zu der
fremden Lebensordnung, in der sich jene Kraft ausprägt, mit "demütiger
Verehrung" emporzublicken, sondern im Gegenteil sich genau derselben Kraft
bedient, um "ihren eigenen Geist durch jene Taten auszuprägen, die der
Nachgeahmte gemäß seinem Geiste vollbracht hatte". Nachdem aber die Gesellschaft
diese Art der Nachahmung gewählt hat, flößt ihr die Eigenliebe Selbstvertrauen
ein und lässt in ihren Augen die von ihr individuell
nachgeahmten Taten wertvoller erscheinen als die Leistungen der anderen. Je mehr
sie auf diese Weise in der Nachahmung fortfährt, um so mehr prägt sie ihren
Geist in dieser Nachahmung aus und geht immer mehr und mehr von dem Vorbilde der
nachgeahmten Gesellschaft ab. So wird in ihr das Gefühl ihrer Eigenart immer
stärker, und die Gefahr der Assimilation ist vorüber.
In dieser Weise gestaltete sich die Nachahmung
im Altertum bei den Römern in ihrem Verhältnis zur hellenischen Kultur, und in
der neueren Zeit bei den Russen in ihrem Verhältnis zur Zivilisation des
Westens. Beide begannen in gleicher Weise mit der Selbstentäußerung vor der
fremden geistigen Macht und kopierten daher vollständig die fremde Lebensweise,
die Art des Denkens, Sprechens und Handelns. Patrioten, wie der römische Cato,
die dem Strom der Nachahmung einen Damm entgegensetzen wollten, hatten nur
teilweisen und vorübergehenden Erfolg. Als sich aber lebenserfahrene Patrioten
erhoben und die Nachahmung in die Gestalt der Konkurrenz hinüberzuleiten
begannen, um dadurch die fremde geistige Macht, die die Selbstentäußerung
verursacht hatte, im Leben ihres Volkes gemäß seiner Eigenart auszuprägen, da
hörte die Selbstentäußerung von selbst auf, und die Nachahmung trug nur noch zur
Stärkung des nationalen Selbstgefühles bei.
Dies ist auch der Grund, weshalb das jüdische
Volk in der Zerstreuung bestehen geblieben und trotz der ihm innewohnenden
Nachahmungssucht in den anderen Nationen nicht aufgegangen ist.
Noch in den Zeiten der Propheten haben unsere
Vorfahren gelernt, die körperliche Kraft innerlich zu verachten und nur die
Kraft des Geistes hochzustellen. Die harte Hand ihrer Peiniger konnte sie daher
nie mehr zur Selbstentäußerung bringen. Nur eine große geistige Kraft,
die sich in einem fremden Volke offenbarte, war imstande, sie zur
Selbstentäußerung anzutreiben und jenem Volkstum geneigt zu machen. Die Führer
des Volkes, die dies merkten, bemühten sich daher, sie von dem geistigen Leben
der betreffenden Nation völlig fernzuhalten und selbst die unschuldigste
Nachahmung zu verhindern. Diese Fernhaltung aber konnte, abgesehen davon, dass
sie viele dazu brachte, "mit einem einzigen Male den Zaun zu durchbrechen",
schon durch unsere Stellung innerhalb der Völker nicht immer durchgeführt
werden. Als nun die Annäherung eintrat und ungehindert zunahm, da stellte es
sich regelmäßig heraus, daß die Befürchtungen der Patrioten und ihre
Isolierungsmaßregeln grundlos und unnötig waren, weil das jüdische Volk nicht
bloß eine große Nachahmung sucht,
sondern auch eine große Nachahmungskunst besitzt. Was der Jude nachahmt,
ahmt er g u t nach, und in kurzer Zeit gelingt es ihm, jene fremde Kraft, die
ihn früher zur Selbstentäußerung getrieben hatte, sich vollständig zu eigen zu
machen. Mit Hilfe seiner geistigen Führer lernt er dann, sich dieser Kraft zur
Ausprägung seiner eigenen Individualität zu bedienen. Die
Selbstentäußerung verschwindet von selbst, und die Nachahmung nimmt die Form der
Konkurrenz an, in der sie das nationale Selbstgefühl nur noch erhöht.
Noch lange bevor die Hellenisten in Palästina
das Judentum zugunsten der hellenischen Kultur aufgeben wollten, waren die Juden
in Ägypten sowohl in ihrer Lebensweise als auch in ihren Anschauungen und in
ihrem wissenschaftlichen Streben in nahe Beziehung zu den Griechen getreten,
ohne dass eine besonders starke Neigung zur Assimilation in ihrer Mitte
wahrzunehmen gewesen wäre. Sie bedienten sich vielmehr ihres hellenischen
Wissens, um durch dasselbe die Eigenart des Judentums auszuprägen, dessen
Herrlichkeit aller Welt zu offenbaren und seine Erhabenheit über die griechische
Gedankenwelt darzutun. Das bedeutet also, daß sie vermittels der Nachahmung, die
anfangs ihre Selbstentäußerung vor der fremden Geistesmacht hervorgerufen hatte,
sich diese letztere zu eigen machten und sodann von dieser Selbstentäußerung zur
Konkurrenz fortschritten.
Hätten jene "Siebzig", die für die ägyptischen
Juden die griechische Bibelübersetzung hergestellt haben, gleichzeitig für die
palästinensischen Juden Plato ins Hebräische übersetzt und dadurch die
griechische Gedankenwelt zum Gemeingut unseres Volkes in seinem Lande und in
seiner Zunge gemacht, dann wäre sehr wahrscheinlich auch in Palästina die
Selbstentäußerung in Konkurrenz übergegangen, und die Entwicklung der jüdischen
Eigenart hätte dann einen bedeutenderen und großartigeren Verlauf genommen. Es
hatte dann naturgemäß im Judentum keine "Griechlinge" gegeben, somit wären auch
vielleicht die Makkabäer samt all den geistigen Folgen die in letztem Grunde in
jener Epoche wurzeln, überflüssig gewesen, und wer weiß, ob nicht die ganze
Weitgeschichte eine vollständig andere Entwicklung genommen hatte.
Doch die "Siebzig" haben dies unterlassen, und
erst in viel späterer Zeit, durch das Medium der Araber, wurde die hellenische
Geisteswelt zum Eigentum unseres Volkes in seiner Z u n g e aber nicht mehr in
seinem Lande. Aber trotzdem sehen wir auch da, auf fremdem
Boden, die Selbstentäußerung in kurzer Zeit in Konkurrenz übergehen und die
Nachahmung in dieser Gestalt Wunderbares wirken. Die Sprache, die
Literatur, die Religion - sie alle feierten ihre Auferstehung und förderten die
Ausprägung der jüdischen Eigenart durch die neue Geistesmacht. Und so sehr ward
schließlich diese Geistesmacht mit dem Judentum verwachsen dass die jüdischen
Denker ihren fremden Ursprung nicht glauben wollten, und weil sie nicht
begreifen konnten, wie das Judentum jemals ohne dieselben bestehen konnte,
beruhigten sie sich nicht eher, bis sie eine alte Überlieferung entdeckten nach
welcher Sokrates und Plato Schuler der Propheten waren und die ganze griechische
Weisheit lediglich ein Plagiat an jüdischen Literaturwerken darstellte, die
während der Tempelzerstörung verloren gegangen waren.
Seit jener Zeit erlebte das jüdische Volk
nacheinander zwei Perioden, von denen die eine, die längere, durch eine
gänzliche Entfremdung, die andere kürzere, durch eine gänzliche
Selbstentäußerung gekennzeichnet ist. Aber auch diesmal ringt sich allmählich
die Erkenntnis durch, daß sie beide unberechtigt waren und daß der richtige Weg
in der Mitte liegt, nämlich die Vervollkommnung der nationalen Eigenart durch eine Nachahmung in
Form der
Konkurrenz.
Die Symptome dieser aufdämmernden Erkenntnis
sind nicht erst in der allerjüngsten Zeit, da der Nationalismus zu einer
besonderen Partei im Judentum geworden ist, wahrzunehmen. Vielmehr lassen sie
sich schon seit geraumer Zeit beobachten: auf theoretischem Gebiete in der
neugeschaffenen Wissenschaft des Judentums in europäischen Sprachen, auf
praktischem Gebiete in den Reformbestrebungen zugunsten einer Umgestaltung der
äußeren Form der jüdischen Religion. Zwar erscheinen diese Bestrebungen in den
Augen vieler, selbst mancher ihrer Vertreter, als ein bedeutender Schritt auf
dem Wege zur Assimilation, aber sie sind in einem Irrtum begriffen. Denn sobald
die Selbstentäußerung so weit gediehen ist, daß diejenigen, die sie üben,
kleinen inneren Zusammenhang mit dem "Erbe der Väter" mehr empfinden, sondern
sich von demselben durch Aufgehen in der fremden Gesellschaft loszulösen suchen,
— empfinden sie auch keinerlei Bedürfnis mehr, ihr väterliches Erbe zu dem Grad
der nach ihren Begriffen wünschenswerten Vollkommenheit zu erheben. Sie sind im
Gegenteil mehr geneigt, alles beim Alten zu lassen, bis es von selbst
geräuschlos verschwindet. Bis dahin aber ahmen sie, sobald sie in diese Notlage
kommen, die Handlungen der Väter mit einer Art von künstlicher Selbstentäußerung
nach, mit einer Gleichgültigkeit, als ob nicht sie die Täter wären, sondern der
Geist der Väter sich ihrer bemächtigt hatte und die Handlungen in derselben
Weise übte, wie er es in früherer Zeit gewohnt war.
Geiger spricht irgendwo die Ansicht aus,
daß derjenige, der jetzt hebräisch schreibt, in seinem Inneren keinen
Zusammenhang mehr mit dem Geschriebenen empfinde, sondern unwillkürlich in eine
ganz andere Gedankenwelt, in die Welt der Talmudweisen und Rabbinen versetzt und
in ihren Anschauungskreis hineingezwungen werde. Diese Ansicht hat auch in der
Tat ihre Berechtigung bei den jüdischen Gelehrten Westeuropas, deren hebräischer
Stil deutlich genug verrät, dass die Sprache ihres Volkes nicht mehr ein Teil
ihrer Individualität ist. Aber die hebräischen Schriftsteller des Ostens und des
Heiligen Landes, die noch jetzt die Sprache ihrer Väter als einen Teil ihres
Selbst empfinden, fühlen gerade, wenn sie hebräisch schreiben, das Bedürfnis,
aus dem tiefsten Innern ihrer Eigenart heraus zu schaffen, und sie bemühen sich
daher, die Sprache umzugestalten und so zu vervollkommnen, daß sie auch ihnen,
wie einst ihren Vätern, zum bequemen Ausdruck ihrer eigenen Geisteswelt werden
kann.
Wenn wir nun sehen, wie Geiger und seine
Nachfolger ihre Zeit und Kraft der, wie sie glauben, Vervollkommnung des
religiösen Bestandteils aus dem "Erbe der Väter" widmen und sich hier
nicht zufrieden geben mit dem, was sie dort sehr wohl zufrieden stellt,
dann ist es für uns ein sicherer Beweis, dass hier der Kernpunkt ihrer jüdischen
Individualität ist, die zwar zusammengeschrumpft, aber noch nicht
verschwunden ist, und dass ihr wahrer und innerer Wunsch (ob sie es sich und den
anderen eingestehen oder nicht) darauf gerichtet ist, "ihren eigenen Geist durch
jene Taten auszuprägen, die der Nachgeahmte gemäß seinem Geiste vollbracht
hatte".
Vor der Assimilation braucht also unser
Volk auch in der Zukunft keine Angst zu haben. Wohl aber kann und muss es die
Zersplitterung befürchten. Denn da die Art der Tätigkeit, in welcher unser Volk
sein nationales Selbst entwickelt, in jedem Lande von der fremden geistigen
Kraft, die dort maßgebend ist und sie zur konkurrierenden Nachahmung antreibt,
abhängig ist, so steht zu befürchten, dass diese Tätigkeit sich nach
verschiedenen Seiten hin, je nach der Verschiedenheit der geistigen Kraft in den
verschiedenen Ländern, zersplittern könnte, so dass im Laufe der Zeit das
jüdische Volle nicht mehr ein Volk ist, sondern, wie in seinem Anfangsstadium,
in vereinzelte Stämme zerfällt.
Für diese Befürchtung lassen sich in der Tat
Argumente aus der Erfahrung beibringen. In den Ländern Osteuropas z. B.
erhielten die Juden ihre Kultur von den Juden Deutschlands. Der Träger der
Selbstentäußerung und damit auch das Nachahmungszentrum war für sie nicht die
fremde geistige Macht in ihrem eigenen Lande, sondern ihre Volksgenossen in
einem anderen Lande. Sie ahmten daher die letzteren vollständig nach, ohne an
den Unterschied des Landes und der Verhältnisse zu denken, und suchten sich in
allen Einzelheiten als echte Germanen zu gebärden. Als aber nach einiger Zeit
die Aufklärung bis zu einem gewissen Grade auch zu den östlichen Juden gedrungen
und die neue Kraft ihnen zum Bewusstsein gekommen war, da gingen sie sofort auch
in ihrem Verhältnis zu den deutschen Juden von der Selbstentäußerung zur
Konkurrenz über und begannen ihr Vorbild zu variieren, entsprechend der
Verschiedenheit der geistigen Macht in ihrem eigenen Lande. (1) In derselben
Weise sind die französischen Juden noch jetzt die Träger der Selbstentäußerung
und ein Nachahmungszentrum für die Juden des Orients. Aber auch dort ist dieser
Zustand bloß ein vorübergehender und wird nur so lange dauern, bis ihnen die
neue Kraft zum Bewusstsein gekommen sein wird. — Und so sehen wir, dass je mehr
irgend ein Teil unseres Volkes an geistiger Reife zunimmt, er sich auch in
demselben Maße von der Herrschaft des anderen Teiles, von seinem ehemaligen
Nachahmungszentrum befreit, und die Gefahr der Zersplitterung rückt immer näher
heran.
Aber auch für diese Gefahr gibt es eine Rettung
— und nur
eine Rettung. Ebenso wie in der Gesellschaft, im Zustande der Entstehung,
der Zusammenschluss der einzelnen Individuen, trotz ihrer
persönlichen
Eigentümlichkeiten, durch einen zentralen Mann bewirkt wird, so kann auch
eine Nation im Zustande der Zersplitterung den Zusammenschluß ihrer Teile, trotz
der lokalen Eigentümlichkeiten, durch einen zentralen Ort
erreichen, der an und für sich und nicht durch irgendeinen zufälligen und
ephemeren Umstand Anziehungskraft genug besäße, um allen zerstreuten Teilen der
Nation ein gewisses Maß von Selbstentäußerung einzuflößen, so daß die Ergebnisse
der konkurrierenden Nachahmung in ihm ein ausgleichendes und richtunggebendes
Element fänden.
Wenn nun in den Tagen der ersten Zersplitterung
im Kindheitsalter unseres Volkes die Tapferkeit Davids und die Weisheit Salomos
ausreichend war, um einen derartigen örtlichen Mittelpunkt, wohin nach dem Worte
des Psalmisten früher "die Stämme Gottes in Stämmen zogen", zu
schaffen, so ist jetzt im Greisenalter des Volkes weder der Held mit seiner
Tapferkeit, noch der Weise mit seiner Weisheit, noch endlich der Millionär mit
seinen Millionen imstande, eine derartige Neuschöpfung ins Leben zu rufen. Und
so werden diejenigen, denen an der Einheit des jüdischen Volkes gelegen ist, ob
sie es wollen oder nicht, sich in die geschichtliche Notwendigkeit ergeben
müssen und ihre Blicke nach dem Osten richten, dem Nachahmungszentrum von
ehedem.
1893
Achad Ha'am: Am Scheideweg, Berlin 1913,
Band II, S. 225 - 239
(1) Die europäische Aufklärung gelangte an die
russischen Juden auf dem Wege über Deutschland, durch Vermittelung des
Mendelssohn'schen Kreises. Es ist noch nicht allzu lange her, dass man dort
jeden, der europäisches Wissen besaß, als "Berliner" bezeichnete, und noch jetzt
wird in Polen derjenige, der europäische Kleidung trägt, ein "Daitsch"
(Deutscher) genannt. Daher die blinde Nachahmung der deutschen Juden, die
Jahrzehnte hindurch in den "aufgeklärten" Kreisen der russischen Judenheit
herrschte. Einige Reste dieser Nachahmung (so z. B. die wenigen Orgelsynagogen,
in denen eine Zeitlang deutsch gepredigt wurde) haben sich bis jetzt erhalten.
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10-05-07 |