Drei Epochen
Von Bauminger, Wien
in: Misrachi. Festschrift herausgegeben anlässlich des 25jährigen Jubiläums
der Misrachi-Weltorganisation vom Zentralbüro des Misrachi Deutschland,
Berlin 5687, S. 181-183.
In den Anfängen der jüdischen
Renaissance, als der Zionismus in den weiten Kreisen der orthodoxen
Judenheit noch verdammt war, hatte der Misrachi die Aufgabe, dem fanatischen
Klerikalismus entgegenzutreten und den vielen Zitaten aus dem reichen
jüdischen Schrifttum, die den Gegnern jeweils als Waffen im Kampf gegen uns
geeignet schienen, andere, weit einleuchtendere und viel sachlichere Zitate
gegenüberzustellen. Der Misrachi hatte die Aufgabe, den Nachweis zu führen,
daß der so sehr angefeindete Zionismus religionsgesetzlich statthaft, ja
wünschenswert und ein religiöses Gebot ersten Ranges sei. Er hatte
den Zionismus zu "kaschern", eine ideologisch genommen beschränkte Aufgabe,
die aber seinerzeit notwendig war. Heute ist der Zionismus an und für sich
in allen religiösen Kreisen des Judentums bereits "koscher", ja er wird
sogar schon kopiert. Die extremsten Elemente, insbesondere die Agudah,
betreiben faktisch schon heute unbewußt Zionismus fast im vollen Sinne des
Wortes, wenn auch in einer von uns keinesfalls akzeptablen Art und Weise.
Der erste Zeitabschnitt misrachistischer Tätigkeit ist als Epoche der
Auseinandersetzung mit der offiziellen Orthodoxie zu bezeichnen.
Kaum hat diese Aufklärungsarbeit des
Misrachi greifbare Resultate gezeitigt, beginnt er seine zweite Epoche. Er
nimmt die Vorgänge in Palästina und in der zionistischen Organisation wahr,
beobachtet aufmerksam die zionistische Aufbauarbeit und es gelingt ihm,
vieles abzustellen und zu beseitigen, was das religiöse Empfinden der
jüdischen Orthodoxie zu verletzen geeignet ist. Er hat innerhalb der
zionistischen Organisation gleichsam die Rolle eines "Maschgiach". Und auch
diese Rolle führt er teilweise mit Erfolg aus. Es ist dem Misrachi gelungen,
bei den maßgebenden zionistischen Faktoren in- und außerhalb Palästinas das
Verständnis dafür zu erwecken, daß die Religion ein wichtiger Faktor beim
Wiederaufbau des Landes ist, und daß die zionistische Organisation als
staatsbildender Exponent aller aufbauenden Kräfte verpflichtet ist, auch für
die religiösen Bedürfnisse des Landes in Uebereinstimmung mit der Auffassung
des Misrachi zu sorgen. Aber auch diese Aufgabe, die Funktionen eines
"Maschgiach" zu erfüllen, ist, ideologisch genommen, ebenfalls eine
beschränkte, wenn auch nach der Sachlage eine unbedingt notwendige. Der
zweite Abschnitt misrachistischer Arbeit ist als Epoche der
Auseinandersetzung mit dem offiziellen Zionismus zu bezeichnen.
Die dritte Epoche beginnt mit dem
Zeitpunkte, in dem der Misrachi anfängt selbständige, aktive Palästinaarbeit
in größerem Umfange zu leisten. Diese Epoche der Ideologie wird sich erst
langsam durch die Realität des wirklichen Schaffens auf dem heiligen Boden
herauskristallisieren. Diese Ideologie besteht in dem Ringen nach einer
seelischen Harmonie zwischen Lehre und Leben, zwischen Gesetz und Arbeit,
wie sie in früheren Jahrtausenden bestanden hat und nur auf dem heiligen
Boden möglich ist. Die misrachistischen Chaluzim, die die Bibel kennen, in
ihrem Geiste leben und den Pflug führen, verwirklichen in sich diese
Harmonie, die in der Galuth unmöglich ist. Das Leben außerhalb Palästinas
ist widerspruchsvoll und insbesondere in religiöser Beziehung sind die
Auswirkungen dieses Widerspruchs nicht ausgeblieben. Der 100%ige Jude kann
sich auch religiös nur in Palästina, und zwar nur in einem schaffenden
Palästina, ganz ausleben. Die Wechselbeziehung zwischen Arbeit und Religion
ist nur in Palästina gegeben, dort gewinnt die Arbeit durch die Religion,
und die Religion gewinnt durch die Arbeit. In dieser Beziehung ist die
misrachistische Arbeit in Palästina von ganz besonderer Bedeutung. Hat der
Zionismus die Menschheit durch einen neuen Typus, nämlich den des Chaluz
bereichert, so hat der Misrachismus einen vielleicht noch viel
interessanteren und wertvolleren Menschen geschaffen, einen Menschen, der
außer der sonstigen freiwilligen Hingabe der anderen Chaluzim, in seiner
Seele die Scholle, die er bearbeitet, als im höchsten Sinne heilig
empfindet und auch in seiner Arbeit auf derselben durchaus geheiligt ist.
Aus diesem gleichgestimmten, chaluzischen und religiösen Sichemporentwickeln
entsteht ein für die Jetztzeit neuer Typus, — der Mensch, der die Harmonie
zwischen Lehre und Schaffen wiedergefunden, ein seelisches Gleichgewicht
besitzt, das Gesetz und Arbeit mit einander verbindet. Der misrachistische
Chaluz muß doppelt entbehren können: als palästinensischer Arbeiter
und als religiöser Mensch. Dieses Höchstmaß von zweierlei Entbehrungen
und Opfern harmonisch getragen und zu einer absoluten Einheit und
gleichmäßigen Heiligkeit mit einander verschmolzen ist Misrachismus. Das
ist die wirkliche palästinensische Religion, die nur im jüdischen Menschen
der Bibel verkörpert war und das ist auch die Religion der Zukunft. In der
Galuth ist ein innerer Widerspruch, ein Seelenkonflikt unvermeidlich. Mit
jeder Arbeit beginnt der seelische Zwiespalt, weil die Arbeit an und für
sich jeder Heiligkeit entbehrt. In Palästina kann diese Zerrissenheit der
religiösen Seele keinen Fuß fassen. Der misrachistische Chaluz arbeitet mit
derselben Ekstase und Stimmung, wie er betet, und er betet mit derselben
Ekstase und Stimmung, wie er arbeitet. Alles ist ihm gleichmäßig heilig: die
Lehre, die Scholle, die Arbeit, das Volk. Palästina ist der Ort, wo die
ringende, religiöse Seele gesunden kann.
Der gegenwärtige dritte Abschnitt
misrachistischer Tätigkeit ist als Epoche der Selbstbesinnung, der
Auseinandersetzung mit sich selbst zu werten.
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10-05-07 |