Das Judentum und die Juden
Von Martin Buber
Die Frage, die ich Ihnen und mir heute vorlege, ist die
Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden.
Warum nennen wir uns Juden? Weil wir es sind? Was bedeutet
das, daß wir es sind? Ich will zu Ihnen nicht von einer Abstraktion
sprechen, sondern von Ihrem eigenen Leben, von unserem eigenen Leben. Und
nicht von seinem äußeren Getriebe, sondern von dieses Lebens innerem Recht
und Wesen.
Warum nennen wir uns Juden? Deshalb nur, weil es unsere
Väter getan haben: aus Erbgewohnheit? Oder nennen wir uns Juden aus
Wirklichkeit?
Aus Erbgewohnheit? Tradition ist edelste Freiheit dem
Geschlechte, das sie hell und sinnvoll lebt, aber elendste Sklaverei den
Erbgewohnten, die sie zäh und träge übernehmen. Welchen Sinn hat uns dieses
Überlieferte, Name, Losung und Wegbefehl: Judentum? Welcher Art ist die
Gemeinschaft, von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen? Was
meint diese unsere Fahrt durch den Abgrund - fallen wir durch den Nebelraum
der Jahrtausende ins Vergessen, oder trägt uns der Mächte eine in die
Erfüllung? Was bedeutet das, daß wir dauern wollen, nicht nur als Menschen,
Menschengeist und Menschensame, sondern, den Zeiten und der Zeit selber zum
Trotz, als Juden?
In der großen Vorratskammer der Begrifflichkeit liegen allerlei stattliche
und gefügige Antworten bereit für die Klugen, die sich das Lebensgeschäft
nicht dadurch erschweren wollen, daß sie den Fragen allzu tief und allzu
lang ins Auge sehen. Solche Antworten gibt es auch hier, ihrer zwei zur
Wahl; sie heißen Religion und Nation. Aber die Antworten sind unserem Blick
nichts anderes als vermummte Fragen.
Gibt es eine jüdische Religion?
Ich sagte es schon: ich frage nicht nach den Formationen
des äußeren Lebens, sondern nach der inneren Wirklichkeit. Das Judentum hat
für die Juden so viel Sinn, als es innere Wirklichkeit hat. Gibt es eine in
sich wirkliche jüdische Religiosität? Nicht Dogma und Norm, Kult und Regel:
gibt es ein heute von Menschen gelebtes eigentümliches Verhältnis zum
Unbedingten, das seinem Wesen nach als jüdisch zu bezeichnen ist und das
sich in einer Gemeinschaft der Juden konstituiert?
Das wissen wir, daß es eine jüdische Religiosität gegeben
hat. Die Zeit, die Jakob mit dem Gotte um den Segen ringen, und die Zeit,
die Mose in einem Kuß des Gottes sterben ließ, die Zeit des
"Urchristentums", die sich vermaß, den Menschen, der sich vollendet, zu
Gottes Sohn zu erheben, und die späte Zeit des Chassidismus, die sich
unterfing, Gottes Schicksal auf Erden zu schmieden, im Zusammensein und
Zusammenwirken von Mensch zu Mensch, - diese Zeiten hatten eine jüdische
Religiosität. Aber unsere Zeit? Wo gibt es eine Gottesinbrunst von Juden,
die sie hinausjagte aus dem Zweckgetriebe der Gesellschaft in ein wahrhaftes
Leben, in ein Leben, das Gott bezeugt, ihn aus einer Wahrheit zu einer
Wirklichkeit macht, weil es "in seinem Namen" gelebt wird? Freilich, es gibt
auch heute ein Bekennen, nein, allerhand Bekennen: ein Bekennen aus Treue;
ein Bekennen aus Stolz; ein Bekennen aus Trägheit, wie der durch den Raum
fallende Stein seine Richtung bekennt. Aber wo gibt es ein Erfüllen? Wo gibt
es eine Gemeinschaft, in der nicht jüdisches Beharrungsvermögen (was sie
"Tradition" nennen) und nicht jüdisches Anpassungsvermögen (jenes
"geläuterte", das ist entseelte "Judentum" einer mit "Monotheismus"
verbrämten "Humanität") sich betätigte, sondern unmittelbare jüdische
Religiosität, elementares Gottgefühl?
Auf die innere Wirklichkeit hin betrachtet, ist jüdische Religiosität eine
Erinnerung, vielleicht auch eine Hoffnung, aber keine Gegenwart.
Und die andere Antwort sagt, die Juden seien eine Nation. Ja gewiß, sie sind
eine; wie es der Form nach eine jüdische Religion gibt, so gibt es der
Wirkung nach eine jüdische Nationalität: sie erweist sich im Leben der Juden
zwischen den Volkern. Aber wir fragen ja nicht nach der Wirkung, sondern
nach der Wirklichkeit des Judentums für das Selbst der Juden. Wie äußert
sich hier die nationale Existenz? Wie der Jude, erleidend und reagierend,
zur außerjüdischen Welt steht, was ihm als Juden von dieser zugefügt und wie
es von ihm verarbeitet wird, mag seine Art seit siebzig Geschlechtern
mitgestalten, ein begründendes Element seines inneren Judentums kann es
nicht abgeben; denn sonst wäre er nur Trotzjude, wäre Jude nicht aus eignem
Wesen und Bestand, sondern auf Kündigung der Völker; und auf einen Wink der
Völker würde sein Judentum nicht mehr lebendige Substanz sein, nur noch
Gedächtnisleid und Gedächtnisgebild wie die Spuren der Jahre und der Lose in
unserm Gesicht. Es muß etwas anderes sein: autonome Wirklichkeit. Was ist es
aber, das einem Menschen sein Volk zur autonomen Wirklichkeit in seiner
Seele und in seinem Leben macht? Was macht es, daß er das Volk nicht bloß um
sich: daß er es in sich fühlt?
Der einzelne erwachsene Mensch wiederholt auf höherer Ebene einen Prozeß,
den schon das Kind durchmacht. Das Kind erlebt zunächst die Umwelt und
entdeckt erst allmählich sein Ich, lernt allmählich erst seinen Körper als
Sonderexistenz aus der Masse der Dinge scheiden. Dieses Stadium der
Wahrnehmungsorientation wiederholt gleichsam seinen Rhythmus in dem späteren
Prozeß der Geistesorientation. Der Einzelne erlebt in diesem zuerst die
Wandelwelt der Eindrücke und Einflüsse, die Umwelt, und zuletzt entdeckt er
sich, die in den Wandlungen dauernde Substanz.
Ursprünglich findet sich der Einzelne eingestellt in einen Kosmos, der sich
aus seinen Eindrücken aufbaut und in dem das Ich nur die Gefühlsbetonung
hergibt. Aus diesem Kosmos werden ihm zwei große Bezirke durch ihre
Umgrenztheit und Deutlichkeit vor allen gegenwärtig: die Heimat, Erde und
Himmel in ihrer vertrauten Besonderheit, und der Menschenkreis, der sich ihm
in der Grundform des Verkehrs, in der Sprache, und in der Grundform des
Handelns, in der Sitte, mitteilt, ihn einbezieht und teilnehmen läßt. Auf
diesen drei konstanten Elementen seines Erlebens, Heimat, Sprache und Sitte,
baut sich das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu einer Gemeinschaft auf,
die weiter ist als die urgegebene Gemeinschaft der Familie und die
wahlgeborene Gemeinschaft der Freunde. Er fühlt sich denen zugehörig, die
mit ihm die gleichen konstanten Elemente des Erlebens haben, und ihre
Gesamtheit empfindet er auf dieser Stufe als sein Volk.
Viele bleiben auf dieser Stufe stehen. Uns kommt es darauf an, den zu
betrachten, der weiter geht. Was ihn weiter führt, ist das eingeborene, bei
vielen Menschen sich abstumpfende, bei anderen aber wachsende und reifende
Verlangen nach Dauer, nach bleibender Substanz, nach unsterblichem Wesen. Er
entdeckt, daß es nicht allein konstante Formen des Erlebens gibt, sondern
auch eine konstante Existenz, alles Erlebens stetigen Träger. Wie das Kind
das Ich seiner Körperhaftigkeit, so entdeckt er das Ich seines Geistes
zuletzt: als dauernde Substanz.
Das Kind erfuhr bei der Entdeckung des Ich seine Begrenztheit im Raum; er
erfährt seine Unbegrenztheit in der Zeit. Das Verlangen nach Dauer leitet
seinen Blick in der Entdeckung seines Ich über die eigene Lebensspanne
hinaus. Dies ist die Zeit jener seltsam weitschwingigen, pathetischen und
schweigsamen Gefühle, die nie hernach in gleicher Gewalt wiederkehren, auch
wo sie sich zur Idee klären und runden: Unsterblichkeit der Seele,
Unsterblichkeit der Kraft, Unsterblichkeit des Werkes und der Tat. Dieser
junge Mensch, den der Schauer der Ewigkeit angerührt hat, erfährt in sich,
daß es ein Dauern gibt. Und er erfährt es noch nackter und noch heimlicher
zugleich, mit all der Einfalt und all dem Wunder, die um das
Selbstverständliche sind, wenn es angesehen wird: in der Stunde, da er die
Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und der Mütter schaut,
die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der
Menschen, an Zusammenfließen des Blutes ihn hervorgebracht, welcher
Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in
dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er
fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der
unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl
gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht
im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten Schichten unseres Wesens vom
Blute bestimmt, daß unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt
sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die Welt der Eindrücke
und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflußbaren
Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet.
Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit
ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen
Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. Einst kam er zu dem
Gefühle der Zugehörigkeit aus der äußeren Erfahrung, nun aus der inneren.
Auf der ersten Stufe repräsentierte das Volk ihm die Welt, nun die Seele.
Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und
sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die
zusammen eine Einheit darstellen; und diese ist eben die Einheit, die er als
den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein
notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist. Was
alle Menschen in dieser großen Kette geschaffen haben und schaffen werden,
das empfindet er als das Werk seiner innersten Eigentümlichkeit; was sie
erlebt haben und erleben werden, das empfindet er als sein innerstes
Schicksal. Die Vergangenheit seines Volkes ist sein persönliches Gedächtnis,
die Zukunft seines Volkes ist seine persönliche Aufgabe. Der Weg des Volkes
lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen.
Dieses Sicheinstellen in die große Kette ist die natürliche Situation des
Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke, von der Subjektivität aus
betrachtet. Der natürlichen subjektiven Situation entspricht aber nicht
immer eine natürliche objektive. Diese ist dann gegeben, wenn das Volk, dem
sich der Einzelne auf der ersten Stufe, und das Volk, dem er sich auf der
zweiten Stufe zugehörig fühlt, dasselbe sind; wenn die Gemeinschaft derer,
die mit ihm die gleichen konstanten Elemente haben, und die Gemeinschaft
derer, die mit ihm die gleiche Substanz haben, dieselbe sind; wenn die
Heimat, in der er aufwuchs, zugleich die Heimat seines Blutes ist, wenn die
Sprache und die Sitte, in denen er aufwuchs, zugleich die Sprache und die
Sitte seines Blutes sind; wenn das Volk, das ihm die Art seines Erlebens
gab, eben das ist, das ihm den Inhalt des Erlebens gibt.
Diese natürliche objektive Situation ist in dem Verhältnis des Juden,
insbesondere des Westjuden, zu seinem Volke nicht gegeben. Alle Elemente,
die ihm die Nation konstituieren, sie ihm zu einer Wirklichkeit machen
könnten, fehlen, alle: das Land, die Sprache, die Lebensformen. Das Land, in
dem er wohnt, dessen Natur ihn umfängt und seine Sinne erzieht, die Sprache,
die er spricht und die seine Gedanken färbt, die Sitte, an der er teilhat
und von der sein Tun die Bildung empfängt, sie alle sind nicht der
Gemeinschaft seines Blutes, sind einer andern Gemeinschaft zugehörig. Die
Welt der konstanten Elemente und die Welt der Substanz sind für ihn
zerfallen. Seine Substanz entfaltet sich nicht vor ihm in seiner Umwelt, sie
ist in tiefe Einsamkeit gebannt, und die einzige Gestalt, in der sie sich
ihm darstellt, ist die Abstammung.
Und wenn sie dennoch dem Juden eine Wirklichkeit werden kann, so liegt das
eben daran, daß die Abstammung nicht bloß Zusammenhang mit dem Vergangenen
bedeutet: daß sie etwas in uns gelegt hat, was uns zu keiner Stunde unseres
Lebens verläßt, was jeden Ton und jede Farbe in unserem Leben, in dem was
wir tun und in dem was uns geschieht, bestimmt: das Blut als die tiefste
Machtschicht der Seele.
Die Gewalten, aus deren Wirkung sich das Menschenleben, Wesen und Geschick,
aufbaut, sind Innerlichkeit und Umwelt: die Disposition, Eindrücke zu
verarbeiten, und das eindringende Material. Die tiefste Schicht der
Disposition aber, die dunkle schwere Schicht, die den Typus, das
Knochengerüst der Personalität, hergibt, ist das, was ich das Blut nannte:
das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal,
ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten,
das wir in die Welt mitbringen. Das tut uns Juden not zu wissen: nicht die
Art der Väter allein, auch ihr Schicksal, alles, Pein, Elend, Schmach, all
dies hat unser Wesen, hat unsere Beschaffenheit mitgeformt. Das sollen wir
ebenso fühlen und wissen, wie wir fühlen und wissen sollen, daß in uns lebt
die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas.
Jeder von uns, der auf sein Leben zurück, in sein Leben hinein zu blicken
vermag, wird die Spuren dieser Macht erkennen. Wer sich das Pathos seiner
inneren Kämpfe vergegenwärtigt, wird entdecken, daß etwas in ihm weiterlebt,
das sein großes nationales Urbild in dem Kampfe der Propheten gegen die
auseinanderstrebende Vielheit der Volkstriebe hat. In unserer Sehnsucht nach
einem reinen und einheitlichen Leben werden wir den Ruf tönen hören, der
einst die große essäische und urchristliche Bewegung erweckte. Aber wir
werden auch das uns entartende Schicksal der Väter fühlen in der Ironie des
modernen Juden, die ja nur daraus stammt, daß wir Jahrhunderte lang, wenn
wir ins Gesicht geschlagen wurden, nicht zurückschlugen, sondern, der Zahl
und der Kraft nach unterlegen, uns zur Seite wandten und uns mit gespannter
Überlegenheit als "die geistigen Menschen" fühlten. Und diese lebensferne,
gleichgewichtfremde, gleichsam außerorganische Intellektualität selber ist
daran groß geworden, daß wir Jahrtausende lang kein gesundes, gebundenes,
vom Rhythmus der Natur bestimmtes Leben kannten. Und was frommt es uns, all
dies zu wissen?
In jenen stillsten Stunden, in denen wir uns auf Unaussprechliches besinnen,
fühlen wir eine tiefe Zwiespältigkeit unserer Existenz; eine
Zwiespältigkeit, die uns so lange unüberwindlich scheint, als wir die
Erkenntnis, daß unser Blut das Gestaltende in unserem Leben ist, noch nicht
zu unserem lebendigen Eigen turn gemacht haben. Um aus der Zwiespältigkeit
zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut
in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der
Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewußt. Vertiefen wir den Blick der
stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns:
ziehen wir unser Leben in unsere Hand, wie man einen Eimer aus dem Brunnen
zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner
zusammenrafft. Wir sollen uns entscheiden; wir sollen in uns eine
Ausgleichung setzen zwischen den Mächten.
Wo die natürliche objektive Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum
Volke gegeben ist, verläuft sein Leben in Harmonie und gesichertem Wachstum;
wo sie nicht gegeben ist, gerät der Einzelne, je bewußter er ist, je
ehrlicher er ist, je mehr Entschiedenheit und Deutlichkeit er von sich
fordert, desto tiefer in einen Konflikt, er wird desto unausweichlicher vor
eine Wahl gestellt zwischen Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der
Eindrücke und der Welt der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen
dem Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden,
zwischen den Zwecken, die ihm die Gesellschaft darbietet, und der Aufgabe,
seine Eigenkraft zu befreien. Eine Wahl: das kann nicht so gemeint sein, als
ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu
überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen
zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns
eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in
einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung
sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung
sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was
das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll.
Dies ist es, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte, die Wurzel
aller Judenfragen, die Frage, die wir in uns selbst finden, in uns selbst
klären und in uns selbst entscheiden müssen. Es ist einmal — von Moritz
Heimann — gesagt worden: "Was ein auf die einsamste, unzugänglichste Insel
verschlagener Jude noch als 'Judenfrage' anerkennt, das einzig ist sie." Ja,
das einzig ist sie.
Für den aber, der sich in der Wahl zwischen Umwelt und Substanz für die
Substanz entschieden hat, gilt es, nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu
sein und aus seinem Blute, mit dem ganzen Widerspruch, mit der ganzen Tragik
und mit der ganzen Zukunftsfülle dieses Blutes als Jude zu leben.
Wenn wir uns aus tiefster Selbsterkenntnis derart bejaht haben, wenn wir zu
uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz Ja gesagt haben, dann
fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als
Volk, denn er fühlt das Volk in sich. Und so werden wir uns zur
Vergangenheit des Judentums nicht stellen als zu der Vergangenheit einer
Gemeinschaft, der wir angehören, sondern wir werden darin die Vorgeschichte
unseres Lebens sehen, jeder von uns die Vorgeschichte seines eigenen Lebens,
und wir werden anders, als wir es sonst vermochten, Werden und Bestimmung
erkennen. Und ebenso werden wir der Gegenwart innewerden. Diese Menschen da
draußen, diese elenden, gebückten, schleichenden Menschen, die von Dorf zu
Dorf herumhausieren und nicht wissen, woher und wozu sie morgen leben
werden, und diese schwerfälligen, fast betäubten Massen, die auf Schiffe
verfrachtet werden und nicht wissen, wohin und wozu, sie alle werden wir
nicht etwa bloß unsere Brüder und Schwestern empfinden, sondern jeder von
uns, der sich so in sich selber gesichert hat, wird fühlen: Diese Menschen
sind Stücke von mir. Ich leide nicht mit ihnen, sondern ich leide das. Meine
Seele ist nicht bei meinem Volke, sondern mein Volk ist meine Seele. Und in
diesem gleichen Sinn wird dann jeder von uns die Zukunft des Judentums
fühlen, er wird fühlen: Ich will weiterleben, ich will meine Zukunft, will
ein neues, ganzes Leben, ein Leben für mich, für das Volk in mir, für mich
im Volke. Denn das Judentum hat nicht nur eine Vergangenheit, ja trotz
allem, was es geschaffen hat, meine ich: das Judentum hat vor allem nicht
eine Vergangenheit, sondern eine Zukunft. Ich glaube: das Judentum ist in
Wahrheit noch nicht zu seinem Werke gekommen, und die großen Kräfte, die in
diesem tragischsten und unbegreiflichsten aller Völker leben, haben noch
nicht ihr eigenstes Wort in die Geschichte der Welt gesprochen.
Die Selbstbejahung des Juden hat ihre Tragik und ihre Größe. Denn wenn wir
uns bejahen, dann fühlen wir, wie ich schon sagte, die ganze Entartung mit,
aus der wir unsere kommenden Geschlechter befreien müssen. Aber wir fühlen
auch, daß noch Dinge in uns sind, die nicht hinausgestellt worden sind, daß
noch Gewalten in uns sind, die auf ihren Tag warten. Und diese Tragik und
diese Größe des sich bejahenden Juden, diese nun ganz ins eigene Leben
aufnehmen, das heißt als Jude leben. Nicht auf ein Bekenntnis kommt es an,
nicht auf die Erklärung der Zugehörigkeit zu einer Idee oder einer Bewegung,
sondern darauf, daß der, wer seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie
lebe, daß er sich von den Schlacken der Fremdherrschaft reinige, sich aus
der Zwiespältigkeit finde zur Einheit.
Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht
verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: "Vor den Toren Roms
sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias." Damals kam
ich zu einem alten Manne und fragte ihn: "Worauf wartet er?" Und der alte
Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel
später verstehen gelernt habe; er sagte: "Auf dich".
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10-05-07 |