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Judentum und Israel
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Grundlagen unserer künftigen Arbeit

Von A.D. Gordon, 1921

I.

Wenn wir die Arbeit beurteilen wollen, die wir künftighin, von dem historischen Augenblick an, in dem wir leben, zu tun haben, müssen wir vor allem unser elementares nationales Streben im Lichte des Augenblicks prüfen und uns zutiefst klar machen, was wir eigentlich als Volk von uns selbst verlangen und was wir verlangen können in Anbetracht dessen, was der lebendige historische Augenblick, der die Frage unserer nationalen Arbeit in neuer Form vor uns hingestellt hat, gewährt und was er versagt.

Es ist natürlich nicht möglich genügend zu klären, was dieser historische Augenblick für uns bedeutet, wenn man nicht vorher sagt, was er überhaupt bedeutet.

Wir leben in einem großen historischen Moment — diesen Ruf hört man von allen Seiten. Aber in welchem Sinn ist er groß?

Große Augenblicke, die die Landkarte verändert und das Antlitz von Staaten und Völkern erneuert haben, hat es in der menschlichen Geschichte oft gegeben. Derart waren alle Epochen der großen Eroberer, von den Assyrern und Ägyptern angefangen bis zu Napoleon. Aber es gibt auch große historische Momente — und ihrer sind   wenige   —,   die die Kulturmenschheit auf den Scheideweg gestellt und dem menschlichen Geist eine neue Richtung gewiesen haben. Das sind die Momente des Entstehens neuer Religionen. Dieser Art war wohl die Zeit, da der Glaube Israels entstand, wenn wir auch über sie nicht mehr wissen, als was uns betrifft. Dieser Art waren in Zeiten, die uns näher sind, die Momente, da das Christentum und der Islam entstanden, deren Expansionskraft innerhalb der Kulturmenschheit und deren Wirkung auf  den menschlichen Geist  (ob zum Guten oder zum Bösen ist eine andere Frage) wir zur Genüge kennen. Natürlich haben die großen Eroberungen und die Veränderungen, die sie im Leben der Völker und Staaten mit sich brachten, auf den Geist des Menschen gewaltigen Einfluß geübt, wie auch die Entstehung einer neuen Religion bis zu einem gewissen Grade den Zustand der Völker und Staaten beeinflußt hat. Aber der Unterschied ist ein grundlegender. Die Änderungen, Wandlungen oder auch Revolutionen, welche die großen Eroberungen  im Leben der Völker verursacht  haben, waren politischer oder auch sozialer Art. Sie konnten den menschlichen Geist nur so weit beeinflussen, als er nach außen gerichtet ist, zum Gemeinschaftsleben des Menschen hin, zu den äußeren, praktischen Beziehungen zwischen Völkern und Staaten und auch zwischen dem Menschen und seinem Nächsten; und nur indirekt und gewissermaßen auf Umwegen brachten sie den menschlichen Geist auch dort in Gärung, wo er nach innen gekehrt ist, zum seelischen Leben und zur Natur hin; und auch  das geschah  im  wesentlichen nur  an  Einzelnen. Nicht so der Augenblick des Entstehens einer neuen Religion. Hier ist ein menschlich-kosmisches   Erwachen, eine absolute Umwälzung im Geist, Abschluß der alten Rechnung mit dem ganzen Leben und der Welt und Beginn einer neuen, eines neuen Verhältnisses, deutlich bewußt oder unbewußt, zum Wesen der Natur, zum Wesen alles Seienden, zur eigentlichen Quelle des leiblichen und zugleich geistigen Lebens, und von da aus natürlich — eines neuen seelischen Verhältnisses zum Menschen. Und all dies nicht in Form einer Gärung im Geiste Einzelner, sondern als mächtige Gemeinschaftsbewegung.

Zu welcher der beiden Arten von Momenten haben wir den Moment, in dem wir leben, zu rechnen?

Daß eine neue Religion heute nicht entsteht, ist klar. Ja noch mehr: auch in unserem einfachen, menschlichen Verhältnis zur Natur ist kein Anzeichen für Wandlung und Erneuerung zu sehen. Das Verhältnis ist schon festgelegt und nach allen Rezepten der Wissenschaft bearbeitet, sodaß es versteinert ist; mit allen Schwur- und Zauberformeln der Ästhetik hat man es beschworen, daß es zu seiner Art, zu seiner Lebendigkeit nicht zurückkehre. Man hat dekretiert, daß die Natur ein blindes Element ist; wir hätten nur dahin zu streben, ihre Kraft zu erkennen und sie zu beherrschen; die Ästhetik hat ihre Zustimmung gegeben, indem sie hinzufügte, daß die Natur auch ein blinder Maler und Musikant und nicht gerade ein übler sei, dessen Gemälde und Melodien die Macht haben, ein wenig von den Bitternissen und Albernheiten des Lebens abzulenken, die dem blinden Walten der Natur entspringen, besonders wenn ihnen die Ästhetik durch die Kraft der Kunst Lebensodem einhaucht. Solange jedoch im Innern des Menschen jenes Ding lebt, das man Seele nennt, ist die Rechnung zwischen Mensch und Natur noch nicht abgeschlossen; ja noch mehr, dieses armselige Wesen, die Seele, nur eine Maschine für Gefühl und Erkenntnis, für Lust und Leid, wie man in unserer Zeit meinen sollte, wagt zu fühlen, daß die Rechnung noch nicht begonnen hat und daß der Mensch gerade jetzt, da er die Natur schon so gut erkannt hat, seine seelische Rechnung mit ihr überprüfen und eine neue Rechnung beginnen muß, mit den Kräften der Vernunft und der Seele zugleich, erleuchtend und lebenspendend zugleich.

Kann man etwas davon in all der mächtigen Bewegung des gegenwärtigen Augenblicks sehen? Kann man in ihr die Erschütterung des menschlichen Geistes bis zu seinem kosmischen Grund erblicken? Bereitet sich wenigstens die Möglichkeit solcher Erschütterung vor?

Die Frage schon ist so weit entfernt vom Geiste unserer Zeit, daß man keine positive Antwort darauf suchen kann. Aber man kann wohl einige Symptome hervorheben. Die bolschewistische Bewegung z. B., so weit wir sie von der Ferne beurteilen können, ruht scheinbar auf den gleichen Grundlagen wie die übrigen sozialistischen Bewegungen und man kann in ihr keine menschlich-kosmische Grundlage erblicken, kein Streben des menschlichen Geistes, sich aus seinem eigentlichen kosmischen Wesen heraus zu wandeln und zu erneuern. Dennoch sieht man in ihr eine große, lebendige, kraftvolle Negation, die einem Vulkane gleich nicht nur die bestehende Ordnung, sondern auch alles Überlieferte und Überkommene zerstört, und zugleich — ein mächtiges Verlangen, alles auf die Arbeit zu begründen, die jedenfalls in einem nahen Verhältnis zur Natur steht. Man kann natürlich noch kein festes Urteil darüber abgeben; aber man hat die Empfindung, daß hier etwas lebt, das tiefer ist als ein gesellschaftliches und politisches Streben , daß hier in dieser Negation eine Lebenskraft wirkt, die nicht ihresgleichen hat in den übrigen revolutionären Negationen, daß hier der nationale Geist, der trotz seiner Schwächen und seiner Wildheit weite und tiefe Geist des russischen Volkes (vielleicht wirkt hier auch. ein wenig der jüdische Geist) mehr am Werke ist als der Geist des Sozialismus und der Politik. Man hat das Gefühl, daß die vulkanische Entladung, durch die die absolute Negation den Geist mit einem Male alles dessen entleert, was ihm früher kosmisches Element war, notwendig im stürmischen, gärenden, brausenden und suchenden russischen Geiste eine mächtige Reaktion hervorrrufen muß, eine gewaltige Forderung an das lebendige, schaffende Denken, die Leere auszufüllen. Und von da ist es vielleicht nicht so weit dahin, daß man mit dem Leben und der Welt eine neue Rechnung beginne, daß eine neue menschlich-kosmische Bejahung erstehe (auch der Krieg, den fast die ganze Faust der Welt jetzt gegen den Bolschewismus führt, drängt den Geist und das Denken zur Tiefe). Nicht so in den übrigen sozialen Bewegungen, die auch in ihrer Negation nicht besonders tief sind und, was die Hauptsache ist, nicht besonders lebendig und kraftvoll und weit entfernt davon, einen menschlich-kosmischen Wert darzustellen. Aber eines kann man in fast allen Strömungen der sozialistischen Bewegung feststellen — daß sie sich immer mehr dem Nationalismus nähern, daß sie nach Kompromissen mit dem Nationalismus suchen. Was bedeutet das? Wohl irren sich jene, die darin ein Zeichen dafür sehen, daß zuletzt ein richtiger Ausgleich zwischen diesen beiden, dem Nationalismus und dem Sozialismus, gefunden werden wird. Hier ist kein Ausgleich möglich, hier ist nur ein langsamer, unbemerkbarer Übergang vom Sozialismus zu einem neuen Nationalismus möglich. Wie tief hier der Gegensatz geht, ist unschwer zu erkennen, wenn man die beiden ein wenig von der Nähe betrachtet.

Im Nationalismus ist ein kosmisches Element, etwa: der Geist der Natur der Volksheimat, der sich mit dem Geist des Volkes verschmolzen hat. Das aber ist die Hauptsache. Das ist der Quell des Lebens und der Schöpfung, der Quell des erhabenen Reichtums des Volkes, und darin liegt der Unterschied zwischen dem Volk, einem Gemeinschaftskörper, der lebt und schafft, und der Gesellschaft, einem mechanischen Körper, der sich bewegt und tätig ist. Für den Nationalismus ist dieses kosmische Element wesentlich. Ganz anders der Sozialismus. Er ist geboren aus dem Überhandnehmen der Wissenschaft und der Technik einerseits und des Kapitalismus andererseits. Er ist wohl ein Kind des Zwielichts, ein Wesen des Übergangs von einer nationalen Lebensform zu einer neuen; von jener, die auf dem Geist des Mittelalters und überhaupt auf dem Geist der Kindheit und Jugend der Menschheit beruhte, auf den Empfindungen, den Glaubenssätzen und Überzeugungen der Unwissenheit, zu der neuen nationalen Lebensform, die aufgeklärt und lebendig zugleich ist. Er ist das gerade Gegenteil des Nationalismus. Er beruht zur Gänze auf Technik, auf Geschäftigkeit, während der Nationalismus auf dem Leben und auf schöpferischem Tun beruht. Deshalb ist der Sozialismus so klar und glatt, so leicht zu verstehen in all seinen Teilen, so bequem zur Hand, um alles im Leben des Menschen zu erklären, so schön seiner Rolle angepaßt, geradezu eine Maschine, was man vom Nationalismus nicht behaupten kann, so wie man es vom Leben selbst nicht behaupten kann. Aus diesem Grunde hat der Sozialismus die Reform und Erneuerung des menschlichen Lebens in der Hauptsache auf die Reform der Gesellschaftsordnung gegründet und nicht auf die Reform und Erneuerung des Geistes im Menschen. Begreiflicherweise gibt es hier eine gegenseitige, eine Wechselwirkung, das wird kein Denkender leugnen. Aber der Unterschied liegt darin, was man stärker hervorhebt, was man zur Hauptsache macht. Der Sozialismus hat das äußere Leben zur Hauptsache gemacht, die objektiven Faktoren des Lebens, die in dem Maße, als sie eine Reform erfahren, nicht nur das Leben schöner gestalten, sondern auch den Menschen besser machen; er hat die subjektiven Faktoren im Menschen nicht genügend berücksichtigt. Dadurch hat er die Verwischung des menschlichen Gepräges bewirkt. Darin besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Sozialismus und dem Nationalismus, der zur Hauptsache den Menschen macht, seine individuelle und nationale Wesenheit, das Ebenbild Gottes im Menschen. Aus eben diesem Grunde hat der Sozialismus den Kampf gegen den Kapitalismus nicht im Volk konzentriert, wo die Kraft der Arbeit nicht allein als ökonomische Kraft hervorgetreten wäre, sondern allgemein als Kraft des Volkes das Leben zu schaffen, und wo der Kampf im ganzen und im einzelnen sich nicht nur gegen die Ausbeutung der Arbeitenden, sondern auch gegen die Ausbeutung des Volkes, der Kraft des Volkes gerichtet hätte, mit der das Kapital nicht das tut, was dem Volke so nötig ist, sondern was den Besitzenden mehr einträgt; und hätte er das getan, dann wäre auch das Parasitentum und die Schwäche des Kapitals zum Vorschein gekommen, das selbst keine vitale Kraft hat und einzig auf der (ökonomischen und geistigen) Schwäche der Arbeitenden beruht. Er aber hat den Kampf auf ein internationales Feld übergeleitet, dorthin, wo das Kapital und seine Macht sich auswirkt, und hat damit gleichsam die Arbeit ihres vitalen Gehalts, ihrer nationalen Kraft entleert und entkleidet und sie zu einer mechanischen Kraft gemacht, die hinter dem Kapital einhergeht, das, wie gesagt, keine Lebenskraft und daher keine nationale Form besitzt und mit nichts Nationalem und Menschlichem rechnet, sondern einzig und allein mit dem Geldbeutel des Besitzenden. Nicht umsonst hat man den Sozialismus auf den Materialismus und den Klassenkampf gegründet. Diese eine Tatsache, daß die Begründer des Sozialismus das ganze Leben und den ganzen menschlichen Lebenskampf einseitig fundiert haben, zeigt deutlich, wie viel technisches Denken dabei im Spiele ist. Es muß doch schließlich klar sein, daß all die Namen wie Materialismus, Idealismus, Leiblichkeit und Geistigkeit vielleicht in den Forschungen des kalten Verstandes oder in den Bildern einer erhitzten Phantasie einen Platz haben, doch nicht im Leben. Im Leben gibt es keinen Stoff ohne Geist und keinen Geist ohne Stoff. So ist es im Leben eines jeden lebenden Körpers und so auch im Gemeinschaftsleben eines lebendigen Gemeinschaftskörpers, soweit er lebt und gesund ist. Das ist das Kriterium des Lebens: jedem Atom von Stoff steht ein Tropfen Geist und umgekehrt jedem Tropfen Geist ein Atom von Stoff gegenüber. Ein Abweichen davon, nach welcher Seite immer, ist eine Anomalie, ein Mangel an Leben. Und das ist, so kann man wohl sagen, auch das Kriterium aller Sittlichkeit. Freilich ist nicht der Materialismus die treibende Kraft im Sozialismus, wie viele von denen meinen, die diesen Antrieb empfinden, sondern das Mechanische in ihm. Dieses Mechanische fühlt man in allen Handlungen und im ganzen Parteileben der Sozialisten und auch in allem, was sie schreiben. Mitunter vermeint man dort Weite, Hochflug und Musik wahrzunehmen; aber wenn man die Sache aus der Nähe betrachtet, sieht man, daß es die Weite einer großen Ausstellung ist, eines gewaltigen Kampfplatzes, eines ausgedehnten Feldes für einen festlichen Umzug, aber nicht die Weite der Welt; der Flug eines Luftschiffes, eines vollendeten Zeppelin mit all seinem Lärm und Geknatter, aber nicht der Flug eines Adlers, auch nicht der einer Taube, nicht einmal der einer kleinen Schwalbe; die Musik eines Grammophons, einer ausgezeichneten Singmaschine, doch nicht die Musik der lebenden Menschenseele.

Kurz: zwischen Nationalismus und Sozialismus besteht ein radikaler Gegensatz, ein Widerspruch, der nicht aufzulösen ist. Konsequent sind sicherlich jene Sozialisten, die sich dem Nationalismus mit aller Kraft widersetzen. Nicht ohne Grund waren die ersten Begründer des Sozialismus, die zweifellos in der Weite ihrer Einsicht und der Tiefe ihres Denkens alle ihre späteren Schüler und Anhänger übertrafen, extreme Gegner des Nationalismus, in dem sie einen absoluten Widerspruch zum Sozialismus erblickten. Nur daß das Leben etwas  anderes fordert; doch muß man verstehen, was es fordert. Es fordert, richtiger es schafft — seinen Trägern unbewußt, vielleicht sogar in völligem Gegensatz zu ihrem Streben — einen allmählichen, unfühlbaren Übergang vom Sozialismus zu einem Nationalismus in neuer Gestalt, wie sie dem neuen Geist und dem neuen Denken unserer Zeit entspricht. Die Schwäche der sozialistischen Bewegung liegt darin, daß sie nicht in klarer Erkenntnis diesen Weg geht, sondern auf ihrem Parteiwege, dem mechanischen Wege, geradeaus zu gehen strebt.

Welches wird die neue Gestalt des Nationalismus sein? Das läßt sich natürlich nicht sagen. Hier ist nicht der Ort für Pläne, für das Bahnen von Wegen; das ist Sache des Lebens. Das Leben geht ohne Weg; ohne Programm schafft es Neues und erneuert sich selbst. Jeder seiner Schritte ist im eigentlichen Sinn Selbsterneuerung und Erneuerung. Nicht an einem Tage wird und nicht geraden Weges geht die Schöpfung der Form. Die Zeit wird sprechen. Nur Eines kann man wohl sagen: die neue Form des Lebens wird der Natur näher sein und mehr beeinflußt und belebt durch das kosmische Element. Der Mensch wird lernen, nicht nur im Stofflichen, sondern auch im Geistigen von der Natur das zu nehmen, was sie zu geben hat. Er wird wohl vom Leben her in ihr finden, was er nicht geahnt hatte, da er sie in dem klaren, aber engen Spiegel der Wissenschaft betrachtete. Die Völker werden selbständiger sein, reicher an Eigenart und tiefer; und das heißt keineswegs egoistischer; gerade das Gegenteil. Der Egoismus, der persönliche wie der nationale, ist Einengung, Armsein an Eigenart und Verwischung der Eigenart, ein Streben, sich auf Kosten der Eigenart anderer zu bereichern, durch Parasitentum fett zu werden, sich selbst zu bejahen, indem man anderen den Wert abspricht; während die Persönlichkeit, die Individualität des Einzelmenschen wie der Nation, reiche, tiefe Eigenart ist, dem Leben alles Seienden auf getan, um sich in gegenseitigem Austausch von Leben und Schaffen zu bereichern. Sie ist universal in dem Maße, als sie Eigenart besitzt. (Ein Beispiel für viele, wie weit Individualismus, Nationalismus  und Universalismus  durch ein lebendes Band verbunden sind und wie fest sie zusammenhängen, kann man in den Propheten sehen, die Individualisten, Nationalisten und Universalisten sind wie niemand sonst.) Je mehr Eigenart das Volk besitzt, desto mehr wird es zunächst für das Leben des Ganzen sorgen, für seine Gesundheit und Erneuerung, wird dafür sorgen, daß alle seine Kinder gesund und heil sind, daß  sie leben und schaffen und daß nicht das eine auf Kosten des anderen lebt und satt und fett wird vom Blut und Hirn des anderen. Dann wird der Kampf gegen die Ausbeuter, Gewalttäter und Räuber kein Klassenkampf sein, sondern ein Kampf des Volkes gegen seine Parasiten. Das ist ein radikaler Unterschied. Dann wird das Volk wissen, daß, so wie der Einzelne ehrlich sein, in seinem Nebenmenschen den Bruder sehen und sich zu ihm brüderlich verhalten muß, so wie der Einzelne auf die höheren Sphären des Lebens ein Recht hat und für sie verantwortlich ist, auch das Volk verpflichtet ist, ehrlich zu sein im Verhältnis zu seinen Nachbarvölkern, in ihnen Brüder zu sehen, sich zu ihnen brüderlich zu verhalten, und daß es so das gleiche Recht und die gleiche Verantwortung überall dort hat, wo sie der Einzelne hat. Dann wird das Volk und jeder denkende und fühlende Einzelne sehen, daß es für den Einzelnen unmöglich ist, Mensch zu sein, solange sein Volk, der Schöpfer seines konkreten Lebens, ein Raubtier ist; sie werden das Absurde und Verderbliche sehen, das zu sehen man jetzt nicht die Augen oder nicht den Willen hat.

Natürlich ist all das hier Gesagte nur ein Traum von einer verhüllten Zukunft, ein tastender Gedanke, eine vage Vermutung oder eine dunkle Empfindung, eine seelische Stimmung, eine geistige Erhebung; man kann es nicht zum Fundament für den Bau unserer nationalen Welt machen, man kann darauf unsere künftige nationale Arbeit nicht gründen. Doch ich denke auch nicht daran, hier das Fundament zu suchen. Ich wollte nur dem, der eines äußeren Beweises bedarf, zeigen, daß auch von hier aus der Aufbau unserer nationalen Welt möglich ist, oder daß man hier zumindest keinen Widerspruch sehen kann. Das Fundament, das ist deutlich, findet sich anderswo; es liegt — in uns selbst.

Ich glaube, daß es für jeden von uns not tut, sich für einen Augenblick in seinen Winkel zurückzuziehen, sich von jeglichem Einfluß, von dem Einfluß von außen und auch von dem unserer eigenen Vergangenheit freizumachen und sich ganz einfach, in allem Ernst und in Wahrhaftigkeit zu fragen: Was wollen wir eigentlich mit unserer nationalen Arbeit? Was suchen wir gerade in Erez Israel? Warum sollen wir uns von den anderen Völkern scheiden, in deren Mitte wir alle unsere Tage gelebt haben, uns von den Ländern entfernen, in denen wir geboren wurden, die unserem Geist ihr Siegel aufgeprägt, von ihrer erhabenen Fülle auf uns ausgeströmt haben? Warum sollen wir uns nicht unmittelbar an der großen Arbeit dieser Völker für die Zukunft der Menschheit beteiligen, warum nicht völlig in ihnen aufgehen? Was hindert uns? Die Religion ist doch in unserer Zeit kein starkes Hemmnis. Man kann heute auch ohne Religion leben. Wer unbedingt auf der Religion besteht, der kann hoffen, daß in einer nicht zu fernen Zukunft unter den Völkern volle religiöse Freiheit herrschen wird. Jedenfalls ist die Aussicht auf solche Freiheit viel näher als die auf volle nationale Erlösung, und auch die Arbeit für die Erlangung solcher Freiheit ist viel naheliegender. Dann wird ein jüdischer Mensch, wenn er will, Russe, Deutscher, Franzose jüdischen Glaubens sein und sich dabei sehr wohl fühlen können, so wie es auch heute üblich ist, nur daß man heute dabei kein besonders angenehmes Gefühl hat. Der Einwand, daß das im Bereich der Unmöglichkeit liegt, daß wir uns nicht assimilieren können, ist, man verzeihe mir, geradezu ein Sophismus. Warum konnten alle die antiken Völker sich assimilieren und warum sollten wir es nicht können, wenn wir nur wollten, wenn wir dem zustimmten, wenn wir uns dem nicht hartnäckig mit aller Kraft widersetzten? Welch sophistischer Gedanke, in einer Negation, einer eitlen und leeren Negation, in der Unmöglichkeit zu sterben, die Grundlage des Bestandes einer Nation zu .sehen, und darauf gestützt sich hartnäckig dem zu widersetzen, daß die Volksangehörigen, die danach verlangen, eines nationalen Todes sterben! Wir sehen doch, daß die Assimilation bis in die letzte Zeit hinein trotz aller Sophismen dieser Art  unter uns immer  mächtiger wird oder  zumindest geworden ist; warum sollen wir uns also dem widersetzen, warum uns gegen den Strom stellen und gegen ihn schwimmen, warum sollen wir uns nicht vom Strom tragen lassen, wohin immer er uns tragen will?

Man sagt Volkstum. Aber die Frage ist: Was ist Volkstum? Was ist dieses unser merkwürdiges Volkstum, das weder lebt noch uns sterben läßt? Worin liegt seine Kraft? Ein Land haben wir doch nicht. Und die Sprache? Wir haben doch nicht eine lebende nationale Sprache, dagegen haben wir mehrere nicht nationale Sprachen. Die Religion? Aber die Religion schwindet immer mehr — und was werden die sagen, welche nicht religiös sind? Was ist also jenes sonderbare, hartnäckige Ding, das man nicht greifen kann, das nicht sterben will und nicht sterben läßt?

Ich glaube, daß ein jüdischer Mensch, wenn es ihm nur gelingt, einen Augenblick ganz er selbst zu sein, frei von jedem fremden Einfluß, sich nicht schämen und es leicht über sich bringen wird zu gestehen, daß in ihm etwas Besonderes, Eigenes lebt, das um seine Sonderexistenz kämpft und einen Weg sucht, sich in eigener Gestalt zu offenbaren.

Das ist unsere nationale Wesenheit — jenes kosmische Moment, von dem oben in Verbindung mit dem historischen Moment die Rede war —, die eine Hauptwurzel des individuellen Ich in jedem von uns ist. Die nationale Wesenheit ist gleichsam eine besondere Melodie, entstanden aus der Vereinigung der seelischen (und auch der leiblichen) Kräfte des Menschen, in welcher jeder einzelne Volksangehörige seinen besonderen, persönlichen seelischen Stil findet. Das nationale Ich ist gleichsam die vereinigte, zur Einheit verschmolzene Stimme eines Sängerchors, innerhalb dessen jede einzelne Stimme zwar einen selbständigen Wert hat, auf den es ankommt, bei dem jedoch eine Gesamtwirkung auch nur dadurch zustande kommt, daß jede Stimme ihre selbständige Bedeutung hat. So steigt der Wert einer jeden Stimme in dem Maße, als ihre Vereinigung mit den übrigen Stimmen wohl gelingt.

Das kosmische Moment innerhalb der nationalen Wesenheit ist es, das uns in den Ländern der Zerstreuung fehlt, und das suchen wir in Erez Israel. In den Ländern der Zerstreuung ist in uns nur das historische Moment wirksam, welches das kosmische gleichsam in versteinerter Form in sich einschließt. Dieses historische Moment ist es, das uns erhält und uns nicht sterben läßt; doch Leben kann es uns auch nicht verleihen. Dort, in den Ländern der Zerstreuung, entbehren wir notwendig des nationalen Lebens und Schaffens. Wir sind Parasiten am Stoff und vielleicht noch mehr am Geist. Dort ist unsere nationale Wesenheit (es kann nicht anders sein) eingeschränkt, völlig zusammengeschrumpft; da sie nicht unmittelbar aus ihrem Lebensquell trinken kann, muß sie aus unserer Vergangenheit schöpfen und immer mehr und mehr verdorren oder aus dem Lebensquell anderer und so durch den fremden Geist ihr Gepräge verlieren und in ihm aufgehen. Dort neigt das, was an uns seelisch jung ist, was zum Leben erwacht und im Leben einen Inhalt sucht, zwangsläufig eher zum Sozialismus, der überhaupt kein kosmisches Element enthält, als zum Nationalismus. Daraus erklärt sich das scheinbar verwunderliche Schauspiel, daß der Sozialismus, der aus dem Leben anderer erwachsen ist, unverhältnismäßig mehr unter uns verbreitet ist, unter uns begeistertere Anhänger und, was das Wesentliche ist, der Nationalismus leidenschaftlichere Gegner hat als unter den Völkern, deren Leben die sozialistische Bewegung hervorgebracht hat und in deren Mitte sie jedenfalls eher natürlichen Boden findet als bei uns. Wie weit es bei uns mit der leidenschaftlichen Parteinahme für den Sozialismus gegen den Nationalismus gediehen ist und zu welchem Absurdum sich diese Leidenschaft gesteigert hat, haben wir vor einigen Jahren gesehen, als wir junge Menschen trafen, Zionisten, die in Erez Israel arbeiteten und sich mit aller Macht, mit aller Kraft ihrer Dialektik dem Nationalismus widersetzten. Bis das Leben der anderen, jener Völker, die ein wirkliches Leben führen, den obersten Gerichtshof des Sozialismus nötigte, diesem Unglücks wurm, dem Nationalismus, ein Daseinsrecht einzuräumen.

Leben suchen wir, nicht weniger und nicht mehr; ein Leben, das uns gehört, aus dem Quell unseres Lebens, aus der Natur unseres Landes strömend, Speise für Körper und Geist, vitale Kraft und göttliche Fülle aus diesem lebendigen Quell. Wir kommen in unser Land, um in unserem natürlichen Boden, aus dem wir gerissen worden sind, Keime zu treiben, mit unseren Wurzeln die Nahrung zu saugen, die im Erdreich ist, und mit unseren Blättern die Luft zu atmen und die Schöpferkraft, die in den Strahlen des Lichtes webt. Aber wenn die anderen

Völker, die auf ihrem Boden leben, leben können wie immer — wir, die wir von unseren Wurzeln losgerissen wurden, müssen den Boden erkennen und bereiten, in dem wir keimen wollen, die Bedingungen des Klimas erkennen und verstehen, in dem wir wachsen, blühen und Frucht tragen wollen. Wir, die wir von der Natur losgerissen sind, die wir schon den Duft natürlichen Lebens vergessen haben, sind, wenn wir nach Leben verlangen, gezwungen, ein neues Verhältnis zur Natur zu suchen, eine neue Rechnung mit ihr zu beginnen. Wir, die wir die Ersten gewesen sind, die gesagt haben: "Es soll ein jedes Volk im Namen seines Gottes gehen" und: "Nicht soll ein Stamm gegen den anderen das Schwert erheben" und die wir aufgehört haben, ein Volk zu sein — wenn wir daran gehen, von neuem unseren Pfad zu bahnen mitten im dahinflutenden Leben anderer Völker, haben wir die Pflicht, den richtigen Pfad zu finden, ein neues Volk zu schaffen, ein Mensch-Volk, das ein menschliches, brüderliches Verhältnis zu den anderen Völkern hat, und ein edles, lebendiges und schöpferisches Verhältnis zur Natur und allem, was in ihr ist. Die ganze Kraft unserer Geschichte, das ganze Leid, das in unserer nationalen Seele versteinert ist, treibt uns gleichsam nach dieser Seite; der ganze bodenlose Abgrund, der in unserer Seele entstand, als sie von der Natur weggerissen wurde, drängt gleichsam dahin. Den letzten, entscheidenden Antrieb gibt uns der Augenblick, in dem wir leben, in dem der furchtbare Druck heimlicher Knechtschaft zu spüren ist und die mächtigen Zuckungen der menschlichen Freiheit, die unter Wehen geboren wird; in dem man fühlt, daß ein Neues sich regt in der großen Welt und auch in unserer Welt, die neu erstehen wollen; und es ist, als ob es zu uns spräche: ihr müßt die Ersten sein.

Auch das braucht nicht bewiesen zu werden, auch das lebt in unserem Herzen und in unserer Seele; wir selbst haben unmittelbar damit begonnen. Wir leben doch inmitten der Natur, arbeiten in ihr, suchen neue Formen der Arbeit, des Lebens, suchen Wege, unser ganzes nationales Leben zu erneuern. Was haben wir also dabei zu tun?  Nicht   aus Büchern und abstrakten Forschungen, nicht durch weise Pläne und die Macht der hohen Politik werden wir ja lernen, uns der Natur zu nähern, unser Verhältnis zum Leben und zur Welt zu erneuern, unser Volk zu  einem neuen Wesen umzuschaffen und unseren nationalen Bau zu errichten — das Leben wird uns der Natur nahebringen und uns lehren, wird  uns erneuern und uns unterweisen, wie wir unser Haus bauen sollen. Haben wir doch den ersten Schritt gemacht; wir müssen, möchte man glauben, nur die Augen aufmachen und der Weg zum zweiten Schritt liegt offen und klar vor uns. Aber die Verwirrung und Schwäche liegt darin, daß unsere Augen nicht auf die Dinge vor uns gerichtet sind, und unsere Seele nicht auf das Leben hier, wo wir leben und arbeiten. Unsere Augen wenden sich nach allen Seiten, irren umher über  die ganze Erde; unser Hirn ist voll von Weltanschauungen  (meistens aus Broschüren), die wie festgenagelt sind oder zwischen Himmel und  Erde  schweben, oder einfach  auf   der Gasse aufgelesenen Meinungen und hypnotischen Phantasiegebilden; in unserer Seele ist ein Chaos von Hingabe, Streben, Forderung nach einer Schablone und  der Ablehnung alles dessen nach einer anderen Schablone, und zugleich— Erschütterung, Sehnsucht, Sturm, ein krankhafter Geistesflug um Gottes willen, um geistiger Größe, seelischer Weite willen. Und all das kommt aus den Welten anderer, aus dem, was im Leben anderer braust und strömt. Wie kann uns da noch jenes Winzige bereichern, das wir hier tun und leben? Gebt uns Weite, Raum, die Flügel auszubreiten, den Geist des Heldentums zu nähren, Raum für Hingabe der Seele, für weite nationale und menschheitliche Arbeit usw. usw. nach dem bekannten Schema. Wir gleichen einem arbeitenden Menschen, dessen ganzer Leib von seiner Arbeit abgewandt wäre und der nur seine Hände nach hinten, zu seiner Arbeit hinstreckte. Wie viele von uns haben sich denn ernstlich der Natur, dem Lande und seinen Bewohnern genähert? Wie viele haben ein wirkliches Verhältnis (außer dem eines Besitzers und eines Arbeiters) zum Felde, das wir bearbeiten, zur Pflanze, die wir zum Wachsen bringen, zur Pflanze überhaupt, zur ganzen Natur, die uns kontrolliert, solange wir zugegen sind, und die unserer Arbeit hilft, wenn wir nicht dabei sind, zu den Haustieren, die wir arbeiten lassen, und zu allem Lebendigen, das um uns ist? Wie viele von uns haben sich dafür interessiert, aus der Nähe unsere Brüder kennenzulernen, die in den Städten wohnen, die jungen und die alten, in ihr Leben einzudringen und unter ihnen nationale und menschliche Arbeit zu tun? Und selbst in den Kolonien, in denen wir arbeiten oder gearbeitet haben, — wie viele von uns haben dort ganz schlicht, ohne jeden Parteigeist versucht, zu den Bewohnern ein befriedigendes Verhältnis herzustellen, und haben alles Nötige getan, um jeden, den sie gewinnen konnten, unserem Gedanken näherzubringen? Und wie ist unser Verhältnis zu den Arabern, die schließlich, ob wir nun wollen oder nicht, unsere Partner sind im politischen und gesellschaftlichen Leben? Was wissen wir von ihnen? Und wollen wir mehr von ihnen wissen als die Antisemiten von uns wissen? Was haben wir getan, um in unserem eigenen Kreis einander näherzukommen, damit es unter uns keine Cliquen gebe, damit wir alle ein Bund von Menschen seien, die eine Arbeit tun? Haben wir darüber nachgedacht, haben wir davon auch nur hören wollen? Und jetzt, da die Politik kommt und ebenfalls Vereinigung verlangt, sind wir ganz bereit, uns zu vereinigen — aber auf welcher Basis? Gott behüte, nicht einfach auf der nationalen Basis, auf der Basis einer Politik für das Volksganze, sondern auf der sozialen, richtiger sozialistischen Basis oder, wie unsere Theoretiker wollen, auf der nationalen und sozialen Basis zugleich — eine Vermengung von Dingen, die nicht zusammen passen, deren Paarung, wie wir sahen, ganz und gar nicht gelingt, ein Gemisch, das keinen Lebensgeist enthält und enthalten kann, dafür jedoch etwas Mechanisches mit all dem, was im Parteiwesen steckt.

Hier fehlen nicht die Beweise und nicht die Arbeit fehlt, nicht die Weite, um die Flügel auszubreiten, und nicht Nahrung für den Geist des Heldentums; hier fehlt das bloße Verständnis und, was das Wesentlichste ist, einfaches, unmittelbares Gefühl für das, was vor uns liegt; die Erkenntnis des Wertes unserer Arbeit und unseres Lebens hier und die Erkenntnis unserer Pflicht der Arbeit und dem Leben gegenüber.

Wir mühen uns mit einer Schöpfung, die in der ganzen menschlichen Geschichte nicht ihresgleichen hat — damit, ein Volk zu neuem Leben zu erwecken, das von seiner Wurzel losgerissen und in alle Winde verstreut wurde, ein Volk, das halbtot ist; — und Schöpfung fordert die volle Konzentration des Schöpfers auf sein Werk. Der Mittelpunkt unserer nationalen Arbeit, der Mittelpunkt des Volkes ist hier in Erez Israel, mögen wir auch ein kleines Häuflein sein; denn hier ist der Quell unseres Lebens. Hier in diesem zentralen Punkt ist die Kraft des Lebens und des Wachstums unserer Arbeit verborgen. Hier keimt, wächst und erhebt sich eine nationale und menschheitliche Arbeit, die weit ist über alles Maß; sie wächst und dehnt sich in die Weite, Tiefe und Höhe, aus sich selbst heraus, gleich einem Baum, der aus seinem Kern und nicht von außen wächst und groß wird. Hier ist die Kraft, welche die in alle Länder versprengten Atome des Volkes anzieht, daß sie sich zu einem lebenden Leib vereinigen. Und je mehr Leben in diesem wachsenden Kern sein wird, desto gewaltiger wird die Kraft seiner Anziehung sein. Es ist daher unsere Pflicht, unsere Kräfte, unser ganzes Denken, all unseren Geist auf diesen zentralen Punkt zu konzentrieren. Wir dürfen unsere Seele nicht einer Politik hingeben, die all unsere höchsten Ideale aufhebt: damit verleugnen wir unbewußt den Kern unseres Wesens, das wir beleben wollen. Ebensowenig dürfen wir uns mit dem Weltproletariat verbinden, mit der Internationale, deren Arbeit und Methode im Wesen unserer Arbeit und Methode widerspricht, wie schon dargelegt wurde: damit nehmen wir unserer Arbeit die Seele und zerreißen sie in zwei Fetzen, die nicht wieder ein Ganzes werden können; und wieder ist es, als wenn wir nach außen gekehrt wären und mit Händen arbeiteten, die nach hinten ausgestreckt sind, um nicht zu sagen, daß wir mit unserer Rechten zerstören, was wir mit unserer Linken bauen. Sogar mit unseren jüdischen Arbeitern dürfen wir uns, so lange sie im Ausland sind, nicht in ihrer Eigenschaft als Arbeiter verbinden. Unsere Arbeiter im Ausland sind unsere Brüder und Volksgenossen so wie alle übrigen Juden dort; wir können uns mit ihnen so wie mit den Juden der übrigen Klassen vereinigen, die unserem Grundstreben auf nationaler Basis treu sind, nicht weniger und nicht mehr, so sehr wir auch die Arbeit und den Arbeiter im allgemeinen schätzen. Hier gibt es etwas, was gestaltend auf uns wirken kann — eben die Natur unseres Landes, das Leben inmitten der Natur unseres Landes, die schöpferische Arbeit, mit der wir uns mühen; aber von außen können wir keinen entscheidenden Einfluß empfangen. Wir streben danach, in Erez Israel ein neues jüdisches Volk zu schaffen und nicht eine Kolonie des Volkes, das in der Zerstreuung lebt, nicht die Fortsetzung der Ga-luth in neuer Form. Wir streben danach, daß Erez Israel die Metropole werde und die Gemeinschaften in den übrigen Ländern ihre Kolonien und nicht umgekehrt. Wir streben nach einer Erneuerung unserer nationalen Wesenheit, nach einer Offenbarung unserer höheren Wesenheit; aber um dieses Zieles willen müssen wir unser ganzes Selbst hergeben.

Ob unser Streben in der Form, wie sie hier zum Ausdruck gebracht wurde, eine Basis hat, wird das Leben lehren. Es wird die Sache von beiden Seiten zugleich klären: ob das Streben selbst, ein neues Verhältnis zum Leben und zur Welt zu finden und ein Mensch-Volk zu schaffen, überhaupt Realität hat, und ob wir befähigt sind, dieses Streben in Wirklichkeit umzusetzen. In jedem Fall müssen wir, so meine ich, das Unsere tun.

II.

All das hier Gesagte soll unser Grundstreben erklären und aus ihm heraus unser Verhältnis zum Mittelpunkt unseres Strebens und unserer Arbeit für seine Verwirklichung, zu Erez Israel und seinem Jischuw, und unsere Pflicht gegenüber diesem Mittelpunkt.

Nun sind die Bedingungen für die Verwirklichung unseres Strebens darzulegen und aus ihnen heraus das Verhältnis zur Peripherie unserer Arbeit: zu unseren Nachbarn, den Arabern, zu unserem Volk in der Galuth, zum herrschenden Volk, zur Internationale usw.

Die hauptsächlichsten Bedingungen für die Verwirklichung unseres Strebens sind natürlich das Land und die Arbeit. Aber wenn wir uns bis jetzt, bis vor dem Kriege, durch die Kraft unserer Arbeit nur das Recht auf den Boden zu erwerben hatten, so haben wir jetzt, bei dem neuen Stand der Dinge, überdies uns selbst (und auch den Anderen) unser nationales Recht auf das Land und unsere politische Stellung als Volk des Landes klarzumachen.

Man gebraucht jetzt die Phrase, daß das Recht auf ein Land nur mit Blut erkauft wird. Das ist einer der Sophismen, die sich bei allen Völkern, denen das überkommene Recht gestattete, Raubtiere zu sein, Bürgerrecht erworben haben, eine der konventionellen Lügen. Mit Feuer und Schwert raubt man dem Volk des Landes die Freiheit und knechtet es mitsamt seinem Lande für einige Zeit, solange die Kraft des Unterdrückers nicht gebrochen ist; aber in der Tat bleibt das Land immer in den Händen derer, die auf ihm wohnen und es bearbeiten. Die Römer z. B. haben mit Feuer und Schwert viele Länder erobert. Aber sie beherrschten sie nur so lange, als sie die Kraft hatten, die Zügel festzuhalten; von dem Augenblicke an, da die Zügel ihren Händen entglitten, blieben die Länder wieder ihren Bewohnern, die sie bearbeiteten. Ein Land wird dadurch erworben, daß man in ihm lebt, arbeitet und schafft. So werden auch wir uns unser Recht auf unser Land erwerben oder zurückgewinnen. Wir haben ein historisches Anrecht auf das Land, und dieses Anrecht ist uns geblieben, solange nicht die Kraft fremden Lebens und Schaffens es sich völlig zu eigen gemacht hat. Unser Land, das früher ein Land war, wo Milch und Honig floß, ganz gewiß geeignet für eine hohe Kultur, blieb wüst, arm und niedrig wie kein anderes Kulturland und relativ unbewohnt. Darin liegt eine Bekräftigung unseres Anrechts auf das Land, ein Hinweis darauf, daß das Land auf uns wartet. Durch Leben, Arbeit und Schaffen werden wir uns unser historisches Recht auf das Land erwerben oder es bestätigen. Darin liegt auch das Kriterium für unser Verhältnis zu den Arabern. Die Araber wohnen auf dem Boden und wir können ihnen ihr Recht nicht mindern und sie nicht verdrängen. Aber auch sie können unser Recht auf den Boden nicht schmälern, auf dem wir wohnen und den wir bearbeiten; zwar sind wir die Minderheit, aber der Boden, den wir durch unsere eigene Kraft erkauft haben, gehört uns, und keine Majorität in der Welt kann unser Recht auf ihn verkürzen, uns aus den Händen nehmen, was wir mit unserer Ar-beits- und Schaffenskraft erworben haben. Die Frage ist die der Ausbreitung: wer hat mehr Recht, sich auf jenem Boden auszubreiten, der noch nicht durch schöpferische Arbeit erworben wurde? Hier kommt es nicht auf die Quantität an, sondern auf die Qualität: auf die Kraft des Lebens und des Wachstums — ähnlich den Vorgängen im Pflanzenreich —, die Kraft der schöpferischen Arbeit und der seelischen Hingabe. Wer mehr arbeiten, mehr schaffen, mehr seine Seele hingeben wird, der wird sich mehr moralisches Recht und mehr vitale Macht über den Boden erkaufen. Hier ist ein friedlicher Wettstreit. Das Recht auf diesen friedlichen Wettstreit verleiht uns insbesondere unser historischer Anspruch auf das Land. Und darin kann sich das ganze jüdische Volk in allen Ländern seiner Zerstreuung mit uns vereinigen. Dieses Recht auf friedlichen Wettstreit, auf Ausbreitung im Lande ist nicht nur ein Recht des kleinen Häufleins, das hier wohnt, sondern das Recht des Volkes von zwölf Millionen.

Hier muß auf einen scheinbar gerechten Einwand hingewiesen werden, der auch in unserer Mitte mit frommer Miene erhoben wird. Man sagt: wenn wir uns hier ansiedeln wollen, berauben wir die Araber, die in Wirklichkeit Herren des Landes sind, das sie nicht aus unserer Hand erworben haben. Aber was bedeutet dies: Herren des Landes? Wenn man als Herren des Landes das Volk betrachten kann, in dessen Händen die politische Herrschaft liegt, so sind die Araber seit langem nicht Herren des Landes; denn früher war das Land in den Händen der Türken und jetzt ist es in den Händen der Engländer. Es ergibt sich, daß außer dem Recht der Siedlung und der Arbeit auch die Araber nur ein historisches Anrecht auf das Land haben, ganz so wie wir; nur daß unser historisches Recht ohne Zweifel größer ist. Es ergibt sich, daß auch wir das Land nicht aus ihren Händen nehmen. Und was das Recht der Siedlung angeht, nämlich, daß sie im Lande wohnen und es bearbeiten, — auch wir wohnen im Lande und bearbeiten es. Der Unterschied zwischen uns und den Arabern ist hier also ein quantitativer und nicht ein qualitativer, nicht ein Unterschied in der Kraft dieses Rechtes.

Aber demgegenüber müssen wir uns in unserem Verhältnis zu den Arabern, bei der Erwerbung von Ländereien und ähnlichem sehr in Acht nehmen, daß wir ihre Menschenrechte nicht im geringsten antasten, die wirklich Arbeitenden nicht von ihrem Boden vertreiben usw. Besser für uns, daß der Boden uns zwei- oder dreimal soviel kostet als er wert ist, besser, daß wir die wirklichen Besitzer des Bodens, jene, die auf ihm wohnen und ihn bearbeiten — wenn wir ihren Boden besonders dringend brauchen — in jeglicher Weise versöhnen, mag es noch so schwierig sein und noch so viel Mühe kosten, etwa dadurch, daß wir ihnen an einem anderen Ort Boden verschaffen u. dgl., als daß wir irgendwie ihr Recht verletzen. Für uns hat der Preis des Bodens kein Maß: koste er, was er wolle, er ist es uns wert. Überhaupt haben wir die Pflicht, menschliche Beziehungen zu den Arabern herzustellen, und unser Verhalten zu ihnen nicht nur nach ihren negativen Wesensseiten einzurichten, wie es die Antisemiten uns gegenüber tun. Es ist natürlich hier nicht der Ort und ich habe nicht die Möglichkeit, zu erklären, wie die Sache zu regeln ist; ich hebe nur hervor, daß sie einer Regelung bedarf, viel Überlegung und Mühe erfordert. Vielleicht wäre für diesen Zweck eine besondere Kommission aus geeigneten Menschen zu gründen, deren Aufgabe es wäre, die sachlichen Differenzen zwischen Juden und Arabern beizulegen und die gegenseitigen Beziehungen zu regeln. Unsere Beziehungen zu ihnen müssen immer, in jedem Falle, menschlich sein, auch wenn das Verhalten von der anderen Seite nicht besonders wünschenswerte Formen annimmt. Sie sollen von uns lernen und nicht wir von ihnen. Es wäre lohnender, daß wir uns mit all dem in unseren Versammlungen befassen statt mit der Politik; das geht uns unmittelbar an, jedenfalls nicht weniger als die Internationale und dergleichen. Hier haben wir es einerseits mit ganz realen Dingen, politischen und gesellschaftlichen, zu tun, andererseits ist hier vor uns eine große Maxime, mehr als das, ein großes Moment des Lebens; hier steht vor uns die erste Aufgabe, die erste Probe eines unmittelbaren brüderlichen Zusammenlebens von Volk zu Volk. Aber auch hier kommt es wieder vor allem auf das Leben an und auf uns selbst, auf jeden Einzelnen von uns. Wenn wir trachten werden, menschlicher, lebendiger zu sein, werden wir das richtige Verhältnis zum Menschen und zu den Völkern im allgemeinen, zu den Arabern im besonderen finden.

All das gilt von der einen Seite, soweit unser politischer Anspruch, vor allem der offizielle, der Rechtsanspruch auf das Land in Betracht kommt. Aber auf das Land als Basis für Leben und Schaffen, wie wir es anstreben, gibt es keinen anderen Besitztitel als den kraft der Arbeit erworbenen. (Natürlich gibt es im nationalen Leben Raum auch für andere als körperliche Arbeiten; doch das Leben wird klären, welche von ihnen nötig sind und in welchem Maße, wie ihre Form und die Bedingungen ihres Wirkens sein werden.) Nur daß jetzt besonders klar geworden ist, welche Bedeutung die Arbeit als politischer Besitztitel hat, vor allem als moralisches Recht; aber auch faktisch haben wir ja gesehen, daß das Land in der Tat immer politischer Besitz jener ist, die es bearbeiten, selbst dann, wenn das Volk der politischen Freiheit beraubt ist. Von nun an existiert für uns ein objektiver, realer, politischer "kategorischer Imperativ", zu arbeiten: in dem Maße, als wir arbeiten werden, wird das Land uns gehören; und wenn wir nicht arbeiten werden, dann werden alle "Nationalen Heimstätten" und alles "Feuer und Schwert" nichts nützen.

Hier stellen Land und Arbeit, die beiden wesentlichsten Voraussetzungen für die Verwirklichung unseres Strebens, zwei Grundforderungen an uns, die ihnen parallel laufen.

Das erste Fundament für nationale Schöpfung, wie wir sie anstreben, ist der Boden; daraus entspringt die Forderung, daß der Boden national sei, und nicht nur der Boden, sondern auch alle großen Arbeitsmittel: die Fabriken, die Eisenbahnen usw. müssen national sein. Das ist die Grundforderung, auf der wir mit aller Kraft und mit aller Strenge beharren müssen, ohne Verzicht und Kompromiß. Das muß auch in der allgemeinen Organisation aller Juden Erez Israels das Grundprinzip sein. Dem werden sich auch die Orthodoxen nicht widersetzen können, denn: "Nicht werde das Land für immer verkauft, denn Mein ist das Land", entscheidet auch die Thora; man muß sich nur wundern, daß man in verschiedenen Versammlungen, selbst in Versammlungen der Arbeiter von  dieser Frage so nebenher spricht inmitten der "politischen Programme" u. dgl., während ea der zentrale Punkt ist, das wichtigste aller Prinzipien. Wir müssen uns mit aller Macht dem privaten Besitz an Boden und Produktionsmitteln in Erez Israel widersetzen. Zu diesem Zweck (und natürlich nur zu diesem Zweck) verbünden wir uns mit jedem, der im Lande und im Ausland unsere Forderung unterstützt, mit Arbeitern und Nichtarbeitern, mit "Poale Zion" und "Zeire Zion", mit verschiedenen Organisationen, selbst rechtsstehenden, selbst mit gewöhnlichen Bürgersleuten, wenn sie sich nur für diese Forderung einsetzen. Selbst wenn man am Siege dieser Forderung zweifelt — für sie mit aller Macht zu kämpfen sind wir auf jeden Fall verpflichtet.

Das zweite Fundament der schöpferischen Arbeit sind natürlich die Arbeitenden. Aber die Auffassung des Verhältnisses zwischen der Siedlungsarbeit und dem Arbeitenden muß sich von Grund auf ändern. Der Arbeiter wird heute gegenüber der Siedlungsarbeit als Nebensache angesehen; so sehen ihn jene, die für den Jischuw werben, und so, vielleicht in etwas anderer Form, auch die meisten Arbeiter und gerade die trefflichsten. Man fühlt sich verpflichtet, das Leben, die Gesundheit und alle Annehmlichkeit des Lebens beim Arbeiter gering zu achten. Nahrung, Ruhe, Wohnung — alle Bedürfnisse des Arbeitenden, die leiblichen, seelischen und kulturellen, werden als Nebensache angesehen. Hauptsache ist, daß die Arbeit gut gelinge, daß die Wirtschaft prosperiere. Man sorgt für ein schönes Wachstum der Pflanzen, der Haustiere und des Geflügels, aber nicht für das Gedeihen des Menschen, des Arbeiters. Hier liegen viele der Ursachen für Krankheiten, für ein apathisches Verhältnis zum Leben; daraus entsteht dann eine Arbeit, die sich nach dem Gesetz der Trägheit vollzieht; man vernachlässigt, was nicht zur Arbeitspflicht gehört, mißachtet geregelte Lektüre, die Pflege der Sprache und die Aneignung von Kenntnissen, welche man braucht oder welche den Gesichtskreis erweitern, mißachtet die Selbsterziehung. Schließlich führt dies zur Oberflächlichkeit der Empfindung und zum Niedergang. Andererseits erzeugt es in den Wenigen, die die Möglichkeit haben, ein normaleres Leben zu führen, eine gewisse seelische Abstumpfung, ein Verhältnis der Geringschätzung denen gegenüber, deren schwere Lage sie immer tiefer sinken läßt; es raubt ihnen den starken Willen und das tiefe innere Verlangen, die Lage ihrer Brüder zu verbessern und ihren Geist zu heben. Man muß erwägen, daß nicht so bald der erwünschte Zustand erreicht werden wird, in dem das Leben auf der Arbeit und dem Arbeitenden basiert; und inzwischen geht das Leben dieser Generation so dahin, wie wir es nicht wünschen können. Aber es muß überhaupt ein lebendiges Verhältnis zur Arbeit entstehen, wo die Arbeit dem Leben und das Leben der Arbeit Farbe und Duft gibt. Wir gehen daran, ein Volk zu neuem Leben zu wecken, und das bedeutet — einen Menschen großzuziehen. Der Arbeitende soll schöne Arbeit leisten; doch die Arbeit ist nur dann schön, wenn sie den Menschen nicht weniger schön gestaltet als das Erdreich. Eine schöne Wirtschaft ist die, die nicht nur schönen Geldgewinn abwirft, sondern menschlichen Gewinn; es ist dies nicht eine bloße Redensart. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, daß

mitunter die Wirtschaft (einer Kwuzah) die Arbeitenden erzieht oder imstande ist, sie zu erziehen. Einen Arbeiter, den ich anderswo in gar nicht erfreulichem Zustande gesehen hatte, sah ich in der Kwuzah (und ich sah ihn bei Tag und bei Nacht, allein und in Gemeinschaft, dort, wo einer gesehen wird und wo er nicht gesehen wird, und ich sah ihn nicht nur einmal) in anderer, viel menschlicherer Gestalt. Aber das war in der Periode der Schöpfung der Kwuzoth. Das war einmal, und ist vorbei, doch vielleicht nicht ganz. Natürlich darf man die Güte der Arbeit und das Gedeihen der Wirtschaft nicht gering achten; denn wenn das Eine nicht da ist, fehlt auch das Andere, eines hängt vom andern ab; aber es muß eine rechte Übereinstimmung sein.

Diese Prinzipien: die Arbeit (in all ihren Formen), die Nationalisierung des Bodens mit allem, was dazu gehört und die Arbeitenden oder der Mensch im Arbeiter — das sind die Grundlagen unserer nationalen Arbeit. Wer diese Forderungen anerkennt, geht mit uns. Ich glaube, daß der größte Teil des Volkes sie vertreten wird; wir müssen uns bemühen, daß das ganze Volk sich sie zu eigen macht. Das sind die Bedingungen für eine vom Leben erfüllte Arbeit des Volkes, für die Kraft des Volkes und für sein Leben. Wer diese Prinzipien nicht anerkennt, ist ein Parasit an Leib und Seele des Volkes und das Volk muß gegen ihn kämpfen. So ist unser Verhältnis zum Volke. Unsere Basis ist der Nationalismus und nicht der Sozialismus. Alle Söhne des Volkes sind unsere Brüder: entweder würdige Brüder, die von der Arbeit ihrer Hand (oder ihres Geistes) leben, dann stehen wir zu ihnen; oder Parasiten, dann bekämpfen wir sie von innen zusammen mit dem ganzen Volke und werden uns nicht mit anderen verbünden, um sie von außen zu bekämpfen.

So ist unser Verhältnis zum Volk im allgemeinen; und unser Verhältnis als Palästinenser zu dem Volke in der Diaspora ist, wie oben angedeutet, ein Verhältnis der Bewohner des Zentrums zu den Bewohnern der Peripherie. Das Zentrum muß von jetzt ab in jeder Hinsicht Erez Israel sein. Eines müssen wir immer im Auge behalten: wir sind in Wirklichkeit, nach unserer Lage und nach der ganzen Situation unseres Lebens, das jetzt erst geschaffen werden will, keine soziale oder politische Partei — wir sind, wenn der Ausdruck nicht allzu ruhmredig klingt, der Vortrupp, der dem Volk in seiner sozialen, richtiger, in seiner nationalmenschlichen Arbeit vorangeht; es besteht für uns keine Notwendigkeit, uns enger mit Organisationen von außen zu verbinden; vielmehr wird eine solche Verbindung uns nur schaden. Unsere Basis ist die Arbeit, die Arbeit des schöpferischen Lebens, lebendige Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk, nicht mechanische Beziehungen von Parteien und Organisationen. Soweit der Kampf notwendig sein wird, werden wir mit dem Parasitentum aller Art kämpfen — sogar mit den Parasiten unter den Arbeitern — und werden nicht unsere ganze Sache auf die Lehre des Klassenkampfes stellen.

Die Schaffung der Beziehungen zwischen uns und dem herrschenden Volk muß in den Händen der zionistischen Leitung liegen. Eines aber fordert Aufmerksamkeit, Überlegung und Vorsicht von uns allen: wird uns nur eine gewisse nationale Autonomie oder volle national-menschliche Freiheit gegeben werden? Die stille, kulturelle, gesittete, taktische Unterjochung ist uns, unserer vollen geistigen, national-menschlichen Freiheit gefährlich, vielleicht gefährlicher als die rohe Versklavung — gerade weil sie nicht so fühlbar ist und weil viele dazu neigen, sie willig und gern hinzunehmen. Besonders müssen wir uns vor dem Einfluß  des Kommerzgeistes hüten — des weiten, mächtigen, aufgeklärten, der durch seine Kraft Bewunderung erregt — wir, die wir an der Krankheit   des   Kommerzes  und   des  Parasitentums  so grauenhaft leiden und die wir die Heilung von diesem Parasitentum in Erez Israel suchen wollen. Sieht man ja schon die Anzeichen dieses Einflusses. Überhaupt: wenn wir die Sache mit reinem, unbestochenen Auge betrachten, so ist leicht zu sehen, daß wir uns nicht gerade in einem  erfreulichen  Zustand  befinden,  weder  was   das Gute und Schöne, noch was die hohen menschheitlichen Bestrebungen   betrifft.   All   das   läßt   Raum   für   den Gedanken, daß wir von nun an eines gewaltigen Heldentums bedürfen, um vor dem Einfluß des vielen Guten bestehen zu können, eines Heldentums, nicht weniger groß, ja vielleicht noch größer, als um der Fülle des Bösen Widerstand zu leisten. Wissen wir doch, wie hartnäckig unser Volk immer auf seiner Wesenheit besteht, daß es um eines Schuhriemens willen sein Leben opfert, wenn man es mit allen Arten von Höllenqualen peinigt, und wie leicht und willig es  sich  seines Wesens entäußert, sich auflöst, sich preisgibt und sich assimiliert, wenn man ihm ein freundliches Gesicht zeigt und ihm nur eine Handbreit die Tür zur Sphäre der Bildung öffnet, besonders aber wenn man ihm tatsächlich etwas Gutes erweist. All das geht die geistigen Menschen unter uns an, die fühlenden und denkenden, besonders aber die, die sich mit Kulturarbeit befassen.

Aus all dem hier Gesagten kann man für die Kulturarbeit unter uns unmittelbare Folgerungen ziehen. Diese Arbeit — die Erziehung der Kleinen, die Erziehung der Großen und insbesondere die Selbsterziehung — muß auf folgenden drei Prinzipien beruhen:

1.  auf   der   lebendigen   Verbindung    der   nationalmenschlichen Kultur mit der Natur und der Arbeit. Die Kultur muß  aus  ihrer lebendigen  natürlichen  Quelle schöpfen — aus der Natur, der Arbeit in der Natur und der Arbeit überhaupt.

2.  auf der völligen Freiheit unserer nationalen Wesenheit, der Unabhängigkeit von jeglichem  Einfluß, der uns von außen versklavt, insbesondere von dem Einfluß des herrschenden Volkes, der den Geist versklavt.

3.  auf dem menschlichen Verhältnis zu den übrigen Völkern. Nicht nur zwischen Mensch und Mensch, Angehörigen  verschiedener Völker,  sondern   auch   zwischen Volk und Volk als solchen muß ein menschliches Verhältnis bestehen, ein Verhältnis  des  Rechtes  und  der Brüderlichkeit.

Gegen diese drei Grundprinzipien kann wohl von Seiten keiner Partei eine Gegnerschaft bestehen.

Die höchste Form der ganzen Erziehung ist natürlich die Selbsterziehung. In diesem Geist, im Geist des Strebens, die Selbsterziehung zu entwickeln, muß die gesamte Kulturarbeit geleistet werden.

in: A.D. Gordon: Erlösung durch Arbeit. Ausgewählte Aufsätze. Aus dem Hebräischen übersetzt und eingeleitet von Viktor Kellner, Jüdischer Verlag Berlin 1929, S. 91-124.

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