Nicht dies ist der Weg!
Von Achad haAm
Teil II
"Vertiefen wir uns nicht zu seht in theoretische und abstrakte
Auseinandersetzungen, lassen wir unsere Hände nicht im praktischen Tun
erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern wir die Liebe zu
unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande —, dann wird uns der Gott
Zions als Helfer erstehen."
Mit
diesen Worten schließt die ausführliche Kritik, die gegen meinen vorstehenden
Aufsatz im "Hameliz" erschien. Aus den zitierten Sätzen könnte der Leser
schließen, dass der Rat, den i c h den "Chowewe Zion" erteilte, in der
Aufforderung bestand, dass sie sich ausschließlich in theoretische
Auseinandersetzungen vertiefen und jedes praktische Tun aufgeben sollen, dass
sie das Ende drängen und die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach
unserm Vaterlande nicht steigern sollen. Wer aber meinen Aufsatz mit einiger
Aufmerksamkeit gelesen hat, dem brauche ich nicht zu sagen, dass, was die beiden
letzten Punkte betrifft, ich das genaue Gegenteil verlangt habe: dass wir das
Ende nicht drängen sollen, indem wir mit Hilfe der
Selbstliebe Dinge zu verwirklichen suchen, die noch nicht reif genug sind, um
durch den Gedanken selbst realisiert zu werden; dass, solange die "Zionsliebe"
kein lebendiges und durchdringendes Gefühl im Herzen des Volkes geworden
ist, die Basis mangelt, auf der sich das
Land aufbauen kann; dass wir daher mit dem Aufgebot aller Kräfte bemüht
sein müssen, die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande
soweit wie möglich zu steigern. Was jedoch die Aufforderung betrifft,
sich in theoretische Auseinandersetzungen zu vertiefen und das praktische Tun
aufzugeben, so mag wohl sein, dass ich mich etwas zu kurz gefasst habe und daher
missverstanden worden bin. Obgleich ich auch ausdrücklich hervorhob, dass wir
nur durch eine zielbewusste Tätigkeit und nicht durch bloße "schöne Redensarten"
hoffen dürfen, die Herzen zu gewinnen und die Antipathien zu überwinden, hätte
ich vielleicht doch noch hinzufügen sollen, was eigentlich sich vom selbst aus
dem Zusammenhang ergibt, dass solange der Gedanke selbst zu einer
Verwirklichung nicht reif ist, der Zweck unserer ganzen Tätigkeit, die jetzt in
den Händen einiger weniger Männer ruht, nur darin bestehen muss, die Herzen für
unsere Sache zu gewinnen. Nur von diesem Standpunkte aus müssen wir
alles, was innerhalb und außerhalb Palästinas geschieht, beurteilen, und
deswegen darf uns jetzt nicht die Quantität des Geleisteten, sondern die
Qualität desselben die Hauptsache sein. Unsere Tätigkeit darf sich daher nicht
auf die Ausgestaltung der Kolonien allein beschränken, sondern viele und
mannigfache Wege sind es, die zum Herzen des Volkes führen, und unsere Pflicht
ist es, sie alle zu betreten.
Es ist
daher ganz überflüssig, wenn mir mein Kritiker in einer langen
Auseinandersetzung zu beweisen sucht, dass die Vertreter des Gedankens nicht
berechtigt waren, "mit ihren praktischen Werken zu warten, bis sie der jüdischen
Volksmasse ein neues Herz schufen, das national empfinden könnte" Saß bei uns
Juden Theorie und Praxis durcheinander gehen und dass jeder Gedanke bei uns nach
Verwirklichung drängt Wie hätte also der Kolonisationsgedanke, die jüdische
Volksmasse ohne praktische Tat gewinnen können?" All dies hat mit meinen
Ausführungen nichts zu schaffen; denn auch ich hatte nicht an die Vertreter des
Gedanken, das Ansinnen gestellt "mit den praktische Werken zu warten",
sondern im Gegenteil alles Mögliche zu tun, um die nationale Liebe zum
Lande unserer Väter zu erwecken, und es unterliegt keinem Zweifel, dass die
Bearbeitung des heiligen Bodens durch die Vertreter des Gedankens selbst, die
mit dem Schweiß ihres Antlitzes und dem Blute ihres Herzens bestrebt waren, ein Muster für
andere zu werden, ebenfalls zu der "zielbewussten Tätigkeit" gehören würde,
die besonders geeignet wäre, auf das Volk zu wirken. Aber kann die Kolonisation
in ihrer gegenwärtigen
Gestalt zu dieser Tätigkeit gezählt werden? Mein Kritiker gibt ja selbst zu,
dass "die Vertreter des Gedankens nicht selbst das Werk schufen", sondern "zu
dem Volke in allen Tonarten redeten", und dass das, was sie
redeten, lediglich geeignet war, die Glückssucher und Abenteurer aufzustacheln,
nach Palästina auszuwandern und ihrerseits das Werk zu schaffen. Diese Leutchen
siedelten auch in der Tat über, und taten, was sie taten, und erlitten, was sie
erlitten, und das Kolonisationswerk wurde zu dem, was es jetzt ist ... Es ist
daher nicht verwunderlich, dass der Gedanke in seiner Wirkungskraft auf die
Volksseele noch um mehrere Grade zurückging, und dass kein jüdisches Herz mehr
warm wird beim Anblick der jüdischen Bauern, die die Pflugschar führen auf dem
Boden unserer Väter, wie in den Tagen Davids und Salomos. Denn sowohl die Arbeit
wie die Arbeiter sind nicht dazu geeignet, das Herz der Nation zu erwärmen,
welches vor Elend und Alter erstarrt ist.
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Allein
mein Kritiker geht mit mir auch im Wesen der Sache auseinander, und stellt die
Behauptung auf dass es uns mit allen möglichen Mitteln in der Welt nicht
gelingen wird, im Herzen unseres Volkes ein intensives Nationalgefühl zu
erzeugen. Denn seitdem wir als Nation existieren, "ist dem Geiste unseres Volkes
das allgemeine Nationalgefühl fremd geblieben, und die Einzelglieder des Volkes
sind mehr auf ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil bedacht".
Deswegen werden unsere Versuche, gegen den Geist des Volkes und seine natürliche
Veranlagung anzukämpfen, gänzlich fruchtlos bleiben, denn "gegen die natürliche
Veranlagung eines Volkes ist kein Kraut gewachsen". Aus diesem Grunde haben die
"Zionsfreunde" nicht aus freien Stücken, sondern, der Not gehorchend, den Weg
der Selbstliebe gewählt, weil es keinen anderen Weg gebe. "Die Sprache des
Nationalgefühls wird von der jüdischen Volksmasse nicht genügend verstanden;
bemühen wir uns daher, dass die realisierten Werke zu ihr in einer
verständlichen Sprache reden, in der Sprache des persönlichen Vorteils, dann
wird wenigstens, was das Gefühl nicht vermocht hat, die Spekulation
vollbringen."
Es ist
mir, offen gestanden, unerfindlich, wie "die Sprache des persönlichen Vorteils",
die Sprache des Kampfes ums Dasein, die sich jedem einzelnen Menschen gegenüber
einer besonderen Ausdrucksweise bedient, die ihm allein eigentümlich ist und
sich seiner Lage und seinen Wünschen anpasst, so dass der eine den andern nicht
versteht -, wie diese Sprache an Stelle des allgemeinen Gefühls treten kann, das
alle Herzen in einem Streben und einem Wunsch zusammenschließt?
Selbst diejenigen Denker, welche sich als Utilitaristen bekennen und in dem
Streben nach dem persönlichen Vorteil den Ursprung aller sittlichen und sozialen
Neigungen erblicken, wollen damit nur die erste Ursache dieser Neigungen und die
Art ihrer Entstehung und Entwicklung aufzeigen, um denjenigen entgegenzutreten,
die diesen Neigungen einen metaphysischen Ursprung zuschreiben wollen. Aber
darin sind alle einig, dass der persönliche Vorteil für sich allein keine
Grundlage abgeben kann für eine geordnete Gesellschaft oder für eine große
gemeinsame Arbeit.
Doch
lassen wir für einen Augenblick seinen Standpunkt gelten. Hören wir, was uns die
Sprache des persönlichen Vorteils in dieser Sache nach seiner eigenen
Darstellung sagt. "Dem Geiste unseres Volkes," sagt er, "ist das Nationalgefühl
fremd. Möge ihn daher die Kalkulation der Duname davon überzeugen, dass der
fleißige und friedliche Mensch im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, wenn
er körperliche Kraft und materielle Mittel besitzt." Er gibt also zu, dass nur
der Mensch, der materielle Mittel und zugleich körperliche Kraft besitzt, sowie
auch fleißig und friedlich ist, im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, d.
h. seinen persönlichen Vorteil. Doch abgesehen davon, dass es sehr schwer hält,
diese Bedingungen bei einem Juden, der materielle Mittel besitzt, zu finden —
bei einem Juden nämlich, der früher gewohnt war, sich von der Luft zu ernähren,
und in allem, was seinen Ehrgeiz betrifft, äußerst empfindsam ist —, wird auch
ein solcher Mensch im Heiligen Lande in Wirklichkeit nicht leicht finden können,
was er sucht. Denn nicht nur Brot für seinen Hunger und ein Kleid für seine
Blöße sucht der Besitzende, sondern auch alle Genüsse und Vergnügungen, an die
er früher gewohnt war. Würde er daher seinen persönlichen Vorteil befragen, so
würde ihm dieser sicher die Antwort geben, dass es töricht ist, sein Geld für
ein Stück Land in Palästina auszugeben, das im besten Falle harte Arbeit
verlangt, ohne auch nur die Hälfte seiner Ansprüche zu befriedigen. Dass dieses
Urteil richtig ist, bezeugt der Kritiker von selbst, indem er erzählt, dass "die
Bewegung sich damals (am Beginne der Kolonisation) hauptsächlich aus den
Mittellosen rekrutierte, die durch die Spenden der Reichen zu einer Existenz zu
gelangen hofften, während diese selbst sich fern hielten". "Im Winter des Jahres
1882 ging der erste Delegat nach Palästina, ausgestattet mit einer Vollmacht
vieler Bürger, um ein Stück Land in Palästina für sie zu kaufen. Der Delegat
erstand den Boden von Rischon l' Zion, doch seine Auftraggeber traten von ihrer
Absicht zurück." "Von denjenigen, die in der Kolonie Parzellen gekauft hatten,
siedelten nur die Mittellosen über, während die Wohlhabenden zu Hause blieben."
"Das Endresultat der ganzen Bewegung war, dass in Palästina, mit Ausnahme
einiger weniger, nur mittellose Proletarier geblieben sind." — Also hat uns die
Erfahrung gezeigt, dass diejenigen, die über materielle Mittel verfügen, sofern
sie keine andere Sprache als die des persönlichen Vorteils verstehen, nicht
geneigt sind, nach Palästina zu gehen, um dort zu finden, "was sie suchen"; denn
sie suchen mehr, als was sie, dort finden Können. Wen soll also die Kalkulation
der Duname überzeugen, und wen soll die Sprache des persönlichen Vorteils nach
Palästina locken, wenn derjenige, der auswandern kann, nicht will, und
derjenige, der es will, nicht kann?
Auf
meine Frage, die ich; in meinem ersten Artikel gestellt hatte, warum nämlich der
Gedanke im Volke an Sympathien verlor, erwidert der Kritiker seufzend: "Da sieht
man das ungeduldige Judenvolk. Mit dem Momente, da es merkte, dass die
Ausgestaltung der gegründeten Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert,
da wurde es sofort mutlos. Achtzehn Jahrhunderte hindurch geduldeten wir uns und
waren nicht im geringsten auf die Besiedlung des Landes und die Lösung der
Judennot bedacht; jetzt aber, da wir im Laufe der sechs Jahre die Kolonien nicht
ausgestalten konnten, wollen wir sofort die Flinte ins Korn werfen. Ist es kein
ungeduldiges Volk?" — Er übersieht aber, dass das, was er auf Rechnung der
Ungeduld setzt, in der Tat nur eine notwendige Folge seines Systems des
persönlichen Vorteils bildet. Achtzehn Jahrhunderte hindurch waren wir nicht auf
die Besiedlung des Landes bedacht, weil keiner von uns daraus einen persönlichen
Vorteil für sich erhoffte. In den letzten Jahren waren wir aber sehr wohl auf
die Besiedlung des Landes bedacht, weil durch die "Nachrichten und
Kalkulationen" in uns die Hoffnung auf einen persönlichen Vorteil erweckt wurde.
Jetzt aber, da wir uns überzeugt haben, dass die Ausgestaltung der gegründeten
Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert, jetzt stellt sich heraus, dass
vom Standpunkt des persönlichen Vorteils aus die Sache für uns nicht lohnend
ist. Daher wollen wir mit Recht die Flinte ins Korn werfen, und die Kolonisation
in Palästina ist zu einer Armenbüchse geworden, aus der einige Hundert
"mittelloser Proletarier" mit knapper Not ihre Existenz ziehen . . .
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So ist
also die Sprache des persönlichen Vorteils beschaffen. Wäre es meinem Opponenten
in der Tat gelungen, mit zwingenden Beweisen sein hartes Urteil zu belegen, dass
das Nationalgefühl im jüdischen Volke weder existiert hat, noch existieren wird,
und dass die einzelnen Individuen nicht im Stande sind, sich über "ihre eigenen
Interessen und ihren persönlichen Vorteil" zu erheben, dann, ja dann . . . finis
Poloniae! Dann haben wir keinen Anteil unter den Völkern und keinen Anspruch auf
das Land . . . Doch zu unserm Glück sind seine Beweise nicht so gefährlich, wie
sie scheinen.
Überhaupt sind ja die ethnologischen Forschungen über die Eigentümlichkeiten der
einzelnen Völker zumeist nur imposante Hypothesen, die an einem Haare hängen,
ohne feste wissenschaftliche Begründung. Ein Gelehrter hat gelegentlich den
Versuch gemacht, die Äußerungen verschiedener Autoritäten über die
Eigentümlichkeiten der Araber zu sammeln, und es stellte sich ihm nun folgendes
heraus: die einen behaupten, dass der Araber ein praktischer Mensch sei, der
sich nur mit realen Dingen abgebe, und dass er eine sehr schwache
Einbildungskraft besitze, während andere der Ansicht sind, dass sowohl die
Araber wie die Hebräer eine sehr starke Einbildungskraft haben, und dass bei den
ersteren die Einbildung stets den Verstand besiege. Demgegenüber hält es
Sprenger für ausgemacht, dass die Herrschaft der Einbildung über den
Verstand eine dem arabischen Geiste durchaus zuwiderlaufende Eigenschaft sei,
und nach seiner Ansicht ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass der Geist
der Semiten überhaupt objektiv veranlagt sei. Lassen dagegen und nach ihm
Renan halten es für eine ebenso allgemein anerkannte Tatsache, dass die
Grundeigentümlichkeit des semitischen Geistes in der Subjektivität bestehe. (1)
Wenn
es sich also in dieser Weise mit den Eigentümlichkeiten der Araber verhält,
eines Volkes, das auf seiner Scholle blieb und von einem Exil nichts kostete,
wer darf es dann wagen, die Eigentümlichkeiten eines Volkes wie des unsrigen zu
präzisieren, das bald zwei Jahrtausende unter den verschiedensten Völkern
zerstreut und zersplittert ist? Wo gäbe es einen Gelehrten, der imstande wäre,
eine genaue Scheidegrenze zu ziehen zwischen den Eigentümlichkeiten, die uns von
Anbeginn unserer Geschichte angeboren sind, und denen, die sich in uns durch die
Lebensbedingungen der Diaspora herausbildeten, die Wandlungen, die beide von
Generation zu Generation und von Land zu Land erlitten, nacheinander
aufzuzählen und von vornherein festzustellen, was sich in unseren
Eigentümlichkeiten durch veränderte Lebensbedingungen ändern kann und was sich
nicht ändern kann? — Mein Kritiker urteilt mit so unfehlbarer Sicherheit über
die Veranlagung des jüdischen Volkes, als wäre sie zu jeder Zeit und in jedem
Orte fest und unveränderlich, während ein hervorragender zeitgenössischer
Gelehrter gerade uns aus allen übrigen Völkern herausgehoben hat, um durch uns
die Wahrheit seiner Behauptung zu belegen, dass die nationalen
Eigentümlichkeiten mehr von den Lebensbedingungen und der Gesellschaftsordnung,
als von der Vererbung abhängen, indem er gerade bei unserm Volke die Tatsache
konstatiert, dass seine Eigentümlichkeiten in verschiedenen Ländern verschieden
seien und zu verschiedenen Zeiten verändert erscheinen, alles entsprechend den
vorhandenen Lebensbedingungen und dem Geiste des Volkes, unter dem wir leben.
(2)
Ich
will daher nicht im einzelnen auf die verschiedenen Punkte der von meinem
Opponenten aufgestellten Lehre über die Eigentümlichkeiten des jüdischen Volkes
eingehen. Ich werde mich bloß auf Jene gefährliche "Eigentümlichkeit"
beschränken, die uns der Verfasser zuschreibt, nämlich den Mangel des
Nationalgefühls in uns von Natur aus.
Ich
hatte in meinem vorhergehenden Aufsatze dargelegt, dass aus dem Umstande, dass
die gesamte mosaische Lehre auf dem Wohlergehen der Volksgemeinschaft beruht
— so sehr, dass sie nicht einmal das Bedürfnis empfand, sich des Glaubens an die
jenseitige Vergeltung (der in Ägypten schon in sehr alter Zeit bekannt war) zu
bedienen, um auch das Individuum zu befriedigen —, dass wir aus diesem
Umstande den Schluss ziehen dürfen, dass zu jener Zeit ein intensives
Nationalgefühl im Herzen des ganzen Volkes oder des hervorragendsten Teiles
desselben vorhanden war und dass nur historische Ursachen es waren, die dieses
Gefühl in späterer Zeit schwächten, dass uns also nichts in der Annahme hindert,
dass man mit entsprechenden Mitteln unserm Volke dasjenige wiedererobern kann,
was es schon in alter Zeit besessen hatte.
Hierauf wendet der Kritiker ein: "Wenn die Thora ihr Augenmerk nur auf das
Gesamtwohl richtet, so geschieht es nicht, weil zu irgendeiner Zeit der Geist
des Individualismus in unserm Volke unwirksam war. sondern, weil die Thora
praktisch ist und sich der Wirklichkeit anpasst. Wir sehen, dass der
einzelne Mensch allen möglichen Zufällen und Unglücksfällen ausgesetzt ist. Wie
könnte ihm daher die Thora, die sonst so praktisch verfährt, das
individuelle Glück verheißen, das ein Ding der Unmöglichkeit ist?"
Bei
Gott! Ich habe mir redliche Mühe gegeben, diese Worte zu begreifen, aber es war
leider vergeblich Wenn die Thora sich in der Tat der Wirklichkeit anpasst, und
das individuelle Glück des Menschen im Diesseits ein Ding
der Unmöglichkeit ist, das Nationalgefühl aber gleich nicht vorhanden war und
das Gesamtwohl der Nation beim Volke keine starke Geltung hatte, - wie durfte
sich dann die Thora mit der Verheißung eines derartigen Lohnes begnügen, dessen
Wirkung auf die Volksindividuen nicht hinreichend groß war dass sie seinetwegen
sich guter Taten befleißigten, während sie doch sehr wohl tun konnte, was andere
Religionen vorher und nachher taten und was sie selbst nach vielen Generationen
als es die Zeitumstände forderten, tat, nämlich dem einzelnen Individuum die
Belohnung seiner Taten im jenseits in Aussicht zu stellen?
Doch
in alle diese Widersprüche ließ sich der Verfasser nur verwickeln, weil er bei
Professor Chwolson die Behauptung fand, dass alle Semiten von Natur aus
Individualisten seien, dass wir daher zu keiner Zeit dem jüdischen Volke ein
Nationalgefühl zuschreiben dürfen. – Nun haben wir oben gesehen, wie wenig man
sich in solchen Dingen auf Äußerungen von Autoritäten verlassen darf. Wenn wir
jedoch die Worte, die der Kritiker aus Chwolson anführt, genauer ansehen, müssen
wir uns noch mehr über ihn wundern, dass er in ihnen einen genügenden Grund zu
seinem so harten Urteil gefunden hat. "Der nationale Zusammenhang", sagt
Chwolson (3),
"war bei den Semiten immer ein lockerer, nur der Stamm hielt einigermaßen
zusammen, aber nur so lange er noch klein war; ward er groß" teilte er sich in
zwei oder mehrere kleine Stämme, die unabhängig voneinander lebten," und diese
Erscheinung setzt er auf Rechnung des Individualismus, der sich besonders unter
den Semiten geltend mache. Doch möchte ich gerne wissen, wodurch sich seiner
Natur nach der "nationale Zusammenhang" von dem Gefühl der Liebe und der
Zusammengehörigkeit eines einzigen Stammes unterscheidet. Wenn der
Individualismus — und keine äußeren Ursachen — schuld daran hat, dass der
Zusammenhang zwischen den einzelnen israelitischen Stämmen ein lockerer war, wie
kam es, dass trotzdem jeder Stamm für sich noch einigermaßen zusammenhielt? Denn
wer in seinem Herzen das Bedürfnis und die Möglichkeit empfindet, seinen
persönlichen Vorteil dem Gesamtwohl der Gemeinschaft, zu der er sich rechnet,
und sei es auch ein kleiner unansehnlicher Stamm, unterzuordnen, der hat ja eo
ipso die Grenze des Individualismus überschritten und seine Fähigkeit bewiesen,
einen "nationalen Zusammenhang" zu empfinden, wenn sich keine äußeren
Hindernisse in den Weg stellen, und es dürfte kaum ein anderer Unterschied
bestehen zwischen dem Gefühl, das der Franzose gegen seine Nation, und dem
Gefühl, das der Montenegriner gegen seinen Stamm empfindet, als in der
Quantität seines Objekts, aber nicht in seiner
ursprünglichen Beschaffenheit. Daher sehen wir auch zu allen Zeiten,
dass, sobald die Lebensbedingungen günstig sind, sich die Stammesliebe
allmählich zur Nationalliebe erweitert. In sehr alter Zeit waren die Griechen in
kleine Stämme zersplittert, die sich fortwährend gegenseitig bekämpften, und
erst in späterer Zeit gelangten sie zum Gefühl der nationalen
Zusammengehörigkeit. Im Mittelalter waren die italienischen Städte getrennt und
miteinander verfeindet, und doch eigneten sich schließlich die Italiener ein
starkes Nationalgefühl an. Und um ein Beispiel aus unserer eigenen, Zeit
anzuführen, wem ist es unbekannt, was die Deutschen vor wenigen Jahrzehnten
waren? "Wir haben die Zeit noch in frischer Erinnerung, — sagt ein berühmter
deutscher Gelehrter, — wo man uns nicht ohne Grund den Vorwurf machen konnte,
dass es keinem andern großen Kulturvolke jemals in dem Grade, wie dem unsrigen,
an einem kräftigen und gesunden Nationalgefühl gefehlt habe." (4) Und was sehen
wir bei ihnen jetzt? Kurz und gut, wer die Behauptung aufstellt, dass das
Nationalgefühl den Semiten im allgemeinen und dem jüdischen Volke im besonderen
unzugänglich sei — ein Gefühl, von dem, nach der Ansicht eines berühmten
Naturforschers, einige Spuren sich sogar bei den Tieren nachweisen lassen (5) —,
der ist verpflichtet, zwingendere Beweise zu erbringen.
Bevor
jedoch solche Beweise erbracht werden, "lassen wir unsere Hände nicht im
praktischen Tun erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern
wir die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande, dann
wird uns der Gott Zions als Helfer erstehen".
13.
Mai 1889.
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Anmerkungen:
(1) Vgl. A. Müller, Zeitschrift für Völkerpsychologie XIV, S. 435.
(2) Vgl. Henry George, Progress and Poverty, p. 352.
(3) Die semitischen Völker, Berlin 1872, S. 42.]
(4) Ed. Zeller, Vorträge und Abhandlungen, II, S. 434.
(5) Du Bois-Reymond, Reden I, S. 309.
Der
Text wurde in deutscher Sprache gedruckt im Jüdischen Verlag, Berlin 1913
Erschien zuerst im hebräischen Tageblatt "Hameliz" in der Nummer vom 15. März
1889
hagalil.com
10-05-07 |