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Judentum und Israel
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Nicht dies ist der Weg!

Von Achad haAm

Teil II

"Vertiefen wir uns nicht zu seht in theoretische und abstrakte Auseinandersetzungen, lassen wir unsere Hände nicht im praktischen Tun erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern wir die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande —, dann wird uns der Gott Zions als Helfer erstehen."

Mit diesen Worten schließt die ausführliche Kritik, die gegen meinen vorstehenden Aufsatz im "Hameliz" erschien. Aus den zitierten Sätzen könnte der Leser schließen, dass der Rat, den  i c h  den "Chowewe Zion" erteilte, in der Aufforderung bestand, dass sie sich ausschließlich in theoretische Auseinandersetzungen vertiefen und jedes praktische Tun aufgeben sollen, dass sie das Ende drängen und die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande nicht steigern sollen. Wer aber meinen Aufsatz mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, dem brauche ich nicht zu sagen, dass, was die beiden letzten Punkte betrifft, ich das genaue Gegenteil verlangt habe: dass wir das Ende nicht drängen sollen, indem wir mit Hilfe der Selbstliebe Dinge zu verwirklichen suchen, die noch nicht reif genug sind, um durch den Gedanken selbst realisiert zu werden; dass, solange die "Zionsliebe" kein lebendiges und durchdringendes Gefühl im Herzen des Volkes geworden ist, die Basis mangelt, auf der sich das Land aufbauen kann; dass wir daher mit dem Aufgebot aller Kräfte bemüht sein müssen, die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande soweit wie möglich zu steigern. Was jedoch die Aufforderung betrifft, sich in theoretische Auseinandersetzungen zu vertiefen und das praktische Tun aufzugeben, so mag wohl sein, dass ich mich etwas zu kurz gefasst habe und daher missverstanden worden bin. Obgleich ich auch ausdrücklich hervorhob, dass wir nur durch eine zielbewusste Tätigkeit und nicht durch bloße "schöne Redensarten" hoffen dürfen, die Herzen zu gewinnen und die Antipathien zu überwinden, hätte ich vielleicht doch noch hinzufügen sollen, was eigentlich sich vom selbst aus dem Zusammenhang ergibt, dass solange der Gedanke selbst zu einer Verwirklichung nicht reif ist, der Zweck unserer ganzen Tätigkeit, die jetzt in den Händen einiger weniger Männer ruht, nur darin bestehen muss, die Herzen für unsere Sache zu gewinnen. Nur von diesem Standpunkte aus müssen wir alles, was innerhalb und außerhalb Palästinas geschieht, beurteilen, und deswegen darf uns jetzt nicht die Quantität des Geleisteten, sondern die Qualität desselben die Hauptsache sein. Unsere Tätigkeit darf sich daher nicht auf die Ausgestaltung der Kolonien allein beschränken, sondern viele und mannigfache Wege sind es, die zum Herzen des Volkes führen, und unsere Pflicht ist es, sie alle zu betreten.

Es ist daher ganz überflüssig, wenn mir mein Kritiker in einer langen Auseinandersetzung zu beweisen sucht, dass die Vertreter des Gedankens nicht berechtigt waren, "mit ihren praktischen Werken zu warten, bis sie der jüdischen Volksmasse ein neues Herz schufen, das national empfinden könnte" Saß bei uns Juden Theorie und Praxis durcheinander gehen und dass jeder Gedanke bei uns nach Verwirklichung drängt Wie hätte also der Kolonisationsgedanke, die jüdische Volksmasse ohne praktische Tat gewinnen können?" All dies hat mit meinen Ausführungen nichts zu schaffen; denn auch ich hatte nicht an die Vertreter des Gedanken, das Ansinnen gestellt "mit den praktische Werken zu warten", sondern im Gegenteil alles Mögliche zu tun, um die nationale Liebe zum Lande unserer Väter zu erwecken, und es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bearbeitung des heiligen Bodens durch die Vertreter des Gedankens selbst, die mit dem Schweiß ihres Antlitzes und dem Blute ihres Herzens bestrebt waren, ein Muster für andere zu werden, ebenfalls zu der "zielbewussten Tätigkeit" gehören würde, die besonders geeignet wäre, auf das Volk zu wirken. Aber kann die Kolonisation in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu dieser Tätigkeit gezählt werden? Mein Kritiker gibt ja selbst zu, dass "die Vertreter des Gedankens nicht selbst das Werk schufen", sondern "zu dem Volke in allen Tonarten redeten", und dass das, was sie redeten, lediglich geeignet war, die Glückssucher und Abenteurer aufzustacheln, nach Palästina auszuwandern und ihrerseits das Werk zu schaffen. Diese Leutchen siedelten auch in der Tat über, und taten, was sie taten, und erlitten, was sie erlitten, und das Kolonisationswerk wurde zu dem, was es jetzt ist ... Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Gedanke in seiner Wirkungskraft auf die Volksseele noch um mehrere Grade zurückging, und dass kein jüdisches Herz mehr warm wird beim Anblick der jüdischen Bauern, die die Pflugschar führen auf dem Boden unserer Väter, wie in den Tagen Davids und Salomos. Denn sowohl die Arbeit wie die Arbeiter sind nicht dazu geeignet, das Herz der Nation zu erwärmen, welches vor Elend und Alter erstarrt ist.

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Allein mein Kritiker geht mit mir auch im Wesen der Sache auseinander, und stellt die Behauptung auf dass es uns mit allen möglichen Mitteln in der Welt nicht gelingen wird, im Herzen unseres Volkes ein intensives Nationalgefühl zu erzeugen. Denn seitdem wir als Nation existieren, "ist dem Geiste unseres Volkes das allgemeine Nationalgefühl fremd geblieben, und die Einzelglieder des Volkes sind mehr auf ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil bedacht". Deswegen werden unsere Versuche, gegen den Geist des Volkes und seine natürliche Veranlagung anzukämpfen, gänzlich fruchtlos bleiben, denn "gegen die natürliche Veranlagung eines Volkes ist kein Kraut gewachsen". Aus diesem Grunde haben die "Zionsfreunde" nicht aus freien Stücken, sondern, der Not gehorchend, den Weg der Selbstliebe gewählt,  weil es keinen anderen Weg gebe. "Die Sprache des Nationalgefühls wird von der jüdischen Volksmasse nicht genügend verstanden; bemühen wir uns daher, dass die realisierten Werke zu ihr in einer verständlichen Sprache reden, in der Sprache des persönlichen Vorteils, dann wird wenigstens, was das Gefühl nicht vermocht hat, die Spekulation vollbringen."

Es ist mir, offen gestanden, unerfindlich, wie "die Sprache des persönlichen Vorteils", die Sprache des Kampfes ums Dasein, die sich jedem einzelnen Menschen gegenüber einer besonderen Ausdrucksweise bedient, die ihm allein eigentümlich ist und sich seiner Lage und seinen Wünschen anpasst, so dass der eine den andern nicht versteht -, wie diese Sprache an Stelle des allgemeinen Gefühls treten kann, das alle Herzen in einem Streben und einem Wunsch zusammenschließt? Selbst diejenigen Denker, welche sich als Utilitaristen bekennen und in dem Streben nach dem persönlichen Vorteil den Ursprung aller sittlichen und sozialen Neigungen erblicken, wollen damit nur die erste Ursache dieser Neigungen und die Art ihrer Entstehung und Entwicklung aufzeigen, um denjenigen entgegenzutreten, die diesen Neigungen einen metaphysischen Ursprung zuschreiben wollen. Aber darin sind alle einig, dass der persönliche Vorteil für sich allein keine Grundlage abgeben kann für eine geordnete Gesellschaft oder für eine große gemeinsame Arbeit.

Doch lassen wir für einen Augenblick seinen Standpunkt gelten. Hören wir, was uns die Sprache des persönlichen Vorteils in dieser Sache nach seiner eigenen Darstellung sagt. "Dem Geiste unseres Volkes," sagt er, "ist das Nationalgefühl fremd. Möge ihn daher die Kalkulation der Duname davon überzeugen, dass der fleißige und friedliche Mensch im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, wenn er körperliche Kraft und materielle Mittel besitzt." Er gibt also zu, dass nur der Mensch, der materielle Mittel und zugleich körperliche Kraft besitzt, sowie auch fleißig und friedlich ist, im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, d. h. seinen persönlichen Vorteil. Doch abgesehen davon, dass es sehr schwer hält, diese Bedingungen bei einem Juden, der materielle Mittel besitzt, zu finden — bei einem Juden nämlich, der früher gewohnt war, sich von der Luft zu ernähren, und in allem, was seinen Ehrgeiz betrifft, äußerst empfindsam ist —, wird auch ein solcher Mensch im Heiligen Lande in Wirklichkeit nicht leicht finden können, was er sucht. Denn nicht nur Brot für seinen Hunger und ein Kleid für seine Blöße sucht der Besitzende, sondern auch alle Genüsse und Vergnügungen, an die er früher gewohnt war. Würde er daher seinen persönlichen Vorteil befragen, so würde ihm dieser sicher die Antwort geben, dass es töricht ist, sein Geld für ein Stück Land in Palästina auszugeben, das im besten Falle harte Arbeit verlangt, ohne auch nur die Hälfte seiner Ansprüche zu befriedigen. Dass dieses Urteil richtig ist, bezeugt der Kritiker von selbst, indem er erzählt, dass "die Bewegung sich damals (am Beginne der Kolonisation) hauptsächlich aus den Mittellosen rekrutierte, die durch die Spenden der Reichen zu einer Existenz zu gelangen hofften, während diese selbst sich fern hielten". "Im Winter des Jahres 1882 ging der erste Delegat nach Palästina, ausgestattet mit einer Vollmacht vieler Bürger, um ein Stück Land in Palästina für sie zu kaufen. Der Delegat erstand den Boden von Rischon l' Zion, doch seine Auftraggeber traten von ihrer Absicht zurück." "Von denjenigen, die in der Kolonie Parzellen gekauft hatten, siedelten nur die Mittellosen über, während die Wohlhabenden zu Hause blieben." "Das Endresultat der ganzen Bewegung war, dass in Palästina, mit Ausnahme einiger weniger, nur mittellose Proletarier geblieben sind." — Also hat uns die Erfahrung gezeigt, dass diejenigen, die über materielle Mittel verfügen, sofern sie keine andere Sprache als die des persönlichen Vorteils verstehen, nicht geneigt sind, nach Palästina zu gehen, um dort zu finden, "was sie suchen"; denn sie suchen mehr, als was sie, dort finden Können. Wen soll also die Kalkulation der Duname überzeugen, und wen soll die Sprache des persönlichen Vorteils nach Palästina locken, wenn derjenige, der auswandern kann, nicht will, und derjenige, der es will, nicht kann?

Auf meine Frage, die ich; in meinem ersten Artikel gestellt hatte, warum nämlich der Gedanke im Volke an Sympathien verlor, erwidert der Kritiker seufzend: "Da sieht man das ungeduldige Judenvolk. Mit dem Momente, da es merkte, dass die Ausgestaltung der gegründeten Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert, da wurde es sofort mutlos. Achtzehn Jahrhunderte hindurch geduldeten wir uns und waren nicht im geringsten auf die Besiedlung des Landes und die Lösung der Judennot bedacht; jetzt aber, da wir im Laufe der sechs Jahre die Kolonien nicht ausgestalten konnten, wollen wir sofort die Flinte ins Korn werfen. Ist es kein ungeduldiges Volk?" — Er übersieht aber, dass das, was er auf Rechnung der Ungeduld setzt, in der Tat nur eine notwendige Folge seines Systems des persönlichen Vorteils bildet. Achtzehn Jahrhunderte hindurch waren wir nicht auf die Besiedlung des Landes bedacht, weil keiner von uns daraus einen persönlichen Vorteil für sich erhoffte. In den letzten Jahren waren wir aber sehr wohl auf die Besiedlung des Landes bedacht, weil durch die "Nachrichten und Kalkulationen" in uns die Hoffnung auf einen persönlichen Vorteil erweckt wurde. Jetzt aber, da wir uns überzeugt haben, dass die Ausgestaltung der gegründeten Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert, jetzt stellt sich heraus, dass vom Standpunkt des persönlichen Vorteils aus die Sache für uns nicht lohnend ist. Daher wollen wir mit Recht die Flinte ins Korn werfen, und die Kolonisation in Palästina ist zu einer Armenbüchse geworden, aus der einige Hundert "mittelloser Proletarier" mit knapper Not ihre Existenz ziehen . . .

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So ist also die Sprache des persönlichen Vorteils beschaffen. Wäre es meinem Opponenten in der Tat gelungen, mit zwingenden Beweisen sein hartes Urteil zu belegen, dass das Nationalgefühl im jüdischen Volke weder existiert hat, noch existieren wird, und dass die einzelnen Individuen nicht im Stande sind, sich über "ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil" zu erheben, dann, ja dann . . . finis Poloniae! Dann haben wir keinen Anteil unter den Völkern und keinen Anspruch auf das Land . . . Doch zu unserm Glück sind seine Beweise nicht so gefährlich, wie sie scheinen.

Überhaupt sind ja die ethnologischen Forschungen über die Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker zumeist nur imposante Hypothesen, die an einem Haare hängen, ohne feste wissenschaftliche Begründung. Ein Gelehrter hat gelegentlich den Versuch gemacht, die Äußerungen verschiedener Autoritäten über die Eigentümlichkeiten der Araber zu sammeln, und es stellte sich ihm nun folgendes heraus: die einen behaupten, dass der Araber ein praktischer Mensch sei, der sich nur mit realen Dingen abgebe, und dass er eine sehr schwache Einbildungskraft besitze, während andere der Ansicht sind, dass sowohl die Araber wie die Hebräer eine sehr starke Einbildungskraft haben, und dass bei den ersteren die Einbildung stets den Verstand besiege. Demgegenüber hält es Sprenger für ausgemacht, dass die Herrschaft der Einbildung über den Verstand eine dem arabischen Geiste durchaus zuwiderlaufende Eigenschaft sei, und nach seiner Ansicht ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass der Geist der Semiten überhaupt objektiv veranlagt sei. Lassen dagegen und nach ihm Renan halten es für eine ebenso allgemein anerkannte Tatsache, dass die Grundeigentümlichkeit des semitischen Geistes in der Subjektivität bestehe. (1)

Wenn es sich also in dieser Weise mit den Eigentümlichkeiten der Araber verhält, eines Volkes, das auf seiner Scholle blieb und von einem Exil nichts kostete, wer darf es dann wagen, die Eigentümlichkeiten eines Volkes wie des unsrigen zu präzisieren, das bald zwei Jahrtausende unter den verschiedensten Völkern zerstreut und zersplittert ist? Wo gäbe es einen Gelehrten, der imstande wäre, eine genaue Scheidegrenze zu ziehen zwischen den Eigentümlichkeiten, die uns von Anbeginn unserer Geschichte angeboren sind, und denen, die sich in uns durch die Lebensbedingungen der Diaspora herausbildeten, die Wandlungen, die beide von Generation zu Generation  und von Land zu Land erlitten, nacheinander aufzuzählen und von vornherein festzustellen, was sich in unseren Eigentümlichkeiten durch veränderte Lebensbedingungen ändern kann und was sich nicht ändern kann? — Mein Kritiker urteilt mit so unfehlbarer Sicherheit über die Veranlagung des jüdischen Volkes, als wäre sie zu jeder Zeit und in jedem Orte fest und unveränderlich, während ein hervorragender zeitgenössischer Gelehrter gerade uns aus allen übrigen Völkern herausgehoben hat, um durch uns die Wahrheit seiner Behauptung zu belegen, dass die nationalen Eigentümlichkeiten mehr von den Lebensbedingungen und der Gesellschaftsordnung, als von der Vererbung abhängen, indem er gerade bei unserm Volke die Tatsache konstatiert, dass seine Eigentümlichkeiten in verschiedenen Ländern verschieden seien und zu verschiedenen Zeiten verändert erscheinen, alles entsprechend den vorhandenen Lebensbedingungen und dem Geiste des Volkes, unter dem wir leben. (2)

Ich will daher nicht im einzelnen auf die verschiedenen Punkte der von meinem Opponenten aufgestellten Lehre über die Eigentümlichkeiten des jüdischen Volkes eingehen. Ich werde mich bloß auf Jene gefährliche "Eigentümlichkeit" beschränken, die uns der Verfasser zuschreibt, nämlich den Mangel des Nationalgefühls in uns von Natur aus.

Ich hatte in meinem vorhergehenden Aufsatze dargelegt, dass aus dem Umstande, dass die gesamte mosaische Lehre auf dem Wohlergehen der Volksgemeinschaft beruht — so sehr, dass sie nicht einmal das Bedürfnis empfand, sich des Glaubens an die jenseitige Vergeltung (der in Ägypten schon in sehr alter Zeit bekannt war) zu bedienen, um auch das Individuum zu befriedigen —, dass wir aus diesem Umstande den Schluss ziehen dürfen, dass zu jener Zeit ein intensives Nationalgefühl im Herzen des ganzen Volkes oder des hervorragendsten Teiles desselben vorhanden war und dass nur historische Ursachen es waren, die dieses Gefühl in späterer Zeit schwächten, dass uns also nichts in der Annahme hindert, dass man mit entsprechenden Mitteln unserm Volke dasjenige wiedererobern kann, was es schon in alter Zeit besessen hatte.

Hierauf wendet der Kritiker ein: "Wenn die Thora ihr Augenmerk nur auf das Gesamtwohl richtet, so geschieht es nicht, weil zu irgendeiner Zeit der Geist des Individualismus in unserm Volke unwirksam war. sondern, weil die Thora praktisch ist und sich der Wirklichkeit anpasst. Wir sehen, dass der einzelne Mensch allen möglichen Zufällen und Unglücksfällen ausgesetzt ist. Wie könnte ihm daher die Thora, die sonst so praktisch verfährt, das individuelle Glück verheißen, das ein Ding der Unmöglichkeit ist?"

Bei Gott! Ich habe mir redliche Mühe gegeben, diese Worte zu begreifen, aber es war leider vergeblich Wenn die Thora sich in der Tat der Wirklichkeit anpasst, und das individuelle Glück des Menschen im  Diesseits ein Ding der Unmöglichkeit ist, das Nationalgefühl aber gleich nicht vorhanden war und das Gesamtwohl der Nation beim Volke keine starke Geltung hatte, - wie durfte sich dann die Thora mit der Verheißung eines derartigen Lohnes begnügen, dessen Wirkung auf die Volksindividuen nicht hinreichend groß war dass sie seinetwegen sich guter Taten befleißigten, während sie doch sehr wohl tun konnte, was andere Religionen vorher und nachher taten und was sie selbst nach vielen Generationen als es die Zeitumstände forderten, tat, nämlich dem einzelnen Individuum die Belohnung seiner Taten im jenseits in Aussicht zu stellen?

Doch in alle diese Widersprüche ließ sich der Verfasser nur verwickeln, weil er bei Professor Chwolson die Behauptung fand, dass alle Semiten von Natur aus Individualisten seien, dass wir daher zu keiner Zeit dem jüdischen Volke ein Nationalgefühl zuschreiben dürfen. – Nun haben wir oben gesehen, wie wenig man sich in solchen Dingen auf Äußerungen von Autoritäten verlassen darf. Wenn wir jedoch die Worte, die der Kritiker aus Chwolson anführt, genauer ansehen, müssen wir uns noch mehr über ihn wundern, dass er in ihnen einen genügenden Grund zu seinem so harten Urteil gefunden hat. "Der nationale Zusammenhang", sagt Chwolson (3), "war bei den Semiten immer ein lockerer, nur der Stamm hielt einigermaßen zusammen, aber nur so lange er noch klein war; ward er groß" teilte er sich in zwei oder mehrere kleine Stämme, die unabhängig voneinander lebten," und diese Erscheinung setzt er auf Rechnung des Individualismus, der sich besonders unter den Semiten geltend mache. Doch möchte ich gerne wissen, wodurch sich seiner Natur nach der "nationale Zusammenhang" von dem Gefühl der Liebe und der Zusammengehörigkeit eines einzigen Stammes unterscheidet. Wenn der Individualismus — und keine äußeren Ursachen — schuld daran hat, dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen israelitischen Stämmen ein lockerer war, wie kam es, dass trotzdem jeder Stamm für sich noch einigermaßen zusammenhielt? Denn wer in seinem Herzen das Bedürfnis und die Möglichkeit empfindet, seinen persönlichen Vorteil dem Gesamtwohl der Gemeinschaft, zu der er sich rechnet, und sei es auch ein kleiner unansehnlicher Stamm, unterzuordnen, der hat ja eo ipso die Grenze des Individualismus überschritten und seine Fähigkeit bewiesen, einen "nationalen Zusammenhang" zu empfinden, wenn sich keine äußeren Hindernisse in den Weg stellen, und es dürfte kaum ein anderer Unterschied bestehen zwischen dem Gefühl, das der Franzose gegen seine Nation, und dem Gefühl, das der  Montenegriner gegen seinen Stamm empfindet, als in der Quantität seines Objekts, aber nicht in seiner ursprünglichen Beschaffenheit. Daher sehen wir auch zu allen Zeiten, dass, sobald die Lebensbedingungen günstig sind, sich die Stammesliebe allmählich zur Nationalliebe erweitert. In sehr alter Zeit waren die Griechen in kleine Stämme zersplittert, die sich fortwährend gegenseitig bekämpften, und erst in späterer Zeit gelangten sie zum Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit. Im Mittelalter waren die italienischen Städte getrennt und miteinander verfeindet, und doch eigneten sich schließlich die Italiener ein starkes Nationalgefühl an. Und um ein Beispiel aus unserer eigenen, Zeit anzuführen, wem ist es unbekannt, was die Deutschen vor wenigen Jahrzehnten waren? "Wir haben die Zeit noch in frischer Erinnerung, — sagt ein berühmter deutscher Gelehrter, — wo man uns nicht ohne Grund den Vorwurf machen konnte, dass es keinem andern großen Kulturvolke jemals in dem Grade, wie dem unsrigen, an einem kräftigen und gesunden Nationalgefühl gefehlt habe." (4) Und was sehen wir bei ihnen jetzt? Kurz und gut, wer die Behauptung aufstellt, dass das Nationalgefühl den Semiten im allgemeinen und dem jüdischen Volke im besonderen unzugänglich sei — ein Gefühl, von dem, nach der Ansicht eines berühmten Naturforschers, einige Spuren sich sogar bei den Tieren nachweisen lassen (5) —, der ist verpflichtet, zwingendere Beweise zu erbringen.

Bevor jedoch solche Beweise erbracht werden, "lassen wir unsere Hände nicht im praktischen Tun erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern wir die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande, dann wird uns der Gott Zions als Helfer erstehen".

13. Mai 1889.

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Anmerkungen:
(1) Vgl. A. Müller, Zeitschrift für Völkerpsychologie XIV, S. 435.
(2) Vgl. Henry George, Progress and Poverty, p. 352.
(3) Die semitischen Völker, Berlin 1872, S. 42.]
(4) Ed. Zeller, Vorträge und Abhandlungen, II, S. 434.
(5) Du Bois-Reymond, Reden I, S. 309.

Der Text wurde in deutscher Sprache gedruckt im Jüdischen Verlag, Berlin 1913
Erschien zuerst im hebräischen Tageblatt "Hameliz" in der Nummer vom 15. März 1889

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