Die Bilanz
Von Achad haAm
Eine "Bilanz" — nicht von präzisen Ziffern,
nicht von einzelnen Unternehmungen, sondern von inneren Eindrücken, die sich in
meiner Seele gesammelt haben in den sechzig Tagen, in denen ich umgeben war von
der Atmosphäre unserer nationalen Arbeit und in ihr allem lebte und webte: zehn
Tage in Basel, beim zehnten Zionistenkongress, und nachher fünfzig Tage in
Palästina.
Vierzehn Jahre waren verstrichen, seitdem ich
einen zionistischen Kongress (den ersten), und zwölf Jahre, seit ich zum letzten
Male den Stand unserer Arbeit in Palästina gesehen hatte. Und als ich diesmal
hinging, um wiederum das eine und das andere m sehen, war es nicht meine
Absicht, mich, wie ehemals, mit Einzelseiten zu befassen, Ziffern und
Tatsachenmaterial zu sammeln, um, darauf gestützt, die Lösung bekannter
praktischer Fragen zu finden — sondern ich öffnete die Kammern meines Herzens
den mannigfaltigen Eindrücken, die mir von allen Seiten zuströmten, ich ließ sie
eintreten und von selber zu einem Gesamteindruck sich zusammenfügen, zu einer
Art seelischer "Bilanz" aus allem, was ich gesehen und gehört, in Bezug auf
unsere Bewegung und Arbeit im Lande und außerhalb des Landes. Schon stehen wir,
ich und meine Altersgenosse an der Schwelle des Greisenalters, hinter uns viele,
viele Jahre Arbeit und Kampf, Siege und Niederlagen, Schmerz und Befriedigung.
In solchem Zustand empfindet einer manchmal das Bedürfnis, sich eine Zeitlang
abzuwenden von den Einzelfragen und das Ganze mit einem Blicke zu umfassen, um
sich selbst Antwort zu geben auf die allgemeine, die Grundfrage, die ihn
zuzeiten nicht schlafen lässt: diese ganze Arbeit, in der dein Leben vorüber-
und deine Kräfte aufgegangen sind, wozu kam sie und was brachte sie?
Das innere Bedürfnis war es also, das mich
diesmal nach Basel und nach Palästina geführt hat. Und wozu es leugnen? — Schon
lange sah ich nicht so schöne Tage wie auf dieser Reise. Nicht, dass jetzt
alles gut und schön und in Ordnung wäre, dass eitel Sonne unsere Arbeit
beschiene und die Schatten geschwunden wären. Von solch glücklichem Zustand sind
wir noch weit entfernt. Zahlreich sind die Schatten auch heute noch, und wenn
sie an gewissen Stellen sich vermindert haben, so sind ihrer anderswo mehr
geworden. Eines aber wird immer klarer und klarer: dass unsere Arbeit
keine künstliche Schöpfung ist, die wir uns ausgedacht, um den Kräften des
Volkes eine Betätigung zu gewähren, die das nationale Leid ein wenig lindem
soll. Ein solcher Gedanke könnte aufsteigen, wenn das Endresultat der
Arbeit wirklich einem festen Plane im Anfang entspräche, wenn die Arbeit getan
worden wäre in der bestimmten Tendenz, jenes Ziel zu erreichen das in
Wirklichkeit allmählich erreicht wird – dann wäre
vielleicht der Zweifel berechtigt, ob nicht am Ende die Erreichung dieses Zieles
gar keinem Wahren nationalen Bedürfnis entspreche und die ganze Sache nur von
künstlicher Art sei. Doch ist dies mit unserer Arbeit nicht so. Vom Anfang bis
jetzt richten, die sie ausführen, ihr Herz nach einem Ziele – und
gelangen dadurch, ohne es zu wollen, an ein anderes. Diese "Zweiheit" ist
das zuverlässigste Kennzeichen dafür, dass die treibende Kraft
dieses Werkes - nicht in planmäßiger Überlegung liegt, sondern dem seelischen
Unterbewusstsein angehört, der Stätte der natürlichen "Instinkte", welche im
Dunkel ihre Werke tun und den Menschen auch gegen seinen Willen ihren Zwecken
dienstbar machen, während er das, was er vollführt, um jenes Zieles willen zu
vollführen glaubt, das er sich in Gedanken gestellt. Diese treibende Kraft ist
der "nationale Selbsterhaltungstrieb", der uns mit unsichtbarer Hand zur
Erreichung dessen führt, was für die Erhaltung unseres nationalen Bestehens
erreicht werden muss — und wir gehen ihm nach, wenn auch ohne deutliche
Erkenntnis, wenn auch auf gewundenen Pfaden — aber wir gehen, weil wir so
müssen, um zu leben. Früher pflegte ich mich ob dieser "Zweiheit" zu
kränken und besorgt zu fragen, ob wir nicht ob wir nicht "den Weg des Lebens"
aus den Augen verlieren in der Verfolgung eines Zieles, zu dem kein Weg führt.
Jetzt, nachdem ich die bisherigen Ergebnisse der Arbeit sehe, macht mir dieser
Umstand auch für die Zukunft keine Sorgen mehr. Was liegt daran, wenn wir
dieser Arbeit ein Ziel bestimmen, das nicht durch sie erreicht
werden wird. "Der Mensch denkt, und Gott lenkt." Die Geschichte fragt nicht nach
unserem "Programm", sondern schafft und wirkt nach den Geboten des in uns
wohnenden "Selbsterhaltungstriebes". Und ob wir den richtigen Wert unserer
Arbeit und ihren Zweck erkennen, oder es vorziehen uns solcher Erkenntnis zu
verschließen — so bauen wir doch mit unserer Hand am Werk der Geschichte
und unsere Arbeit wird es endlich vollenden, nur dass die Arbeit schwerer und
länger wird, wenn ihr nicht die Erkenntnis Beistand gibt.
So ist es. Alles, was ich in Basel und in
Palästina gesehen, hat in mir die Zuversicht verstärkt, dass tief im Herzen
unseres Volkes der "Selbsterhaltungstrieb" nicht schlummert noch schläft, und
dass er trotz aller unserer Irrtümer immer mehr unsere Hand zwingt, das zu
schaffen, dessen unser nationaler Bestand jetzt mehr denn je bedarf sein festes
Zentrum für unser Volk und seine Kultur, das zu einem neuen geistigen Bande
zwischen den zerstreuten Teilen des Volkes werden und von seinem Geiste ihnen
geben soll, um sie alle zu neuem nationalem Leben zu wecken.
Dem Besucher des zehnten Kongresses in Basel
bot dieser das Bild eines unerhörten Durcheinanders von Sprachen und Gedanken.
Dies war die Folge einer inneren Krisis, die alle als solche empfanden, und die
nicht zu sehen sie sich doch bemühten. Zwei Parteien stritten alle die Tage
miteinander: die "Politischen" und die "Praktischen". Da schrieen die
"Politischen", dass in Wirklichkeit auch sie Anhänger der praktischen Arbeit
seien, ohne dass sie darum "das politische Ziel" aus den Augen verlieren
wollten, und die "Praktischen", dass auch sie "Politiker" seien, ohne indes
darum an die praktischen Mittel zu vergessen; und diese wie jene schrieen, dass
in Wirklichkeit der "Judenstaat" schon aufgegeben sei, ohne dass aber damit auch
nur ein I-tüpfelchen vom Baseler Programm aufgegeben sei ... Am Ende trugen die
"Praktischen" den Sieg davon, das heißt: es wurde eine Resolution angenommen,
wonach der Kern der zionistischen Arbeit die Erweiterung des Jischub in
Palästina und das Erziehungs- und Kulturwerk im Lande sei. Und dann beteuerten
die Sieger noch, das Basler Programm und die "zionistische Tradition, die sich
im Laufe von vierzehn Jahren gebildet hat", in jeder Weise wahren zu wollen (1).
Und diese ganze Verwirrung war nur die
notwendige Folge des Seelenzustandes der beiden Gruppen.
Was die "Politischen" betrifft, welche zum
großen Teile nicht die innere Sehnsucht nach Wahrung und Entfaltung der
jüdischen Nationalität ins zionistische Lager getrieben hatte, sondern das
Verlangen nach Befreiung von der äußeren Not durch Gründung einer "gesicherten
Heimstätte" für unser Volk — so ist ihr Zionismus mit Notwendigkeit bloß an
dieses Ziel geknüpft und ohne dieses nur ein leeres Wort. Und deshalb können sie
ihren Blick der Tatsache nicht verschließen, dass jene "praktische Arbeit", auf
welche ihre Gegner den Zionismus basieren, gar nicht geeignet ist, jenes "Ende"
rasch zu bringen, das a l l e i n sie ersehnen. Sie haben noch jene Berechnung
in Erinnerung, die sie bei der Eröffnungsrede des ersten Kongresses gehört: dass
wir nach dem Kolonisationssystem der "Chowewe-Zion" die "Sammlung der
Verbannten" in Palästina erst nach neunhundert Jahren erreichten werden (2). —
Da indessen die Ereignisse der letzten Jahre ihre Hoffnung als trügerisch
erwiesen haben, dieses Ziel durch Betätigung anderer Art in Bälde zu erreichen,
durch jene "politische" Betätigung, welche der "zionistischen Tradition"
zugrunde liegt, so waren sie auf diesem Kongreß in Verlegenheit, und sie wüssten
aus der Verwirrung keinen Ausweg. So kamen sie mit leeren Händen, redeten im
Namen eines Zieles, zu dessen Erreichung es keine Mittel gibt, und konnten sich
einzig und allein auf die Hoffnung einer ungewissen Zukunft stützen, da sich
vielleicht die äußeren Bedingungen zugunsten der "politischen Arbeit" ändern
werden. Dies war auch die Ursache für die außerordentliche "Bescheidenheit", die
sie diesmal an den Tag legten. Sie zogen nicht "mit Trompetenschall", wie es
sonst ihre Gewohnheit war, in den Kampf und ließen nicht einmal die bekannten
Verheißungen hören, die sie sonst machtvoll verkündeten über die Erlösung und
das Heil, so der Zionismus allen Verfolgten und gedrängten unseres Volkes
bringen werde. Selbst Nordau
in seiner Rede über die Lage der Judenheit ging diesmal von seiner sonstigen
Gepflogenheit ab. Diese Rede, welche jeden Kongreß einleitet und so zu einem
wesentlichen Stück der "zionistischen Tradition" geworden ist, war in der
Hauptsache immer darauf angelegt, die Berechtigung des Zionismus auf Grund des
Antisemitismus zu erweisen: "Ihr seht, wie schlimm und hoffnungslos eure Lage in
der ganzen Welt ist. Wohlan denn, wollt ihr, dass euch geholfen werde? So gebt
uns eure Hand, und wir werden euch helfen." Diesmal aber hat sich Nordau mit der
Schilderung der Notlage und mit sittlichen Mahnungen nach außen und innen
begnügt, die Hauptsache — jenes "Wohlan" — fehlte fast gänzlich. Und während der
Kongreßtage konnte man Reden hören, Welche offen gegen den "Zionismus auf Grund
des Antisemitismus" Stellung nahmen, ohne dass darum diese Redner geschmäht
würden, wie es ehedem sicherlich geschehen wäre.
Die "Praktischen" indessen, die in der Mehrzahl
östliche Juden oder deren Schüler im Westen sind, sie, denen das nationale
Judentum "ihrer Seele Wurzel ist" und die ganz unbewusst vom nationalen
Lebensgefühle geleitet wurden — sie befanden sich in einem völlig anderen
Seelenzustand. Sie brachten mit sich ein vollständiges Programm "der praktischen
Arbeit in Palästina", der Besiedlungs- und Kulturarbeit, zugleich mit der
inneren Erkenntnis, dass alle Zweige dieser Arbeit die erforderlichen Mittel
sind zur Erreichung d e s Zieles — mit bestimmtem Artikel, aber ohne weitere
Kommentare. Und die "Politischen" stellten ihre alte Frage: "Ja, glaubt ihr denn
in eurer Einfalt, dass der Kauf irgend eines kleinen Landstriches von Zeit zu
Zeit, die Gründung einer kleinen Kolonie unter dem Aufwand unendlicher Mühe,
irgend einer Arbeiterfarm, deren Existenz in der Luft hängt, einer Schule hier,
eines Gymnasiums dort, und so weiter — dass dies die Mittel sind, um im Sinne
der "zionistischen Tradition" die "gesicherte Heimstätte" zu erlangen, sie, die
erst dem Golus und dadurch auch unserer Not ein Ende machen soll?" — Und die
"Praktischen" konnten auf diese Frage keine befriedigende Antwort geben. Dennoch
ließen sie sich in ihrer Meinung nicht beirren, dass die Arbeit in Palästina der
Weg sei, der zum "Ziele" führt, obgleich . . . hier riss der Faden des Gedankens
ab, und sie führten ihn nicht zu Ende. Sie konnten es nicht, weil sie nicht die
Kraft hatten, bis zur Leugnung der großen Hauptsache: der "Erlösung des Volkes"
sich durchzuringen — die allein den Zionismus zur Massenbewegung gemacht hätte
—, die Kraft, im Herzen zu erkennen und mit den Lippen zu bekennen, dass das
Ziel, von dem s i e jetzt sprechen, verschieden sei von dem der "zionistischen
Tradition". Nicht eine "gesicherte Heimstätte für das
Volk Israels", sondern "ein festes Zentrum für den Geist Israels"
— das ist ihr Ziel, und alle Zweige der gegenwärtigen Arbeit in Palästina, vom
Bodenkauf bis zur Gründung
von Schulen, sind zuverlässige Mittel zur Erreichung bloß dieses Zieles
und keineswegs des anderen. In den Tiefen des Herzens hatten sie schon früher
diese Wahrheit empfunden, zur Zeit da noch die "Politischen" die Oberhand
hatten, und darum hatten sie gleich jenen heftig dagegen angekämpft, um jene
Empfindung aus der Welt zu schaffen, damit sie nicht ihren Seelenfrieden störe.
Jetzt aber, da die politische Richtung ihre Kraft eingebüßt hat, ist diese
Empfindung in ihnen erstarkt und wurde zur bewegenden, tatenweckenden Kraft.
Noch fehlt ihnen aber die innere Möglichkeit, die leise Empfindung zur klaren
Erkenntnis emporzuheben. Und so ist das wahrhafte Ziel "unter der
Bewusstseinsschwelle" geblieben, indes oberhalb der Schwelle gleich wesenlosen
Gespenstern einerseits Mittel ohne Ziele, andererseits Ziele ohne Mittel
auftauchen, und die Phantasie sich müht, beide zusammenzufügen … (3).
Aber zu eben der Zeit, da sie im Kongreßsaal
drinnen saßen, um "Geschichte zu machen", und von oben herab ein Weltgericht
abzuhalten, erschien mir die Geschichte selbst in voller Klarheit außerhalb des
Saales, in der großen Schar, die nach Basel gekommen war, um sich am Lichte des
Kongresses zu sonnen. Im Laufe der vierzehn Jahre, welche seit dem ersten
Kongresse verstrichen waren, hat sich uns ein Heer von neuen Juden zugesellt,
von Juden mit tiefem nationalem Bewusstsein das nicht nach "Schekeln" gezählt
wird und sich nicht auf ein Programm beschränkt, sondern die Seele bis auf den
Grund umgreift und ergreift. Von allen Enden der Erde sind diese Juden
herbeigeströmt, aus den Tiefen der Assimilation sind sie heraufgestiegen und zu
ihrem Volke heimgekehrt, die meisten noch jung an Jahren, voll von Kraft und
Willen, an dem Werke der Wiederbelebung mitzutun. Als ich diese unsere Erben
draußen sah, sagte ich mir: Lass jene drinnen! Mögen sie reden und Beschlüsse
fassen und glauben, dass sie es seien, die das Ende näher bringen. Wenn das
ferne Ziel nicht näher rückt, so nähern sich doch die entfernten Herzen, und
schließlich steht die Geschichte doch da und tut das ihre, und jene helfen ihr,
bewusst oder unbewusst.
Das historische Ziel selber aber, das in Basel
nur wie hinter einem Gewölke von Reden hindurchschimmerte, erschien mir in
größerer Klarheit am Lichte der Tatsachen in Palästina. Je mehr ich im
Lande umherkam und betrachtete, was da im Werden ist, desto klarer wurde es mir,
dass diese Entwicklung, wenn auch noch voll von Gegensätzen und Widersprüchen,
als Ganzes doch nach e i n e m historischen Ziele strebt — jenem, das ich vorhin
nannte. Zwar ist der Weg dahin noch weit genug, aber auch dem einfachen Auge
wird es schon am Rande des Horizontes sichtbar. Wem dieser Horizont enge und das
Ziel gering dünkt, der gehe zu zionistischen Versammlungen im Ausland und lasse
sich dort weitere Horizonte und größere Ziele zeigen — nicht aber nach
Palästina. Dort hat man die "weiten Horizonte" beinahe vergessen. Denn die
Wirklichkeit hat Schranken vor sie gestellt, die weiterzublicken nicht gestatten
. . .
Man sieht in Palästina die nationale Bank, die
ursprünglich mit der Bestimmung gegründet worden war, als Basis für die
"Erlösung von Volk und Land" auf
politischem Wege zu dienen, und welches ist ihre Tätigkeit? Man braucht
nicht erst zu sagen, dass ihre Aufgabe im politischen Sinne schon längst
vergessen ist, aber selbst in dem einfachen Sinne eines Instruments der
Erweiterung der jüdischen Siedlung leistet sie nichts Großes und kann es nicht
leisten. Ihre Tätigkeit besteht — und das muss sein, wenn sie sich erhalten will
— im kleinen Geschäftsverkehr mit den ortsansässigen Kaufleute, Juden wie
Nichtjuden, und ihre Einkünfte kommen sogar der Hauptsache nach von den
letzteren. Und was sie für die jüdische Siedlung leistet oder überhaupt
leisten kann (sofern wir mit denen, die sie anklagen, annehmen, dass sie mehr
leisten könnte), ohne sich selbst zu gefährden, — beschränkt sich auf ein so
enges Gebiet, dass es einem auch gar nicht einfallen kann, dass hier noch eine
Verbindung bestehe mit jenen "großen Zielen", dass damit auch nur der kleinste
Schritt getan würde auf dem Wege zur "vollständigen" Erlösung. Jetzt haben, wie
es scheint, auch im Auslande viele aufgehört, von dieser Bank für das
Siedlungswerk Großes zu erhoffen, und planen darum die Gründung einer
"Agrarbank", damit sie das Große leiste. Aber vielleicht lohnt es, zuerst auf
die kleinen Dinge zu blicken, welche die gegenwärtige Bank für das Kreditwesen
in den Kolonien getan hat, um daraus zu lernen, was man in Bezug auf Fragen des
Agrarkredites in Palästina .überhaupt lernen kann. Es genügt da nicht auf andere
Länder mit anderen Bedingungen und anderen Menschen als Muster hinzuweisen und
zu sagen: "Seht, was der Agrarkredit leistet!"
Der Kredit gehört zu jenen Dingen, von denen es
heißt: heilsam am rechten Platze, können sie am unrechten tödlich wirken. Alles
liegt an den örtlichen Bedingungen und den Eigenschaften der Menschen. Auch
unsere Bank hat bei ihren Bestrebungen zur Förderung der bereits bestehenden,
Kolonien solche "Muster" vor Augen gehabt; was dabei herausgekommen ist, darüber
Wissen die Kolonisten manches zu erzählen. Ich weiß, dass man mir antworten
wird, dass hier spezielle widrige Umstände den Mißerfolg verschuldet haben,
woraus man noch nicht weitere Folgerungen ziehen dürfe. Nun will ich hier gar
nicht ein abschließendes, Urteil über diese Frage fällen über die schon so oft
geurteilt worden ist, dass ihre positive und negative Seite genugsam
klargestellt ist. Ich will nur hindeuten auf die Schwierigkeit der Sache, selbst
wenn sie in sehr engem Rahmen unternommen wird, um daraus die Folgerung zu
ziehen, dass es zumindest sehr verfrüht ist, schon jetzt — wo noch mehr als 40
Tage zum Abschluß, seiner embryonalen Entwicklung fehlen — (4) hinauszuposaunen,
dass dieses Institut "zu Großem geboren" ist. Die Bedingungen unserer
Kolonisation sind in vieler Hinsicht so schwierig, dass selbst kleine Dinge
außerordentliche Vorsicht erheischen und man sich auf Analogie allein nicht
stutzen kann. Wenn dieses Institut aber in der Tat auf Großes hinzielt — so
Großes, dass es verdiente in einem Atem mit der "Erlösung von Volk und Land"
genannt zu werden - so wissen wir noch nicht was es am Ende bringen wird: Aufbau
oder Untergang.
Man sieht in Palästina auch den "Nationalfonds"
und seine Arbeit an der "Erlösung des Landes" auf finanziellem Wege wozu er
geschaffen wurde, und einen großen Teil Steines Fonds hat er auch schon
ausgegeben. Was hat er aber losgekauft und was könnte er loskaufen, selbst wenn
er ungleich mehr ausgegeben hatte? Einige verstreut liegende Landstriche, die
von großen und weiten, nicht angekauften Flächen umschlungen sind. Und
inzwischen steigt der Preis des Bodens in erschreckender Weise, besonders an
Plätzen, wo wir Wurzel fassen wollen, und in demselben Maße verringert sich
natürlich das Maß des Bodens, den der Nationalfonds zu kaufen in der Lage ist.
Und dies noch mehr durch eine weitere Ursache nicht materieller Natur: viele der
Eingeborenen, deren Nationalbewußtsein seit der türkischen
Revolution zu wachsen begonnen hat, blicken - wie denn sonst? – mit scheelem
Auge auf den Verkauf des Bodens an "Fremde" und bemühen sich nach Kräften diesem
"Übel" zu steuern. Und die türkische Regierung - welches immer ihre Anschauung
über unsere Arbeit sei - kann die Araber nicht unseretwegen vor den Kopf stoßen,
sie käme dabei schlecht weg. So wird der Bodenkauf immer schwieriger, und der
Begriff "Erlösung des Landes" (oder besser: des Bodens) wird immer mehr
eingeschränkt, so dass jeder, der in Palästina lebt und die Augen nicht
verschlossen hat, im Nationalfonds nicht, wie dies seinen Gründern vorschwebte,
den künftigen Herrn des ganzen Bodens Palästinas oder wenigstens seines größten
Teiles sehen kann. In Palästina sieht und versteht man, dass das Maximum dessen,
was wir in schwerer, langer Arbeit erreichen können, sei es mit Hilfe des
Nationalfonds, sei es auf anderen Wegen, nur dies ist: uns viele Punkte über der
ganzen Fläche des Landes zu erwerben und unsere "Punkte" an Wert gleich
zu machen dem ganzen uns umgebenden Landgebiet. Darum spricht man in Palästina
nicht viel von künftiger "Erlösung des Landes" sondern arbeitet in Geduld und
mit schweren, komplizierten Mitteln, um einen neuen Punkt und wieder einen neuen
hinzuzufügen. Man berechnet nicht den Tag der endgültigen Erlösung, fragt nicht
"was werden uns diese winzigen Fortschritte helfen?" weil alle empfinden, dass
diese Punkte als solche, künftig Bollwerke sein sollen für den Geist unseres
Volkes, und man braucht sie gar nicht als erste Schritte zur "Eroberung des
Landes" anzusehen, um zu finden, dass die Sache alle Mühe wert ist.
Man sieht dann auch die längst bestehenden
Kolonien die in Schmerz geboren und in Not und in so vielen Leiden
herangewachsen sind - und auch; sie können die Phantasie nicht so weit
entzünden, um darin "den Anfang der Erlösung" zu sehen.
Allerdings freut sich das Herz ob des großen
Fortschritts in den meisten der Kolonien. Wenn du vor zwölf Jahren eine jüdische
Kolonie in Palästina betreten wolltest, konntest du im Vorhinein wissen, was du
darin hören werdest: seitens der Kolonisten - Ach und Klage über den schlimmen,
schier unerträglichen Zustand, Anklagen gegen die hartherzigen Beamten, die ihre
Pflicht nicht erfüllen, und schließlich: eine lange Liste von Summen, die jeder
Kolonist noch brauchte um ordentlich eingerichtet zu sein - und seitens der
Beamten Schimpf und Schmähung gegen die Kolonisten, die sämtlich faule,
verächtliche Schnorrer seien, die immer "Gib" schreien während ihre Lage gar
nicht schlimm und die Rechnung mit der "Verbesserung" falsch sei. Jetzt - in den
meisten Kolonien keine Spur mehr davon. Seither taten die Beamten - um die
Wahrheit zu gestehen - soviel in ihrer Macht lag; um die früheren Mißgriffe gut
zu machen: gaben den Kolonien neuen Boden, wo es nur solchen in der Umgebung zu
kaufen gab, gründeten neue Kolonien, wo in den alten der Raum zu enge war -
bestrebten sich im ganzen, das Werk zum Abschlusse zu bringen, das
Fürsorgesystem nach und nach aufzuheben Und Leitung und Verantwortung an die
Kolonisten selber abzugeben, damit sie schließlich erkennen, dass, wer leben
will, für seine Angelegenheiten selber sorgen muss, statt beständig nach fremdem
Beistand auszuschauen. Man kann zwar noch nicht sagen, dass die Befreiung der
Kolonien zur Ganze durchgeführt sei, noch ist die Schnur an ihrem Halse da,
welche die "Administration" nur an ihrem fernen Ende hält. Weil sie aber
nicht mehr wie ehedem daran zieht, so merkt man ihre Existenz nur wenig
... Und kommst du heute in eine dieser Kolonien, dann hörst du ein ganz anderes
Lied: "Wir sind selbständig" — erzählen sie dir vor allem ändern, mit dem Stolze
von Menschen, die den Wert der Freiheit erkennen. Und dieser Stolz verleitet sie
sogar, das Gute zu übertreiben, wie sie damals das Schlimme übertrieben haben:
"Alles in der Kolonie ist gut und schön. Sie steht fest und sicher und geizt
nicht mit den Erträgnissen. Zwar geht es einigen noch schlecht — doch was liegt
daran? Überall gibt es Leute, die keinen Erfolg haben. Wem es nicht glückt, der
mache einem andern Platz. Die Hauptsache ist, dass die Kolonie als Ganzes
bestehen und sich schön entwickeln kann. Es fehlt zwar noch dies und jenes, und
wir können den Mangel nicht ersetzen. Aber mit der Zeit wird auch dies gehen.
Man muß nur geduldig arbeiten, und alles kommt zur rechten Zeit." Das ist der
Grundton, der mir in fast allen Kolonien die ich durchreiste, ans Ohr drang (5).
Und wer wie ich nach Palästina kommt, mit trüben Erinnerungen aus vergangenen
Tagen, der hört all dies mit Freude und unendlichem Wohlgefühl an, und er kann
sich sogar in Hinsicht auf die Entwicklung des Jischub überhaupt der Neigung zu
einem entschiedenen Optimismus nicht entschlagen.
Aber all dies ist schön und gut, solange du
den, Jischub wie eine Sache betrachtest, die dir an sich selbst teuer
ist, denkst du aber an das "politische Ziel", den ersten Punkt des "Basler
Programmes" — dann verschwindet sogleich der Optimismus und alles erscheint dir
ärmlich, leer und bedrückend.
Eine dreißigjährige Erfahrung aus dem Leben der
Kolonien muss uns schließlich zur Erkenntnis führen, dass jüdische Kolonien
wohl in Palästina sich behaupten und auch sich mehren können, aber jüdische
Bauern —
solche
Bauern, auf die die "gesicherte Heimstätte" sich gründen muss — können wir in
Palästina nur in sehr geringer Zahl erschaffen die in keinem Verhältnis zu jenem
Ziele steht. Der Jude ist geistig zu regsam, zu sehr Kulturmensch, und darum
nicht fähig, all sein Leben und Wünschen auf ein kleines Stück Boden zu
beschränken und sich damit zu bescheiden, wenn er im Schweiße seines Angesichts
dürftigen Unterhalt aus ihm schöpft. Er hat nicht mehr jene primitive Einfalt
des echten Bauern, dessen Seele an die Scholle gebunden ist, der seine Welt in
seiner Arbeit sieht und den Blick nicht jenseits seiner vier Ellen richtet, als
sagte ihm eine göttliche Stimme, dass er dazu geschaffen sei, Sklave des Bodens
zu sein, zusammen mit seinem Ochsen und seinem Esel, und dass er ohne weitere
Gedanken seine Rolle im Leben zu erfüllen habe. Jenes ländliche Idyll, das wir
vor dreißig Jahren in der Phantasie erblickten, hat sich nicht verwirklicht und
kann sich nicht im Leben verwirklichen. Der Jude kann ein fleißiger "Farmer"
sein, ein ländlicher Besitzer wie Boas (6) in der Bibel, der sich von der
Bodenarbeit ernährt, darin kundig und eifrig; jeden Morgen geht er hinaus nach
seinem Acker oder Weinberg, um seine Arbeiter zu beaufsichtigen, welche pflügen
oder säen, pflanzen oder seine Weinstöcke pfropfen, und scheut sich auch nicht,
selbst Hand anzulegen zusammen mit seinen Arbeitern, wenn er es für notwendig
findet, und überhaupt ist er dem Boden und der Natur nahe und in seiner
Geistesrichtung verschieden vom städtischen Juden. Gleichzeitig aber strebt er
danach, wie ein Kulturmensch zu leben sich physisch und seelisch an den Früchten
der Kultur seiner Zeit zu erfreuen, und der Boden füllt nicht sein ganzes Wesen
aus. Dieser schöne Typus ersteht in Palästina vor unseren Augen und wird im
Laufe der Zeit sicherlich zu einer Stufe ungewöhnlicher Vollkommenheit gelangen.
Was nützt dies aber der "gesicherten Heimstätte?" Eine "obere" Klasse solcher
Bauern, die von der Arbeit anderer abhängt, kann nicht den Grundstock
eines solchen Gebäudes bilden. Den Grundstock im Leben jedes Staates bildet die
bäuerliche Masse, die Arbeiter und armen Bauern, die sich mühselig von
ihrer eigenen Hände Arbeit nähren, sei es auf ihrem kleinen Anteil oder
auf Feldern, die der "oberen Klasse" gehören. Die Bauernmasse in Palästina aber
ist gegenwärtig nicht unser, und es ist schwer, sich vorzustellen, dass sie es
in Zukunft sein wird, auch wenn die Zahl unserer Kolonien an allen Ecken und
Enden des Landes sich erhöht. Für die Gegenwart ist es ja bekannt, dass
die Arbeit in unseren Kolonien zum großen Teile durch Bewohner der benachbarten
arabischen Dörfer verrichtet wird, darunter von "Tagelöhnern", die morgens
kommen und abends in ihre Dörfer zurückkehren, und ständigen Arbeitern, die mit
Weib und Kind in der Kolonie wohnen, und alle zusammen arbeiten mit uns an der
"gesicherten Heimstätte."
Und in Zukunft — wenn sich die Zahl der
Kolonien erhöht, wird dies durch vermögende Leute geschehen, welche auch
ihrerseits "reiche" Kolonien des erwähnten Typus gründen werden. Kolonien für
Arme können nur durch öffentliche Institutionen gegründet werden, und auch nur
in sehr beschränkter Zahl, die nichts bedeutet gegenüber dem Bedürfnis eine
Bauernmasse zu schaffen, die das Land füllen und durch ihrer Hände Arbeit
erobern könnte. Und das wird auch durch die Agrarbank nicht viel anders werden.
Denn auch sie, trotz alles Großen, das man von ihr prophezeit, kann mehr zur
Gründung "reicher" Kolonien helfen, als aus eigener Kraft Kolonien für Arme
gründen. Und wer weiß, ob die Unmöglichkeit, solche Kolonien in großer Menge zu
gründen, nicht zu jenen Übeln gehört, von denen man sagt: "Auch dies ist zum
Guten", weil ihre größere Vermehrung bewirken würde, dass sie alle voll von
Menschen würden, die unfähig wären, eine so schwierige Aufgabe zu erfüllen, und
man nur, wenn ihrer verhältnismäßig wenige sind, auf ihren Bestand und ihre
Entwicklung durch "natürliche Auslese" hoffen kann; wer nicht die erforderlichen
Fähigkeiten hat, wird seinen Platz einem Andern lassen müssen, bis sich in den
Kolonien jene Einzelnen sammeln, wirkliche Bauern ihren Eigenschaften nach, wie
sie sich noch hie und da unter uns finden (7).
Wie dem auch sei — nicht auf diesem Wege wird
uns die Bauernmasse geschaffen werden. Doch könnte man meinen: sie wird sich von
selbst bilden eben in jenen reichen Kolonien durch die natürliche Vermehrung der
Bewohner und die dadurch notwendige Bodenverteilung, so dass die Kinder oder
Kindeskinder der heutigen Farmer selber arme Bauern sein werden, die nur von
ihrer Hände Arbeit leben. — Auch das ist eine trügerische Hoffnung, welche durch
die Erfahrung Lügen gestraft wird. Die Söhne, die in der Kolonie geboren sind,
sind gleichfalls aufgeklärte Juden. Wenn der Sohn sieht, dass das Erbe seiner
Väter ihm nicht die Möglichkeit gibt, ein einigermaßen vermögender "Farmer" zu
sein, dass ihm vielmehr bestimmt sei, einer jener armen "Agrarsklaven" zu
werden, deren die Welt zu ihrem Bestande nicht entraten kann — dann verlässt er
die Kolonie, um sein Glück jenseits des Meeres zu suchen, und es wird ihm
leichter, dort Fronarbeit zu leisten, wenn er nur von der Bodenarbeit frei sein
und reiche Zukunftspläne spinnen kann. Und wenn ihr glaubt, dass in den Herzen
dieser Kinder kein Gefühl der Liebe für Palästina lebt, dann verdächtigt ihr sie
mit Unrecht. Die meisten lieben in der Tat das Land und sehnen sich, auch
nachdem sie es verlassen haben, zurück (manche kehren auch nach Jahren zurück,
wenn sie sich drüben genug erworben haben, um in Palästina ein auskömmliches
Leben führen zu können). Das Unglück aber ist, dass die Liebe zum Lande
allein nicht die Kraft hat, Bauern großzuziehen; dazu bedarf es noch einer
Liebe zum Boden. Dem wirklichen Bauer ist es, wenn er sich vom Boden trennt,
als wenn er sich vom Leben trennte. Das Band zwischen ihm und dem Boden, der
Väter Erbe durch Geschlechter hindurch, ist bei ihm so stark und tief, dass er
es nicht zerschneiden kann. Darum will er lieber Armut und Mangel leiden, sein
Leben lang wie ein Ochs am Joche sein — als dass er den Boden verließe. Diese
Eigenschaft verringert sich auch dort, wo sie vorhanden ist, durch Berührung mit
einer kulturellen Umgebung; um so weniger ist es möglich, sie dort zu erzeugen,
wo sie nicht vorhanden ist, und gar in einem Volke wie dem unsrigen, in das
zweitausend Jahre der "Wanderschaft" just die entgegengesetzten Eigenschaften
eingepflanzt haben.
Bleibt nur noch eine Hoffnung:
jene jungen
Arbeiter, die aus dem Auslande kommen, zunächst mit der Absicht, ihr
Leben auf dem Altare des nationalen Gedankens darzubringen, die Arbeit in
Palästina zu erobern, und in unseren schon bestehenden oder erst zu gründenden
Kolonien jene Landbevölkerung zu schaffen, die darin noch fehlt. Nicht umsonst
steht in der letzten Zeit die Arbeiterfrage beinahe im Mittelpunkte der ganzen
Ansiedlungsfrage. Alle fühlen, dass sie in der Tat eine größere Frage in sich
schließt: die Zielfrage des Zionismus überhaupt. Wenn es auch diesen
Arbeitern nicht gelingen sollte, den Mangel auszufüllen, so ist dies ein
Zeichen, dass auch der nationale Idealismus nicht die Kraft besitzt, die
notwendigen seelischen Eigenschaften zu erschaffen, und wir müssen uns mit dem
Gedanken aussöhnen, dass unsere ländliche Kolonisation in Palästina, wenn
sie selbst im Laufe der Zeit das Maximum erreicht, doch immer eine obere Schicht
eines kleineren kulturell entwickelten Elements bilden wird, das in der
Intelligenz und im Vermögen seine Kraft hat, die breite Landbevölkerung hingegen
auch dann nicht unser sein wird. Und dies verschiebt gänzlich Wesen und Ziel des
Zionismus. So ist es denn nicht zu verwundern, dass die Zahl der Vorschläge "zur
Verbesserung der Lage der Arbeiter" sich so gesteigert hat. Alle sehen nämlich,
dass bis jetzt die Arbeiter in ihrer Mission nicht viele Erfolge errungen haben,
dass innerhalb der letzten Jahre der Wegziehenden viele und der Ankommenden nur
wenige waren — und die übrigen sich in einem unsichern Zustand befinden. So
neigt man denn allenthalben dahin, die Ursachen dafür in gewissen äußeren
Schwierigkeiten zu sehen, und sucht Mittel und Wege, diese Schwierigkeiten zu
überwinden: auf die Kolonisten einzuwirken, dass sie die jüdischen Arbeiter den
arabischen vorziehen, den Arbeitern selbst leichtere Lebensbedingungen in Bezug
auf Wohnung und Verpflegung zu schaffen, und ähnliche Vorschläge, die allgemein
bekannt sind. Und wenn all dies ausgeführt werden wird — damit beruhigt sich das
zionistische Publikum — dann werde mit der Arbeit die Zahl der jüdischen
Arbeiter stetig wachsen, und wie jene mit dem Wachstum des Jischub sich
vergrößert, wird unsere Landbevölkerung, die sie leistet, sich mehren, und die
"gesicherte Heimstätte" wird buchstäblich durch unsere Hände vom Grund bis zum
Giebel erbaut werden.
Doch, wie es scheint, ist die Zeit nicht mehr
ferne, da die äußeren Hindernisse den Arbeitern nicht mehr im Wege stehen oder
zumindest sich so verringert haben werden, dass es unmöglich sein wird, sie als
die starre Mauer anzusehen die den Weg versperrt. Der Nationalfonds und andere
Institutionen bemühen sich bereits vielfach um die Verbesserung der Lage der
Arbeiter, und ohne Zweifel wird alles, was man tun kann, allmählich getan
wenden. Auch das größte Hindernis: das schlechte Verhältnis zwischen Arbeitern
und Kolonisten nimmt in offensichtlicher Weise ab. Auf der einen Seite hat schon
die Mehrzahl der Arbeiter erkannt, dass es nicht gerecht ist, von wem immer zu
verlangen, er solle Menschen liebevoll aufnehmen, die auf ihn vom Himmel
herabblicken und sich nicht scheuen, eine Art von innerem Haß und Verachtung
gegen den "Bourgeois" zur Schau zu tragen, und darum befleißigen sie sich jetzt
einer wesentlich freundlicheren Art als vordem. Andererseits beginnen auch die
Kolonisten einzusehen, dass die Steigerung der jüdischen Arbeit in der Kolonie
nicht nur Pflicht, sondern auch vorteilhaft ist (worauf schon viele hingewiesen
haben und was deshalb nicht wiederholt werden muss); und daher ist in den
Kolonien schon die Entwicklung einer gewissen Neigung erkennbar, jüdische
Arbeiter nach Maßgabe der Möglichkeit anzunehmen. Bis jetzt freilich glaubt man
in den meisten Kolonien, dass diese Möglichkeit auf einen sehr engen Kreis
beschränkt ist. (Auch ihre Argumente sind bekannt und bedürfen keiner
Erklärung.) Wie weit jener Glaube berechtigt ist, kann der für kurze Zeit von
außen Kommende nicht klar entscheiden. Im allgemeinen jedoch zweifle ich nicht,
dass, je mehr die innere Neigung zur Annahme jüdischer Arbeiter sich
entwickeln wird, desto mehr sich auch von selbst der "Kreis der Möglichkeit"
erweitern wird, bis etwa an einen Punkt, wo diese Möglichkeit wirklich aufhört.
Dann aber, wenn die äußeren Hindernisse, die
wir beiseite zu schaffen die Macht haben, aus dem Wege geräumt sein werden, dann
werden wir uns davon überzeugen, dass größere Hindernisse, Hindernisse, die
nicht von uns zu beseitigen sind, im Wege liegen.
In allen Kolonien und Farmen, die ich besuchte,
habe ich viele Gespräche mit den Arbeitern geführt und ihren Worten aufmerksam
gelauscht. Viele verschiedene und entgegengesetzte Anschauungen hörte ich von
ihnen. Selbst in sehr wichtigen Fragen sind sie nicht immer alle einer Ansicht.
Dennoch hat sich in mein Herz ein allgemeiner Eindruck eingeprägt auf Grund all
dieser Gespräche. Und dieser Eindruck hat in mir den Glauben an die Kraft dieser
jungen Leute, die große Aufgabe zu erfüllen, die sie auf sich genommen, nicht
verstärkt.
Die jungen Arbeiter, die zur "Eroberung der
Arbeit" nach Erez Israel kommen, bringen ihrer Mehrzahl nach bereits vom
Auslande die Hoffnung mit, nach einigen Arbeitsjahren in die Klasse
selbständiger Kolonisten aufzusteigen, und nur wenige kommen von vornherein mit
der Absicht, ihr Leben lang "Arbeiter" zu bleiben. Diese wie jene arbeiten eine
Zeit lang mit Begeisterung, mit Hingabe, schließlich aber beginnt die Frage um
die Zukunft in ihrem Kopfe zu nagen. Nicht zu sprechen von
jenen, die gleich anfangs mit der Hoffnung kamen, Kolonisten zu werden, und dann
sehen, wie fern die Erfüllung ihrer Hoffnung liegt. Selbst jene, die nur um der
Arbeit willen kamen, beginnen zu empfinden, dass ein solches Leben für eine Zeit
hindurch gut und schön ist, immer aber so zu leben — das geht, über ihre Kraft.
Der "Kulturmensch" in jedem von ihnen beginnt seine Rechte geltend zu machten
und kann sich nicht mit dem Gedanken befreunden, alle Tage des Lebens vom Morgen
bis zum Abend mit dem Spaten arbeiten oder hinter dem Pfluge gehen und
bestenfalls sein Brot in Not und Dürftigkeit finden zu müssen. Willensschwache
unter ihnen verlassen dann bitteren Herzens das Land, die Hartnäckigen bleiben
mit bitterem Herzen — und du siehst sie dann, wie sie wandern von Kolonie zu
Kolonie, einige Zeit an einem Orte arbeiten, um plötzlich anderswohin zu gehen,
nicht um bessere Arbeitsbedingungen zu finden, sondern weil ihr Geist ruhelos
und kein Friede in ihnen ist.
Im allgemeinen lassen sich die Arbeiter, die
man jetzt im Lande findet, in vier Klassen einteilen: 1. Einfache Arbeiter, die
den Spaten führen oder ähnliche grobe Arbeit verrichten, — sie verdienen
mühevoll das Notdürftigste. Diese Klasse ist mit ihrem Lose absolut nicht
zufrieden, viele von ihren Angehörigen haben das Land verlassen, und andere
werden es tun, während die Zurückbleibenden zumeist in die anderen Klassen
übertreten – 2. Arbeiter, die zu speziellen Arbeitsgebieten befähigt sind,
welche Geschicklichkeit und Umsicht erfordern (z.B. das "Pfropfen"). Sie haben
ein gutes Einkommen und ihre Lage ist keine schlechte. Trotzdem streben sie
meist danach, in die dritte Klasse überzutreten. – 3. Eine Klasse gemischten
Berufes, halb Arbeiter, halb Kolonisten, wo jeder einen kleinen Besitz in der
Nähe einer Kolonie hat und in seinem Eigentum arbeitet und nur, was ihm zum
notwendigen Bedarfe mangelt, durch Arbeit bei anderen Kolonisten ergänzt. Oder,
wenn ihre Landstücke besondere klein sind, umgekehrt: der größte Teil ihrer
Arbeit wird bei anderen getan der geringere im eigenen Besitz. Dieser Versuch
wurde bekanntlich seitens verschiedener Institutionen unternommen, welche in
oder in der Nähe von Kolonien Boden gekauft und unter hierzu ausgewählte
Arbeiter verteilt haben. An einigen Orten gibt es Arbeiter, welche in der
Bearbeitung ihres Eigentums Erfolg haben, und so hoffen sie, dass sie in
unferner Zeit aufhören können, Arbeiter zu sein, um "freie Bauern" zu werden. –
4. Jene Arbeiter, welche dieses Ideal bereits erreicht haben, "freie Bauern"
geworden sind und nicht mehr bei anderen arbeiten – einstweilen aber noch
manchmal zu den Arbeitern gezählt werden, weil sich bei ihnen ein gewisses nahes
Verhältnis zu der "Klasse", aus deren Mitte sie hervorgegangen sind, erhalten
hat. Diese Klasse zählt nicht viele Mitglieder, die meisten gehören zu jenen,
welche die ICA in ihren Kolonien in Untergaliläa bekanntlich nach dem
Pächter-(Metavage)-System angesiedelt hat. Ihre Besitzteile sind verhältnismäßig
groß, und sie haben weder Zeit noch die Notwendigkeit, bei anderen zu arbeiten;
im Gegenteile: sie selber sind zu bestimmten Zeiten auf Arbeiter angewiesen. Und
dann, wenn sie, die Arbeiter von gestern, "Arbeitgeber" werden, dann
geben sie die Arbeit nicht immer gerade an Juden! ….
Diese letztere Erscheinung hat die ganze Zeit
meines Aufenthaltes in Palästina meine Gedanken beschäftigt. Ich kannte unter
diesen Kolonisten junge Leute, welche früher zu den Besten der Arbeiter
gerechnet wurden, nicht allein ihrer Fähigkeit zur Arbeit wegen, sondern auch
gemäß ihren sittlichen Eigenschaften und ihrer Hingabe an das nationale Ideal.
Und ich fragte mich: Wenn diese, da die Versuchung an sie herantrat, ihr nicht
standhalten konnten, ist es vielleicht in der Tat unmöglich ihr standzuhalten;
einerlei ob aus jenen Gründen, welche die Kolonisten immer im Munde führen, ob
aus anderen. Als ich aber die Frage jenen Arbeitern vorlegte, die sich noch
nicht "kolonisiert" hatten, da antworteten sie mir, dass diesen ihren Genossen,
seitdem sie Kolonisten geworden, die Proletarierseele entflogen sei und sich
ihre "Psychologie" geändert habe. Da fragte ich Weiter: "Wenn so, wo ist der
Ausweg? Ihr sagtet mir ja selbst, dass die Mehrzahl eurer Genossen nach
Palästina kommt mit der Hoffnung, im Laufe der Zeit zu Kolonisten zu werden, und
dass eben darum, seit sich diese Hoffnung verringerte (infolge der Änderung im
Systeme der ICA, welche aufgehört hat, auf ihrem Boden Arbeiter anzusiedeln, die
nicht über eine bestimmte Summe verfügen), auch der neu Ankommenden weniger
werden. Und wenn die Arbeiter mit der Hoffnung auf Kolonisierung kommen, sobald
sie aber kolonisiert sind, die "Schechinah" (8) von ihnen weicht und sie selber
die Bearbeitung ihres Bodens an Fremde übergeben, was ist es dann mit der
Eroberung der Arbeit, und wozu die ganze Beschwerde?"
Auf diese Frage konnten mir die Arbeiter
nirgends eine befriedigende Antwort geben (9).
Dies ist also der Zustand der "praktischen
Arbeit in Palästina" und ihrer Beziehung zur "Erlösung von Volk und Land." Die
Hoffnung auf Erlösung für die Zukunft ist eine uralte nationale Hoffnung, die
noch jetzt im Herzen eines jeden stammestreuen Juden lebt, sei es in religiöser,
sei es in anderer Form. Und jeder Einzelne kann sich ihre Erfüllung in einer
Weise ausmalen, wie sie seinem Herzen am nächsten liegt, ohne mit der
gegenwärtigen Wirklichkeit zu rechnen. Denn wer weiß, was im Schoße
der fernen Zukunft verborgen liegt? Wenn aber Menschen kommen, um durch
ihre Arbeit die Erlösung zu bringen, dann dürfen sie ihre Blicke
von der Wirklichkeit nicht mehr abwenden, und es muss ein natürliches Band
gefunden werden, ein Band von Ursache und Wirkung, zwischen dem, was sie tun,
und dem, was sie durch ihr Tun erreichen wollen. Und ein solches Band zwischen
der "praktischen Arbeit in Palästina" und der Erlösung von Volk und Land — das
könnt ihr wohl in der Phantasie aus der Ferne euch ausmalen, in Palästina selber
ist sogar in der Phantasie kein Platz dafür. Hier ist es allzu offenbar, was
durch solche Arbeit zu erreichen möglich oder unmöglich
ist: möglich ist es, vereinzelte Bodenstücke hier und dort zu erwerben,
unmöglich das Land als Ganzes oder seinen größten Teil loszukaufen; möglich
ist es, schöne jüdische Kolonien auf den gekauften Bodenstücken zu gründen, aber
unmöglich darauf Arme anzusiedeln, außer in sehr kleiner Zahl. Möglich ist es,
in den Kolonien Landwirte eines höheren Typus zu schaffen, deren Arbeit
größtenteils durch andere verrichtet wird, möglich vielleicht auch, eine kleine
Arbeiterklasse für die feineren Arbeiten zu schaffen, die leichter sind und
besser entlohnt werden, unmöglich aber eine bäuerliche Masse zu schaffen
— eine
wirkliche Volksmasse, — die jene rohe und schwere Arbeit okkupieren
könnte, welche viel braucht und wenig gibt, und auf die allein eine Bauernmasse
von Tausenden und Zehntausenden sich gründen kann (10).
Man sollte nun erwarten, dass unter diesen
Umständen jeder, der nach Palästina kommt und den Maßstab der "gesicherten
Heimstätte" mit sich bringt, um daran den Wert der dortigen Werke zu messen,
gebrochenen Herzens und voller Verzweiflung nach Hause zurückkehren wird.
Dennoch sehen wir tagtäglich das Gegenteil davon: "ehrliche" Zionisten, welche
im Auslande über die Erlösung von Volk und Land viel hohe Dinge sprechen, kommen
nach Palästina, sehen, was sie sehen — und kehren nach Hause fröhlich und in
guter Stimmung zurück, voll von Entzücken und Begeisterung, als hätte ihr Ohr
die Posaune des Messias vom Ölberge her gehört!
Es ist eben wie ich sagte: an der Oberfläche
herrscht das "Programm" und alle erscheinen in Wirklichkeit wie Menschen, welche
glauben, die Erlösung durch ihre
Arbeit zu bringen; während in den Tiefen der Herzen ganz unbewußt das
Gefühl für den nationalen Bestand das herrschende ist, und dieses drängt
und drängt zu solcher Arbeit, nicht um das Programm zu erfüllen, sondern um
sein Bedürfen zu befriedigen. Und wenn der "ehrliche" Zionist nach Palästina
kommt und mit eigenen Augen die Arbeit und ihre Früchte sieht, dann empfindet er
in allen Kammern seiner Seele, wie groß und hoch das ist, was allmählich
geschaffen wird, und wie stark seine Kraft sein wird, unseren nationalen Bestand
in allen Ländern, in die wir verbannt sind, zu stärken, ob nun volle Erlösung
daraus hervorgeht oder nicht. Und dann nimmt die Erlösung wieder den ihr
gebührenden bescheidenen Platz ein bei den teuren Hoffnungen, für die noch nicht
die Stunde gekommen ist, Ziele für Taten zu sein. Und jenes Ziel, das
in Wirklichkeit mit der gegenwärtigen Arbeit verknüpft ist und durch
diese Arbeit immer näher gerückt wird - erscheint auch an sich selbst groß und
schön genug, auf dass das Herz von "Entzücken und Begeisterung erfüllt werde."
Ich schäme mich vor den Lesern und vor mir
selbst noch einmal im Einzelnen - nach mehr als zwanzig Jahren von Erklärung
nach Erklärung — darzustellen, was der Wert dieses Zieles ist, auf welches ich
da hingewiesen habe. Aber ich scheue mich nicht, offen zu gestehen, dass, es mir
diesmal in Palästina vorkam, als sähe ich mit Augen den "Traum" den ich vor
zwanzig Jahren geträumt, allmählich zur Wirklichkeit werden, wenn auch mit
veränderten Einzelheiten – denn "kein Traum ohne unwahre Dinge" (11). Was schon
jetzt in Palästina sichtbar wird, gibt ein Recht dazu, getrosten Herzens zu
sagen: Ja, Palästina wird einst ein geistig-nationales Zentrum für das Judentum
sein, "ein Zentrum, das dem ganzen Volke lieb und teuer ist und das ganze Volk
vereinigt und verbindet; ein Zentrum der Thora und der Wissenschaft, der Sprache
und Literatur, der körperlichen Arbeit und der seelischen Reinheit eine echte
Miniatur des jüdischen Volkes wie es sein sollte . . . Und ein jeder Jude in der
Zerstreuung betrachtet es als ein Glück, wenigstens einmal in seinem Leben das
"Zentrum des Judentums" zu sehen, und wenn er in seine Heimat zurückkehrt, sagt
er zu seinen Freunden: Wenn ihr den echten Typus eines Juden in
seiner urwüchsigen Gestalt sehen wollt, sei es ein Rabbiner,
Gelehrter oder Schriftsteller, sei es ein Bauer, Handwerker oder Händler, dann
geht nach Palästina, und ihr werdet ihn zu sehen bekommen..." (12).
Noch ist nicht wirklich die Stunde gekommen und
wird auch nicht in naher Zukunft kommen, dass ein Jude. der aus Palästina
zurückkehrt, von dem jüdischen Typus in seiner "urwüchsigen Gestalt" zu dem
Nächsten sagen kann- Geh´ nach Palästina, so wirst du ihn sehen!" Aber schon
kann er sagen und sagt es auch in Wirklichkeit: "Geh' nach Palästina und du
wirst sehen, wie er sich bildet!" Die bestehenden Kolonien, trotzdem ihre
Arbeit zumeist nicht durch jüdische Hände getan ward, erscheinen ihm, dem Juden,
der aus dem Golus kommt, wie kleine Schöpfungszentren, in denen der neue Typus
nationalen Lebens, der seinesgleichen im Golus nicht hat, herausgewoben wird.
Kommt er in eine jüdische Kolonie, so fühlt er sich sofort von einer
hebräisch-nationalen Atmosphäre umgeben. Alle Lebensordnung, alle
Gemeinschaftsgründungen, vom "Waad der Kolonie" bis zur Schule, tragen jüdische
Prägung, ohne dass in ihnen, wie in den Ländern des Golus, fremder Einfluß zu
erkennen wäre, der wie ein Strom aus der anderen Umgebung hereinbricht und die
hebräische Prägung verwischt. Freilich, nicht alles findet er gut und
preisenswert, viele Mängel muss er — wenn er Augen hat — entdecken, sowohl im
öffentlichen als im privaten Leben; sogar die Schule in der Kolonie ist zumeist
noch sehr weit von Vollkommenheit entfernt, selbst die Vorherrschaft der
hebräischen Sprache in den Kolonien, worauf soviel hingewiesen wird, ist
vorläufig noch eine halbe Herrschaft. Sie bezieht sich nur auf die Welt der
Kinder. Aber — wird er sich sagen — es steht alles doch noch im Stadium des
ersten Wachstums, die freie Entwicklung hat ja erst begonnen und
sie schreitet doch fort. Viele dieser Fehler werden im Laufe der Zeit geheilt
werden, und was nicht geheilt werden kann - ist ein Fehler in u n s, der in
unserer nationalen Eigenart wurzelt; und wenn wir die Schöpfung des jüdischen
Typus in seiner wahren Eigenart erstreben, dann müssen wir sein Gutes wie sein
Schlimmes annehmen, wenn dies und jenes nur aus seinem Wesen hervorquillt und
wenigstens nichts von der Verfälschung an sich hat, die im Golus
gewöhnlich ist. — Und es wandert dieser Jude von einer Kolonie zur anderen, und
manchmal sind sie viele Stunden voneinander entfernt, und fremde Felder und
Dörfer erfüllen den ganzen Zwischenraum. Dennoch sieht er in den Zwischenräumen
eine Art menschenleerer Wüste, und nach der "Wüste" wieder "Kultur", und er lebt
wieder in hebräisch-nationaler Atmosphäre, die sein Herz so sehr erlabt. Es
vergehen die Tage oder die Wochen, und es dünkt ihn, als hätte er die ganze Zeit
in einer 95 anderen Welt gelebt, in einer Welt der fernen Vergangenheit oder der
fernen Zukunft. Und wenn er aus dieser Welt heraustritt, dann sagt er sich: "Ist
dem Jetzt schon so, was wird dann erst sein, wenn die Zahl der Kolonien sich
mehren und ihre Gestalt sich vervollkommnen wird?" Dann erkennt er, dass
h i e r, in diesem Lande, die Lösung für die Frage unserer nationalen Existenz
zu finden ist, dass von hier aus der Geist ausgehen und über die morschen
Gebeine wehen wird, die in Ost und West, in allen Ländern, unter allen Völkern
zerstreut sind - und daß sie wieder leben werden.
Indes, von dieser Anschauung aus, beschränkt
sich der Begriff der "praktischen Arbeit" nicht auf die ländlichen Kolonien
allein. Schöpfungszentren für jenen hebräisch-nationalen Typus wird man finden
können und findet man auch wirklich außerhalb des Gebietes der ländlichen
Ansiedlung. Viele von den Zionisten beklagen sich über die Verwalter des
"Nationalfonds", weil sie einen beträchtlichen Teil seines Vermögens in den Bau
jüdischer Stadtviertel ("Tel Awiw" und anderer) hineinstecken. Vom Standpunkt
des "Programms" ist die Klage gewiss berechtigt. Der Fonds wurde geschaffen zum
"Loskauf des Landes" im weiten Sinne dieses Begriffs, nicht um städtischen
Boden, der nach Ellen gemessen wird, zu kaufen und darauf einfach Wohnhäuser für
Juden zu bauen. Aber wie gesagt, die Arbeit fügt sich nicht den Forderungen des
Programms, sondern der Stimme des inneren Gefühls, das ihren Weg vorzeichnet.
Und wenn jener Jude, der aus dem Golus kommt, nur einige Tage in "Tel Awiw"
sitzt, das Leben dort betrachtet und die jüdischen Kinder sieht, die dort
heranwachsen - dann wird er sich nicht über den Nationalfonds beklagen. der die
Möglichkeit gab, ein solches Schöpfungszentrum zu gründen, und wird aus ganzem
Herzen wünschen dass dessen Leiter die Sünde noch vergrößern, damit auch in den
übrigen Städten des Landes noch solche Mittelpunkte hinzukommen.
Und die hebräischen Schulen in Jaffa und
Jerusalem - ist es erst nötig zu beweisen, dass jede einzelne von ihnen ein
Zentrum ständiger Arbeit ist für die Schaffung "des echten Typus eines Juden" in
seiner urwüchsigen Gestalt? Auch diese Arbeit, die Arbeit des Erziehungswesens
in Palästina fügt sich nicht gut ins "Programm". "Welchen Wert hat die
Jugenderziehung in nationalem Geiste, solange das L a n d nicht erlöst und das
Volk nicht eingezogen ist und diese Jugend selbst vielleicht ihrer Mehrzahl nach
nicht im Lande verbleiben wird? Loskauf des Landes, Erweiterung der Ansiedlung,
Eroberung der Arbeit — das Sind die Wege, die zur Verwirklichung des Programmes
führen. Aber die Erziehung? — Sobald die Juden in Palästina zahlreich sein
werden, wird die nationale Erziehung von selbst kommen und jetzt hat man kein
Recht, für geistige
Dinge die Mittel auszugeben, die für wesentlichere Dinge notwendig sind." So
wenden viele ein, und ich zweifle sehr, ob es möglich ist, solch einen Einwand
mit Vernunftgründen auf Grund des "Programmes" niederzuschlagen. Welche Kraft
hat aber der Gedanke, wenn das Herz nach einer anderen Seite zieht? Jene
"Politiker" selber, welche durch die "praktische Arbeit" in Palästina die
Erlösung zu, bringen versprechen, verwenden einen großen Teil ihrer Kraft auf
das Erziehungswerk, und das zionistische Publikum in seiner Gesamtheit liebt
diese Arbeit und fühlt sich immer mehr zu ihr hingezogen. Und willst du wissen,
warum, dann höre, was man in zionistischen Versammlungen, wenn die "Kulturarbeit
in Palästina" auf der Tagesordnung ist, zu sprechen pflegt: die Bringer der
Erlösung vergessen für den Augenblick das "Programm", die "gesicherte
Heimstätte" und alle anderen bekannten Worte, um einen Hymnus auf die
"Neubelebung des Geistes" anzustimmen, durch die ein neuer jüdischer Typus
geschaffen werde und verheißen sich von diesem Typus ein Band, welches das ganze
im Golus zerstreute Volk vereinigen soll, und weisen mit dem Finger auf den
Einfluß, der schon jetzt von den Schulen in Palästina ausgeht zur Verbesserung
der Erziehung im Golus und Ähnliches dergleichen ...
Ich sah die Erziehungsarbeit in Palästina in
ihren Anfängen, vor achtzehn Jahren, und ich hatte damals nicht zu glauben
vermocht, dass es diesen vereinzelten Lehrern, die das große Ideal hebräischer
Erziehung in hebräischer Sprache im Herzen trugen und es mit ihrer beschränkten
Kraft in die Tat umzusetzen begannen, ernstlich gelingen werde, eine solche
geistige Umwandlung in unserer Welt hervorzurufen. Aber zugleich sah ich auch
das große Sehnen nach der Erreichung ihres Zieles in den Herzen dieser Männer
und ihr starkes Vertrauen in das Gelingen ihres Werkes und ich sagte mir: "Wer
weiß? Vielleicht wächst noch die Kraft dieses Vertrauens, um Wunder zu wirken."
(13) Und nun kam ich und sah, daß das "Vertrauen" in der Tat Wunder gewirkt hat.
"Hebräische Erziehung in "hebräischer Sprache" ist kein Ideal mehr in Palästina,
sondern das Leben selbst, eine natürliche Erscheinung deren Existenz notwendig
und deren Fehlen undenkbar ist. Verblieben sind freilich einige vereinzelte,
noch nicht eroberte Bollwerke, aber auch diese werden genötigt sein, sich den
Forderungen der Zeit zu ergeben, wie es mit anderen bereits geschehen ist. Wer
zum Beispiel die Erziehungsinstitute des deutschen Hilfevereins in Jerusalem
sieht, von den Kindergärten bis zum Lehrerseminar, mit ihren sechzehnhundert
Schülern und Schülerinnen, welche – außer einem letzten Rest deutscher
Erziehung, der hie und da wahrzunehmen ist - in hebräischem Geist und
hebräischer Stäche erzogen werden - wer all dies jetzt sieht und dabei weiß wie
es ehemals war, der muss gestehen, dass wahrhaftig eine "Umwälzung" im Lande
vorgegangen ist und der hebräische Lehrer gesiegt hat . . . (14).
Noch ist die Arbeit groß, bis der Sieg auch
nach innen vollkommen sein wird, bis die hebräische Erziehung ihren
richtigen Weg auf allen Gebieten finden wird und bis ihre bis jetzt noch
zahlreichen Mängel behoben ein werden. Aber schon hat der Sieger seine Ausdauer
und Qpferwilligkeit für seine Sehnsucht erwiesen und wir können auf ihn bauen,
dass er nicht ruhen noch rasten wird, bis er die hebräische Erziehung in
Palästina auf jene Vollkommenheitsstufe erhebt, die notwendig ist, um
mustergültig zu sein für die Söhne unseres Volkes in allen Ländern, als ein
Grundtypus nationaler Erziehung überhaupt, dem zu nähern man sich bestreben
wird, soweit die Möglichkeit hierfür im Goms reicht.
Und noch ein städtischer Schöpfungsmittelpunkt
anderer Art wurde in den letzten Jahren geschaffen — gleichfalls durch die Kraft
des starken "Vertrauens" eines Einzelnen — und auch hier ließen sich weder die
Zionisten noch auch der Nationalfonds zurückhalten, ihm zu Hilfe zu kommen und
ihm die Möglichkeit des Bestandes und der Entwicklung zu geben, obwohl auch dies
mir sehr schwer in den Rahmen des "Programms" sich zwingen lässt. Dies ist
natürlich der "Bezalel" (15). Sein großes Ziel, die Entwicklung der jüdischen
Kunst, wurde bis jetzt nur in geringem Maße erreicht und bis zur höheren Kunst
hat er es noch nicht gebracht. Was er aber schon in den verschiedenen Zweigen
des Gewerbes erreicht hat, berechtigt zu dem Glauben, dass auch hier "die Kraft
des Vertrauens soweit wachsen wird, Wunder zu wirken". Wie dem auch sei,
"Bezalel" ist bereits zu einem reichen Quell geistigen Einflusses geworden, der
sich von Palästina nach fernen Ländern ergießt. Und wer weiß, wie viele Herzen
in der Ferne sich nicht mehr oder weniger ihrem Volke genähert haben bloß durch
die "Teppiche" und die schönen "Spielereien" des "Bezalel". . .
Und alle diese Schöpfungsmittelpunkte, die sich
schon im Lande befinden, verweben sich in unseren Gedanken und erscheinen uns
als ein nationaler Mittelpunkt, dessen Einfluß auf die im Golus Lebenden schon
jetzt, im Anfang seiner Entstehung, deutlich und erkennbar
wird. Darum braucht niemand an Wunder zu glauben, um mit seines Geistes Augen zu
sehen, wie dieses Zentrum an Umfang wächst, an Qualität sich vervollkommnet und
wie sein Einfluß auf den Geist des Volkes sich steigert, bis er zuletzt jenes
Ziel erreicht, das sich das nationale Daseinsgefühl gesetzt hat: unsere
nationale Einheit in der ganzen Welt zu erneuern durch Erneuerung unserer
nationalen Kultur in ihrem historischen Zentrum. Eine "gesicherte
Heimstätte" für unser Volk wird dieses Zentrum auch dann nicht sein, wohl aber
eine Heilstätte für seinen Geist.
Und nachher?
Fraget nicht! In dem Zustande unserer geistigen
Zerstreuung in der Gegenwart können wir gar nicht ermessen wie groß unsere
nationalen Kräfte sind und was durch sie wird erreicht werden können, wenn sie
von ringsumher zu einem Mittelpunkte sich einigen werden und e i n starker und
gesunder Geist alle beleben wird. Jene Geschlechter, welche "nachher" sein
werden— sie werden das Maß ihres Vermögens kennen und ihre Taten danach
bestimmen, wir aber haben es nicht mit dem Verborgenen ferner Zukunft zu tun;
genug, daß wir das Offenbare kennen, das wir und unsere Kinder in naher Zukunft
zu vollbringen haben.
Nachtrag zu dem obigen Aufsatz
Erschien zuerst in der hebräischen Tageszeitung
"Hazefirah", 10. Ab 5672, unter dem Titel Tauth (Irrtum)
Wie vorauszusehen war, habe ich mir durch den
obigen Artikel den Zorn der offiziellen Zionisten, der Bringer der Erlösung
einerseits wie andererseits der "jugendlichen Arbeiter", der "Eroberer der
Arbeit" zugezogen. Und ich stelle gar nicht in Abrede, dass diese Erregung
beiderseits nicht unberechtigt war, und Aufregung macht ja auch einen Irrtum
begreiflich. Der Irrtum aber, der hier beiden Lagern widerfahren ist,
überschreitet die Grenzen dessen, was auch in der Aufregung erlaubt ist: wenn
man die Worte eines anderen in Form einer Karikatur wiedergibt, um dann dieses
Zerrbild mit lautem Siegesgeschrei kurz und klein zu hacken - so lässt ein
solches Vorgehen sich nicht mehr als Irrtum, sondern nur als Entstellung deuten.
Nichtsdestoweniger wollte ich darüber ebenso
stillschweigend hinweggehen wie über viele andere "Irrtümer" ähnlicher Art,
zumal da sich bereits ein (nicht
hebräischer) Schriftsteller gefunden hat, der diese ganze Fälschung aufgezeigt
und den Lesern den wahren Sachverhalt mitgeteilt hat (16). Indes haben
verschiedene private Schreiben, die ich in jüngster Zeit erhielt, mich gelehrt,
dass es nützlich wäre, den zentralen Gedanken, um den der ganze Aufsatz sich
bewegt, nochmals kurz zu betonen. Die eine oder andere der vielen darin
besprochenen Einzelheiten scheint das Interesse mancher Leser dermaßen gefesselt
zu haben, dass sie vor Bäumen den Wald nicht sahen, und den Grundgedanken, um
dessenwillen alle die Einzelheiten angeführt wurden, vergaßen oder nicht voll
erfaßten.
Für eine Erlösung von Volk und Land — oder mit
den Worten des Baseler Programms: eine gesicherte Heimstätte für das jüdische
Volk in Palästina — gewähren die tatsächlichen Lebensbedingungen noch gar keinen
Anhaltspunkt und darum ist es unmöglich, sie unserer praktischen Arbeit in
Palästina zum Ziele zu setzen. Muss ja zwischen jedem Ziel und den zu dessen
Erreichung unternommenen Taten eine natürliche Verbindung, ein kausaler
Zusammenhang bestehen; wir dürfen die Antwort auf die Frage nicht schuldig
bleiben, wie durch diese unsere Taten das Ziel erreicht werden soll. Und solange
ein solcher Zusammenhang nicht besteht und wir auf diese Frage höchstens mit
einem ganz Ungewissen "vielleicht doch . . ., wer weiß . . . die Zeiten können
sich ändern" antworten können . . ., solange dieser Zustand andauert, bedeutet
all dies uns zwar "teuere Hoffnungen", ein
Ideal für ferne Zukunft, nicht aber ein praktisches Ziel,
eine Grundlage für methodische zweckentsprechende Arbeit.
Denn alle methodische Arbeit muss sich notwendig auf eine klare (reale oder
phantastische) Vorstellung von dem kausalen Zusammenhang stützen, der die
verschiedenen Taten untereinander und mit dem Ziele verknüpft.
Der "diplomatische" Zionismus antwortete
klipp und klar auf die erwähnte Frage: die sichere Heimstätte wird erreicht
durch Erteilung des "Charters" seitens der türkischen Regierung unter
Garantie der europäischen Großmächte. Um letztere zu gewinnen, bedurfte es der
Audienzen bei Königen und Fürsten, um sich mit der Türkei ins Einvernehmen zu
setzen einer Großbank, die ihr Anleihen zur Verfügung stellen kann, zur
Entschädigung der Grundeigentümer nach Erreichung des Charters eines reichen
"Nationalfonds" usw. Hier besteht eine klare — wenn auch phantastische —
Vorstellung vom Kausalzusammenhang von Zweck und Mitteln. Und darum durften jene
Zionisten von gestern auch dreist behaupten, dass sie der Sache der
Volkserlösung dienen, dass sie darin nicht ein fernes Ideal, sondern
ein praktisches Ziel, eine Grundlage für methodische Arbeit sehen. Wenn aber die
Zionisten von heute, die aus ihren phantastischen Höhen bereits wieder zur Erde
heimgefunden haben, die das Dogma vom Charter nicht anerkennen und alles von der
praktischen Arbeit in Palästina erwarten, — wenn sie die "Erlösung"
als
Ziel dieser ihrer Arbeit im Munde führen, so spricht das der Logik und
der Wirklichkeit Hohn, da es ihnen unmöglich ist, einen natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen Zweck und Mitteln ihrer Tätigkeit nachzuweisen; ja
im Gegenteil, soweit menschlicher Verstand auf Grund der Tatsachen der Gegenwart
die Zukunft zu berechnen vermag, muss er zu dem Urteil gelangen, dass die
praktische Arbeit in Palästina ungeeignet sei, die Erlösung
herbeizuführen. Freilich, wer mag da den Propheten spielen? Und ist es nicht
möglich, dass die Dinge sich ganz anders entwickeln als man vorher gedacht hätte
und der Wirklichkeit ein ganz neues Gesicht geben? Allerdings ist dies möglich.
Aber eine solche Möglichkeit kann man doch nicht zur Grundlage für
methodische Arbeit machen; das ist kein Ziel für Taten in der
Gegenwart, sondern eine phantastische Hoffnung für ferne Zukunft, ein
erhebendes Ideal, zu dem in der Gegenwart noch kein Weg führt.
Und wenn wir gleichwohl sehen, dass die
praktische Arbeit in Palästina die Herzen in solchem Grade zu gewinnen vermag,
so beweist dies, dass diese Arbeit in Wirklichkeit in Verbindung steht mit einem
anderen Ziele, dem diese Herzen bewusst oder unbewußt zustreben; dass sie in
Wirklichkeit einem wahren nationalen Bedürfnis entgegenkommt, das alle diese
Herzen instinktiv fühlen, weil der nationale Selbsterhaltungstrieb dies ihnen
diktiert, obgleich die klare
Erkenntnis dieses Bedürfnisses ihnen abgeht und sie das wahre Ziel nicht
sehen, dessen Erreichung ihre Arbeit ermöglichen soll.
Und dieses Ziel ist nun: — nicht eine
"gesicherte Heimstätte für das jüdische
Volk", sondern ein "fester Mittelpunkt für den jüdischen
Geist", ein Zentrum, "das zu einem neuen geistigen Bande zwischen
den zerstreuten Teilen des Volkes werden und von seinem Geiste ihnen geben soll,
um sie alle zu neuem nationalen Leben zu wecken." Zwar ist auch der Weg zu
diesem Ziel "noch weit genug", aber doch können wir es schon "am Rande des
Horizonts" erblicken, uns einen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen
ausmalen, durch die wir künftig dieses Ziel auf dem Wege praktischer Arbeit
erreichen werden. Alle Zweige der Palästinaarbeit — nicht nur die Gründung von
Schulen und anderen "geistigen" Dingen, sondern nicht minder der Bodenkauf
und die Anlage von Bauernkolonien und
städtischen Siedlungen — bringen uns nach und nach diesem
Ziele näher, ohne dass wir dabei auf nicht vorauszusehende Glücksfälle rechnen
müßten. Allerdings läßt sich unter den Gliedern dieser Kette von Ursachen und
Wirkungen keine "Erlösung des ganzen Landes oder seines größten Teiles" finden,
noch auch eine "bäuerliche Volksmasse — eine wirkliche
Masse — die das Land ausfüllen und mit ihrer Hände Arbeit
erobern wird." Wohl aber kulturelle Arbeit, materieller wie geistiger Art, in
Stadt und Dorf in hinlänglichem Ausmaße, um das Land "zu einem neuen geistigen
Bande zwischen den zerstreuten Volksteilen" zu machen. Den Beweis dafür bildet —
die kleine und schwache Siedlung, die jetzt schon in Palästina besteht.
Und weil eben diese bestehende Siedlung heute klein und schwach ist, bildet sie
einen entscheidenden Beweis für den gewaltigen Einfluß Palästinas und für die
Erreichbarkeit des erwähnten Zieles auf natürlichem Wege und innerhalb der
Bedingungen der Wirklichkeit, wie sie heute sich uns darstellt. Ist doch bei
aller ihrer Kleinheit und Armseligkeit — "ihr Einfluß auf die im Golus Lebenden
schon jetzt, im Anfang ihrer Entstehung, deutlich und erkennbar" und der "Jude,
der aus dem Golus kommt", wird "freilich wenn er Augen hat, manchen Fehler
entdecken," dabei aber doch den Hauch der Wiedergeburt in dieser Siedlung fühlen
und in ihm eine Anzahl von "kleinen Schöpfungszentren" finden, "in denen der
neue Typus nationalen Lebens, der seinesgleichen im Golus nicht hat,
herausgewoben wird." Und darum dürfen wir aus alledem den Schluß ziehen, dass
"dieser Mittelpunkt, wie er an Quantität wächst, an Qualität sich
vervollkommnen" und "sein Einfluß auf den Geist des Volkes sich steigern" wird.
Und erreicht dieser Einfluß seinen Höhepunkt, so erreichen wir damit auch unser
Ziel: "Die Erneuerung unserer nationalen Einheit in der ganzen Welt durch
Erneuerung unserer nationale? Kultur in ihrem historischen Zentrum."
Wenn wir daher die praktische Palästinaarbeit
mit diesem Ziele in Verbindung bringen, so besitzen wir im der Tat eine reale
Basis für methodische Arbeit. Überschreiten wir jedoch die Grenze, so verlassen
wir die Welt der Tatsachen und treten in eine Welt von fernen Hoffnungen und
Idealen, die ein Abgrund vom Leben trennt, eine weite Kluft, zu deren
Überbrückung wir die Mittel noch nicht kennen. Man kann wohl der Überzeugung
sein — und Lesern, die mit meinen Ansichten vertraut sind, brauche ich nicht
erst darzutun, dass ich es bin — dass der Zusammenschluß der nationalen Kräfte
"rings um einen "Mittelpunkt" selbst den Grundstein für den Bau jener Brücke
bilden wird, da er das W o l l e n und K ö n n e n der ganzen
Nation stärken wird. Dieser G l a u b e aber hat wie jeder andere
Glaube keine Verbindung mit der gegenwärtigen Wirklichkeit und darum auch keine
unmittelbare Beziehung zur Gegenwartsarbeit.
Das sind die Grundgedanken des obigen
Aufsatzes. Alles übrige ist nur Kommentar und Bekräftigung dieser Grundidee.
Dieser meiner Ansicht kann man nun beipflichten oder sie bekämpfen. Wer sie aber
bekämpfen will, dem steht dazu nur ein Weg offen: dass er die Argumente
widerlege, durch die ich erwiesen habe, dass es keinen kausalen Zusammenhang
gibt zwischen der praktischen Palästinaarbeit und der Erlösung und umgekehrt
seinerseits den Nachweis führe, dass jene naturnotwendig zu dieser führe. Aber
offenbar vermochten die zionistischen Weisen dies nicht und schlugen darum einen
bequemeren Weg ein: sie verkündeten von mir, ich hätte diesmal eine
Freudenbotschaft aus Palästina gebracht, mein "Messias" sei schon gekommen, das
nationale Ideal sei heute schon verwirklicht in den im Lande bereits bestehenden
Kolonien und kulturellen Institutionen. In ihnen hätte ich das' "geistige
Zentrum" gefunden, das für mich das höchste nationale Ideal bedeutet; es fehle
nur mehr ein wenig Vervollkommnung und Entfaltung, die auch kommen müssen — um
das Gebäude zu krönen. Und hatte ich das gesagt, dann war es nicht mehr schwer
zu zeigen, wie kleinlich ein solches "Ideal" ist. Man braucht nur einzelne
abgerissene Sätze aus dem zu zitieren, was ich selbst früher über das nationale
Ideal und die gegenwärtige Siedlung geschrieben hatte, um zu zeigen, wie groß
nach meinem eigenen Zeugnis der Abstand beider sei. All jene Äußerungen, um
derentwillen man seinerzeit über mich mit den gleichen Waffen hergefallen war
wie jetzt, und die man dann totschwieg, um sie in Vergessenheit zu bringen —
wurden jetzt plötzlich ausgegraben und öffentlich verbreitet (auch das hat sein
Gutes!), um mich öffentlich bloßzustellen: seht, wie inkonsequent dieser Mensch
ist, gestern sagte er "nein", heute sagt er "ja" . . . (17).
Indes, was liegt daran? Dergleichen widerfährt
mir nicht zum ersten Male und ich weiß, dass diese Gefahr nicht sehr zu fürchten
ist.
Achad Ha'am: Am
Scheideweg, Berlin 1913, Band II, S. 71 - 104
Zuerst gedruckt im Haschiloach, Bd. XXVI, Heft 3 (1912)
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Anmerkungen:
(1) s. Protokoll des X. Kongresses, S. 342.
(2) Vgl. o. S. 13 sowie Herzls Eröffnungsrede (Zionistische Schriften S. 225).
(3) Vielleicht darf hier eines Artikels Erwähnung geschehen der in Basel in den
Tagen des Kongresses geschrieben und im "Jewish Chronicle" (vom 25. August)
abgedruckt wurde, denn hier zeigt sich ganz besonders augenfällig, wie weit auf
diesem Kongresse die Verwirrung der Meinungen geriet. Der Verfasser dieses
Artikels erblickt in dem Siege der "Praktischen" ein Aufgeben des nationalen
Ideals und drückt dazu sein großes Erstaunen aus, dass auf diesem Kongresse die
hebräische Sprache so großen Raum eingenommen: begreiflicherweise haben die
Zionisten von der Richtung Herzls, die ein nationales Ideal erstreben, den
Wunsch auch nach der Belebung der nationalen Sprache. Aber diese ..Praktischen",
die dem nationalen Ideal den Rücken gekehrt und den Zionismus zu einer einfachen
Kolonisationsangelegenheit gemacht haben was kann ihnen die Wiederbelebung der
Sprache sein? Und können denn die Juden nicht ruhig in ihren Kolonien in
Palästina sitzen und dabei in fremden Sprachen sprechen, wie ihre Bruder in den
anderen Ländern? — Ich würde denen, auf welche diese Worte gemünzt sind, raten,
dieses "Paradoxon" nicht einfach mit Lachen abzutun, sondern sich selbst zu
fragen, wie es zuging, dass sich Menschen fanden, die ihre Bestrebungen auf
solche Art verstanden.
(4) Anspielung auf die agadische Vorstellung, wonach 40 Tage vor der Geburt
eines Kindes sein künftiges Los im Himmel verkündet werde.
(5) Ich spreche in der ganzen Darstellung nur von den Kolonien Judäas und
Untergaliläas, denn Obergaliläa habe ich diesmal nicht besucht. In Judäa gibt es
freilich zwei bis drei Kolonien, die eine Ausnahme bilden. Hier aber haben
besondere Ursachen dahin gewirkt, dass ihre Lage (eine schlechte ist und ihre
Leute noch an den alten Gewohnheiten festhalten. Doch wir befassen uns hier
nicht mit solchen speziellen Fragen.
(6) vgl. Ruth 2,4 ff.
(7) In Kolonien dieser Art, die in den letzten Jahren gegründet wurden, sind
schon viele der Ansiedler weggezogen und andere an ihre Stelle gekommen.
(8) Schechinah: die göttliche Glorie.
(9) Es gibt noch eine Gruppe von "Arbeiter-Unternehmern" in Palästina, "Kewuzot"
[d. h. Gruppen] genannt, d. h. jene, welche an einigen Orten auf der bekannten
genossenschaftlichen Grundlage den Boden des Nationalfonds bestellen. Das ist
aber ein Versuch, dessen Erfolge noch abzuwarten sind, und keinesfalls darf man
auf eine solche Ausbreitung dieses Systems hoffen, dass sie einen fundamentalen
Umschwung in der Arbeiterfrage überhaupt bewirken könnte.
(In letzter Zeit wandern nach Palästina Juden aus dem Jemen ein, siedeln sich in
den Kolonien an und lassen sich als Arbeiter anwerben. Und schon hat sich im
zionistischen Lager die Freudenbotschaft verbreitet, dass diese Jemeniten unser
Land neu aufbauen werden. Aber auch das Resultat dieses Experiments ist noch
ungewiß. Und viele Palästinenser glauben, dass die meisten Jemeniten für schwere
körperliche Arbeit ungeeignet sind, während andererseits ihre kulturellen
Verhältnisse und ihre ganzen geistigen Anlagen so sehr von denen der anderen
verschieden sind, daß von selbst sich die Frage erhebt, ob eine Vermehrung
des jemenitischen Elements den Charakter unserer Siedlung nicht ändern, und ob
diese Änderung vorteilhaft sein würde ...
Ich habe hier nur die Frage nach der Möglichkeit der "Eroberung" der
Arbeit berührt, aber noch ist auch die Frage nicht beantwortet, ob es für uns -
die wir in der ganzen Welt die Beherrschten sind - auch richtig ist, nach einer
solchen absoluten Herrschaft zu streben, und ob nicht jene im Rechte sind, die
da sagen, dass ein solches Streben unsererseits an sich uns
künftig größere Schwierigkeiten schaffen muß als alle anderen Hindernisse …)
(10) In Petach-Tikwah z.B. können von den feineren Arbeiten höchstens drei- bis
vierhundert Arbeiter ihr Auslangen finden, während die grobe Arbeit dort
Tausende von Arbeitern beschäftigt.
(11) Talmudisches Sprichwort
(12) "Am Scheidewege" I. S. 80, vgl. unten S. 173
(13) Al Paraschat I, S. 67
(14) Ich kann mich nicht enthalten an dieser Stelle einen kleinen Vorfall zu
erwähnen, der den gegenwärtigen Zustand schön illustriert. In der "Esra"-Schule
("Esra", die in der hebräischen Presse übliche Bezeichnung für den "Hilfsverein
deutscher Juden"; nicht zu verwechseln mit dem Kolonisationsverein "Esra" in
Berlin) in Jaffa besuchte ich eine der Klassen zur Zeit des Deutschunterrichts.
Es war Lektürestunde und die Schüler hatten Schwierigkeiten bei der Erklärung
des Wortes "aufheben". Der Lehrer versuchte es, durch synonyme Ausdrücke deutsch
zu erklären, aber die Schüler verstanden auch diese nicht. Schließlich war die
Geduld des Lehrers zu Ende, und er rief voll Ärger in reinem Hebräisch:
"le-battel!" – und sofort verstanden es alle.
(15) Die jüdische Kunstgewerbeschule "Bezalel" in Jerusalem.
(16) vgl. "Welt" 1912, Nr. 25
(17) Der aufmerksame Leser hat vielleicht gemerkt, dass ich in dem ganzen obigen
Aufsatze, wo ich von unseren gegenwärtigen Bestrebungen in Palästina rede, (nur
das Wort "Ziel" gebrauche, während die Bezeichnung "nationales Ideal" — das in
meinen anderen Artikeln über die nationale Bewegung so häufig ist — nur an einer
Stelle vorkommt, wo es sich wirklich um das letzte "nationale Ideal" handelt,
nicht um das Ziel unserer gegenwärtigen Arbeit.
Die Übersetzung aus der Feder Ernst Müllers
erschien zuerst in gekürzter Form in der Zeitschrift Palästina (Jahrgang 1912,
Heft 7/8 b. 169 ff.); sie wurde von ihm für die Buchausgabe ergänzt und
erscheint hier in einer im Einvernehmen mit ihm vom Übersetzer des Bandes
durchgesehenen Fassung. Von letzterem rührt die Übersetzung des "Nachtrags zu
dem obigen Aufsatz" S. 99 ff. her.
hagalil.com
01-12-03 |