Palästina 2007: Genozid in Gaza,
ethnische Säuberung in der Westbank
Von Ilan Pappé
Es ist noch nicht lange her, dass ich
behauptete, Israel führe eine genozidale Politik im Gazastreifen durch. Ich
zögerte zunächst sehr, ob ich diesen belasteten Ausdruck verwenden solle –
entschied mich dann aber doch dazu. Die Reaktionen, die ich darauf erhielt,
auch von führenden Menschenrechtsorganisationen, machten deutlich, dass sie
bei der Anwendung dieses Ausdruckes ein ungutes Gefühl hatten. Ich dachte
noch einmal darüber nach und kam zu der Überzeugung, diesen Terminus heute
erst recht anzuwenden: es ist die einzig richtige Weise, das zu beschreiben,
was die israelische Armee im Gazastreifen tut.
Am 28.Dezember 06 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation B’tselem
ihren jährlichen Bericht über die israelischen Grausamkeiten in den
besetzten Gebieten. Die israelische Armee tötete im vergangenen Jahr 670
Bürger. Die Zahl der getöteten Palästinenser verdreifachte sich im Vergleich
zum Jahr zuvor. Nach B’tselem töteten die Israelis 141 Kinder im letzten
Jahr. Die meisten Toten gab es im Gazastreifen, wo das israelische Militär
fast 300 Häuser zerstörte und ganze Familien auslöschte. Das bedeutet, dass
seit 2000 die israelische Armee fast 4000 Palästinenser tötete, die Hälfte
von ihnen Kinder und mehr als 20 000 Palästinenser wurden verletzt.
B’tselem ist eine konservative Organisation – die Zahlen mögen also höher
liegen. Aber es geht nicht nur um das eskalierende absichtliche Töten – es
geht um den Trend und die Strategie. Als das Jahr 2007 begann, sahen sich
die israelischen Politiker zwei sehr schwierigen Realitäten in der Westbank
und im Gazastreifen gegenüber. In der Westbank ist man dabei, mit dem Ausbau
(der Mauer) die Ostgrenze zu beenden. Die interne ideologische Debatte ist
abgeschlossen und ihr Gesamtplan für die Annexion der Hälfte der Westbank
wird mit immer größerer Geschwindigkeit abgeschlossen. Die letzte Phase
verzögerte sich wegen der von Israel im Zusammenhang mit der Road Map
abgegebenen Versprechen, keine neuen Siedlungen mehr zu bauen. Israel fand
zwei Wege, die Verbote zum umgehen. Zunächst erklärte es ein Drittel der
Westbank zu Groß-Jerusalem, was ihm erlaubte, innerhalb dieser annektierten
Gebiete Stadt und Gemeindezentren zu bauen. Zweitens dehnte es alte
Siedlungen derart aus, dass keine Neuen nötig waren. Dieser Trend erhielt
2006 einen zusätzlichen Anstoß. (Hunderte von Wohnwagen wurden aufgestellt,
um die Grenzen der Ausdehnung festzulegen, die geplanten Anlagen für neue
Städte und Stadtteile wurden abgeschlossen und das
Apartheid-Umgehungsstraßen- und Schnellstraßensystem fertig gestellt) Im
Ganzen wird sich Israel mit den Siedlungen, den Armeebasen, den Straßen und
der Mauer erlauben, fast die Hälfte der Westbank bis zum Jahr 2010 zu
annektieren. Innerhalb dieser Gebiete wird es eine beträchtliche Anzahl von
Palästinensern geben, gegen die die israelischen Behörden weiter ihre
langsame Transferpolitik ausüben wird – zu langweilig, als dass sich
westliche Medien damit befassen werden und zu schwierig für
Menschenrechtsorganisationen, um dies zu einem Thema zu machen. Es hat keine
Eile, was die Palästinenser betrifft. Soweit es die Israelis betrifft, so
haben sie dort sowieso die Oberhand. Die täglichen Schikanen und
entmenschlichenden Mechanismen der Armee und Bürokratie sind so wirksam wie
immer und haben ihren Anteil am Enteignungsprozess.
Das strategische Denken eines Sharons, dass diese Politik weit besser sei
als die der "Transferisten" oder "Ethnic Cleanser" wie Avigdor Lieberman
wird von jedem in der Regierung akzeptiert - von Labor bis Kadima. Die
kleinen Verbrechen des Staatsterrorismus sind auch deshalb effektiv, weil
sie die liberalen Zionisten rund um die Welt in die Lage versetzen, Israel
nur sanft zu tadeln und jede echte Kritik an Israels krimineller Politik als
Antisemitismus bezeichnen.
Andrerseits gibt es für den Gazastreifen keine klare israelische Strategie.
Aber es gibt tägliche Experimente. In den Augen der Israelis ist Gaza eine
völlig andere geopolitische Entität als die Westbank. Die Hamas kontrolliert
den Gazastreifen, während Abu Mazen die in viele Teile zersplitterte
Westbank mit der Zustimmung Israels und der Amerikaner unter seiner
Kontrolle hat. Da gibt es kein Stückchen Land in Gaza, das Israel begehrt
und es gibt kein Hinterland wie Jordanien, in das die Menschen von Gaza
vertrieben werden können. Ethnische Säuberung ist hier ineffektiv.
Die frühere Strategie in Gaza war die Gettoisierung der Palästinenser dort,
aber das hat nicht funktioniert. Die gettoisierte Gemeinschaft drückt ihren
Lebenswillen damit aus, dass sie primitive Raketen nach Israel abschießt.
Eine Gettoisierung oder unerwünschte Gemeinschaften unter Quarantäne zu
setzen, hat in der Geschichte noch nie als Lösung funktioniert. Die Juden
müssten das eigentlich aus ihrer Geschichte am besten wissen. Die nächsten
Stadien gegen solche Gemeinschaften waren in der Vergangenheit noch viel
schrecklicher und barbarischer. Es ist schwierig vorauszusagen, was in
Zukunft mit der Gazabevölkerung passiert, in ein Getto gesperrt, und unter
Quarantäne gehalten, unerwünscht und dämonisiert zu werden. Wird sich eines
der ominösen historischen Beispiele wiederholen? Oder ist noch ein besseres
Schicksal möglich?
Ein Gefängnis errichten und dann den Schlüssel ins Meer werfen, wie
UN-Sonderberichterstatter John Dugard sagte, war eine Option, gegen die die
Palästinenser im Gazastreifen ab September 2005 mit Gewalt reagierten. Sie
hatten sich entschieden, mindestens zu zeigen, dass sie noch immer ein Teil
der West Bank und Palästinas sind. In jenem Monat feuerten sie die ersten
bedeutsamen Ladungen von Qassam-Raketen in den westlichen Negev ab. Das
Abschießen war eine Antwort auf eine israelische Kampagne von
Massenverhaftungen von Hamas und Islamic Jihad-Aktivisten im Raum Tulkarem.
Die Israelis antworteten mit der Operation "Erster Regen". Man sollte einen
Augenblick über diese Operation nachdenken. Sie wurde von den Strafmaßnahmen
der ersten Kolonialmächte, dann von Diktaturen angeregt, die gegen
rebellische, gefangene oder vertriebene Gemeinden ausgeführt wurden. Es ist
ein erschreckendes Machtgehabe, das allen Arten kollektiver und brutaler
Strafen vorausgeht und mit einer großen Anzahl von Toten und Verwundeten
unter den Opfern endet. In der Operation „Erster Regen“ gab es
ohrenbetäubende Überschall-Flüge über Gaza, die die ganze Bevölkerung
terrorisierten; schwere Bombardements von der Küste, aus der Luft und von
Land auf große Gebiete folgten. Die israelische Armee erklärte die Logistik:
man wollte Druck ausüben, um die Unterstützung der Bevölkerung für die
Qassams zu schwächen. Wie erwartet wurde - übrigens auch von Israel – wuchs
die Unterstützung für das Abfeuern der Qassams nur und gab den Anstoß für
den nächsten Angriff. Der wirkliche Zweck dieser Operation war
experimentell. Die israelischen Generäle wollten wissen, wie man auf solch
eine Operation "zu Hause", in der Region und in der Welt reagiert. Und es
schien, dass die Antwort "sehr gut" war; keiner hat sich um die große Anzahl
von toten und Hunderte von verwundeten Palästinenser gekümmert, die der
"erste Regen" hinterlassen hat.
Und seit der Operation "Erster Regen" sind bis Juni 2006 alle Operationen in
etwa von gleicher Art gewesen. Der Unterschied lag in ihrer Eskalation: mehr
Feuerkraft, mehr Todesfälle mehr Kollateralschäden – und wie erwartet mehr
Qassams als Antwort. Die begleitenden Maßnahmen bestanden 2006 aus noch
schlimmeren Maßnahmen, um die Gefangenschaft des ganzen Volkes von Gaza
durch Boykott und Blockade sicher zu stellen, an der sich die EU
schändlicherweise mit beteiligt.
Die Gefangennahme von Gilad Shalit im Juni 2006 war von keiner besonderen
Bedeutung, lieferte aber trotzdem den Israelis eine Gelegenheit die
angeblichen Strafmaßnahmen noch mehr eskalieren zu lassen. Es gab noch keine
Strategie, die der taktischen Entscheidung Ariel Sharons folgte, die 8000
Siedler herauszuholen, deren Gegenwart die Strafmaßnahmen nur komplizierter
gemacht hätten. (Diese Aktion hätte Sharon fast zu einem Kandidaten für den
Friedensnobelpreis gemacht.) Seitdem geht es mit den Strafmaßnahmen weiter,
ja sie werden zu einer Strategie. Die israelische Armee liebt das Drama. Nun
eskaliert sie auch mit der Sprache. Dem 2Ersten Regen2 folgte der
2Sommerregen2, ein allgemeiner Name, der den 2Strafmaßnahmen2 im Juni 2006
gegeben wurde (noch dazu in einem Land, das keinen Sommerregen kennt und die
einzigen zu erwartenden Niederschläge die aus F-16-Bombern und
Artilleriegranaten sind, die die Menschen von Gaza treffen.) Die Operation
2Sommerregen2 brachte eine neue Komponente: die Invasionen in Teilen des
Gazastreifens. Die Armee konnte auf diese Weise noch mehr Bürger töten und
dies als eine Folge von schweren Kämpfen innerhalb dicht bevölkerter Gebiete
darstellen, eine unvermeidliche Folge der Umstände und nicht der
israelischen Politik. Dann kam die Operation 2Herbstwolken2, die noch
effizienter war: am 1. November 2006 in weniger als 48 Stunden töteten die
Israelis 70 Zivilisten; am Ende des Monats gab es bei zusätzlichen
Kleinoperationen fast 200 Getötete, die Hälfte von ihnen waren Kinder und
Frauen. Wenn man die Daten der Aktivitäten mit einander vergleicht, kann man
feststellen, dass einige parallel zu Angriffen im Libanon liefen – sie
hatten so also weniger internationale Aufmerksamkeit und weniger Kritiker.
Vom "Sommerregen" bis "Herbstwolken" kann man eine Eskalation in jedem
Parameter erkennen. Zunächst verschwindet die Unterscheidung zwischen
zivilen und nicht-zivilen Zielen. Das sinnlose Töten hat die Bevölkerung im
Ganzen zum Hauptziel der militärischen Operation gemacht. Zweitens fand eine
Eskalation in den Mitteln statt: die Anwendung jeder möglichen
Tötungsmaschine, die Israels Armee hat. Drittens wird die Eskalation in der
Zahl der Todesopfer deutlich: mit jeder Operation und jeder zukünftigen
Operation wird die Zahl der Todesopfer und der Verletzten immer größer.
Schließlich und das ist am wichtigsten werden die Operationen zur Strategie
– zur Art und Weise, mit der Israel das Problem mit ( den Menschen) im
Gazastreifen lösen will.
Ein schleichender Transfer in der Westbank und eine wohl überlegte
genozidale Politik im Gazastreifen sind die beiden Strategien, die Israel
heute praktiziert. ..Die Westbank unter Abu Mazen gibt dem israelischen
Druck nach, und es gibt keine Kraft, die die israelische Strategie der
Annexionen und Enteignungen aufhält, Doch Gaza feuert zurück. Dies macht es
den Israelis möglich, mit weiteren genozidalen Operationen in der Zukunft zu
reagieren. Dann besteht aber die große Gefahr, die 1948 passierte: die Armee
fordert eine noch drastischere und systematische Strafaktion gegen das
belagerte Volk im Gazastreifen.
Seltsamerweise ruht im Augenblick die israelische Tötungsmaschine endlich.
Obwohl eine relativ große Anzahl von Qassems abgeschossen worden waren und
ein oder zwei sogar tödliche Folgen hatten, ließ sich die Armee nicht
provozieren. Der Armeesprecher redet von "Zurückhaltung", die die Armee in
der Vergangenheit nie gezeigt hat und wohl auch nicht in der Zukunft zeigen
wird. Die Armee ruht aus, da ihre Generäle mit dem internen Morden zufrieden
sind, das gerade im Gazastreifen tobt. Die Generäle beobachten den sich
entwickelnden Bürgerkrieg mit Genugtuung, der von Israel aus geschürt wird –
ihr Job wird gerade von andern erledigt Vom israelischen Standpunkt aus, ist
es völlig unwichtig, wie weit die Bevölkerung reduziert wird, sei es durch
Bürgerkrieg oder israelische Schläge. Die Verantwortung für das Beenden der
internen Kämpfe liegt natürlich bei den palästinensischen Gruppen selbst,
aber die amerikanische und israelische Einmischung, die andauernde
Gefangenschaft, die Hungersnot und Strangulierung des Gazastreifens sind
alles Faktoren, die einen internen Friedensprozess sehr schwierig gestalten.
Aber er wird eintreten und mit den ersten Anzeichen dafür wird Israels
"Sommerregen" wieder auf die Menschen in Gaza fallen und Verwüstung und Tod
verursachen. Man sollte niemals müde werden, die sich zwangsläufig
ergebenden politischen Schlüsse aus dieser bedrückenden Realität des letzten
und des vor uns liegenden Jahres zu ziehen. Es gibt keinen anderen Weg,
Israel zu stoppen, als durch Boykott, Divestments und Sanktionen. Wir
sollten dies alle klar, offen und bedingungslos unterstützen, egal was die
Gurus dieser Welt uns über die Wirksamkeit erzählen oder über die
Staatsraison solcher Aktionen. Die UN würde im Gazastreifen nicht so
intervenieren wie in Südafrika; die Friedensnobelpreisträger würden nicht zu
seiner Verteidigung kommen, wie sie es in Südostasien taten. Die Zahl der
dort getöteten Menschen ist nicht umwerfend im Vergleich zu anderen
Katastrophen – und es ist keine neue Geschichte. Sie ist gefährlich alt und
besorgniserregend. Der einzige empfindliche Punkt dieser Tötungsmaschine ist
eine bestimmte Linie der westlichen Zivilisation und öffentlichen Meinung.
Noch ist es möglich, sie zu erreichen und es für die Israelis schwieriger zu
machen, ihre zukünftige Strategie der Eliminierung des palästinensischen
Volkes entweder durch ethnische Säuberung der Westbank oder durch Völkermord
im Gazastreifen durchzuführen.
Electronic Intifada / ZNet 11.01.2007,
Übersetzt von: Ellen Rohlfs
Zurück
Zurück zur Übersicht
hagalil.com
10-05-07 |