Die Zionistische Revolution ist tot
Von Avraham Burg
Die Zionistische Revolution stützte sich von jeher auf zwei Pfeiler: auf den
gerechten Weg und eine ethische Führung. Nun funktioniert beides nicht mehr.
Heutzutage stützt sich die israelische Nation auf ein Gerüst der Korruption
und auf ein Fundament der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. So gesehen
steht das Ende des Zionistischen Projekt bereits vor der Tür. Gut möglich,
dass wir die letzte Zionistische Generation sind. Vielleicht gibt es dann
noch einen jüdischen Staat hier - aber er wird anders sein, fremdartig und
hässlich. Noch ist Zeit, das Ruder rumzureißen - aber nicht mehr lange. Was
wir brauchen, ist eine neue Vision - die Vision einer gerechten Gesellschaft
und den politischen Willen, sie auch umzusetzen. Und es ist keine rein
inner-israelische Angelegenheit. Auch Juden der Diaspora - für die Israel
zentraler Pfeiler ihrer Identität ist -, müssen sich der Sache annehmen und
den Mund aufmachen. Denn, wenn der Stützpfeiler kollabiert, fallen auch die
oberen Stockwerke in sich zusammen. Eine Opposition existiert nicht, und die
Koalition, unter Führung Arik Scharons, nimmt für sich das Schweigerecht in
Anspruch. In einer redesüchtigen Nation sind plötzlich alle verstummt,
offensichtlich ist alles gesagt. Wir leben in einer gewaltigen (aber)
gescheiterten Realität. Ja, wir haben die hebräische Sprache zu neuem Leben
erweckt, wir haben ein tolles Theater und eine starke Nationalwährung
geschaffen. Unser jüdischer Verstand arbeitet schärfer denn je. Wir sind
sogar Nasdaq-gehandelt. Aber haben wir deshalb einen Staat gegründet? Das
jüdische Volk hat nicht zwei Jahrtausende überlebt, um zum Waffenpionier zu
werden, zum Pionier von Computersicherheitsprogrammen u.
Anti-Raketen-Raketen. Wir sollten das Licht der Nationen sein - aber damit
sind wir gescheitert. Scheint so, als münde der 2000-jährige Kampf für das
jüdische Überleben in einen Staat der Siedlungen, der von einer
unmoralischen Clique korrupter Gesetzesbrecher regiert wird - taub sowohl
gegenüber den Feinden als auch gegenüber den eigenen Bürgern. Ein Staat, in
dem es an Gerechtigkeit fehlt, kann nicht überleben. Mehr und mehr Israelis
begreifen das, wenn sie ihre Kinder fragen, wo sie in 25 Jahren leben
werden. Sind die Kinder ehrlich, sagen sie, sehr zum Schock der Eltern, sie
wüssten es nicht. Der Countdown läuft - der Countdown zum Ende der
israelischen Gesellschaft.
Es ist sehr angenehm, Zionist zu sein und in einer Westbank-Siedlung wie
Beit El oder Ofra zu leben. Die biblische Landschaft ist bezaubernd. Durch
das Fenster sieht man auf die Geranien und die Bougainvillea
(Kletterstrauch) und kann die Okkupation ignorieren. Jemand der auf der
rasanten Schnellstraße von Ramot (am nördlichen Rand Jerusalems) nach Gilo
(südlicher Rand Jerusalems) fährt - ein 12-Minuten-Trip, keine halbe Meile
westlich der Straßenblockaden für Palästinenser - der wird kaum begreifen,
welche demütigende Erfahrung einer dieser verhassten Araber macht, wenn er
(im Auto) stundenlang über blockierte, pockennarbige Straßen kriecht - auf
Straßen, die ihm zugewiesen sind. Es gibt Straßen für Besatzer und Straßen
für Besetzte. Aber das kann nicht funktionieren - nicht einmal, wenn die
Araber sich ducken und Wut und Schande für immer schlucken. Es funktioniert
nicht. Eine Struktur, die auf menschliche Gleichgültigkeit aufgebaut ist,
wird unverweigerlich in sich zusammenbrechen. Merkt euch diesen
entscheidenden Moment gut: die Überstruktur des Zionismus ist schon am
Kollabieren - sie fällt in sich zusammen wie ein billiger Jerusalemer
Hochzeitssaal. Und nur Verrückte tanzen im Obergeschoss weiter, während
unten die Pfeiler zusammenstürzen. Wir haben uns daran gewöhnt, das Leid der
Frauen an den Straßensperren zu ignorieren. Wundern wir uns also nicht, dass
wir auch die Schreie der misshandelten Frau in unserer Nachbarschaft
überhören oder den Kampf der alleinstehenden Mutter, die versucht, ihre
Kinder mit Würde großzuziehen. Wir machen uns ja noch nicht mal die Mühe,
all die Frauen zu zählen, die von ihren Ehemännern ermordet werden. Israel
interessiert sich nicht mehr für die Kinder der Palästinenser. Es sollte
sich also nicht wundern, wenn sie von Hass durchdrungen zu uns kommen und
sich in den Zentren des israelischen Eskapismus in die Luft sprengen. Sie
geben sich an den Orten unserer Rekreation in Allahs Hand, denn ihr eigenes
Leben ist eine Qual. In unseren Restaurants vergießen sie ihr Blut, um uns
den Appetit zu verderben. Ihre Eltern und Kinder zu Hause sind hungrig und
entwürdigt. Wir könnten jeden Tag tausende Rädelsführer und Ingenieure
töten, ohne dass sich etwas ändert. Denn die Führung wächst von unten herauf
- aus den Quellen der Wut und des Hasses, der "Infrastruktur" der
Ungerechtigkeit und der moralischen Korruptheit. Ich würde schweigen, wäre
dies alles wirklich unausweichlich, gottgewollt u. unabänderlich. Aber es
ginge auch anders. Der Aufschrei wird zum moralischen Imperativ. Diese Worte
sollte der (israelische) Premierminister an sein Volk richten:
Die Zeit der Illusionen ist vorbei. Jetzt ist Zeit für Entschlüsse.
Natürlich lieben wir das ganze Land unserer Vorväter. Und in einer anderen
Zeit würden wir es vorziehen, allein darin zu leben. Aber das wird nun
einmal nicht geschehen. Auch die Araber haben Träume und Bedürfnisse.
Zwischen Jordan und Mittelmeer existiert keine klare jüdische Mehrheit mehr.
Daher, meine Mitbürger, können wir nicht alles für uns behalten - oder wir
müssen den Preis zahlen. Wir können die palästinensische Mehrheit nicht
unter dem israelischen Stiefel halten und gleichzeitig glauben, wir seien
die einzige Demokratie im Nahen Osten. Es gibt keine Demokratie ohne gleiche
Rechte für alle Menschen, die hier leben - Araber wie Juden. Wir können
nicht die Territorien behalten und gleichzeitig unsere jüdische Mehrheit
behalten - im einzigen Staat, den die Juden auf der Welt haben -, nicht,
wenn wir menschliche Mittel einsetzen, moralische Mittel, jüdische Mittel.
Oder wollt ihr Großisrael? Kein Problem, dann muss die Demokratie weg und
wir institutionalisieren ein effizientes Rassentrennungs-System - mit
Gefängnislagern und Gefängnisdörfern: Qalqilya-Getto, Dschenin-Gulag. Ihr
wollt eine jüdische Mehrheit? Auch kein Problem. Dann steckt die Araber in
Züge, Busse, setzt sie von mir aus auf Kamele und Esel und schmeißt sie
massenhaft raus. Oder - wir separieren uns konsequent von ihnen und zwar
ohne Tricks und Kniffe. Es gibt keinen Mittelweg. Wir müssen alle Siedlungen
auflösen - alle. Es muss eine international anerkannte Grenze gezogen werden
zwischen dem israelischen Nationalstaat und einem palästinensischen
Nationalstaat. Das jüdische Rückkehrrecht gilt dann nur noch innerhalb
unseres nationalen Gebildes und das palästinensische nur innerhalb der
Grenzen des (künftigen) Palästinenserstaats. Ihr wollt Demokratie? Kein
Problem. Entweder, ihr gebt die Idee von Großisrael auf - und zwar bis zum
letzten Außenposten, bis zur letzten (jüdischen) Siedlung - oder ihr gewährt
allen volles Bürgerrecht und das Wahlrecht, auch den Arabern. Die Folge von
Letzterem wäre allerdings, dass diejenigen, die keinen Palästinenserstaat
neben uns wollen, nun einen in unserer Mitte hätten - via Wahlurne.
Diese Worte sollte ein Premier an unser Volk richten. Die Alternativen
sollten klipp und klar sein: jüdischer Rassismus oder Demokratie, Siedlungen
oder Hoffnung für beide Völker, falsche Visionen, die zu Stacheldraht,
Straßensperren und Selbstmordbombern führen oder eine anerkannte
internationale Grenze zwischen zwei Staaten und eine geteilte Hauptstadt
Jerusalem. Aber es gibt keinen (solchen) Premierminister in Jerusalem. Jene
Krankheit, die am Organismus des Zionismus nagt, hat bereits den Kopf
erreicht. David Ben-Gurion hat sich in manchen Dingen geirrt, aber er war
geradlinig wie ein Pfeil. Und wenn Menachem Begin sich irrte, standen seine
Motive nie in Zweifel. Das hat sich geändert. Umfragen vom letzten
Wochenende zeigen, eine Mehrheit der Israelis glaubt nicht an die
persönliche Integrität des Premiers - dennoch vertrauen sie seiner
politischen Führerschaft. Man könnte sagen, der derzeitige israelische
Premierminister vereinigt in sich beide Seiten des Fluchs: Seine persönliche
Integrität ist zweifelhaft, seine Nichtbeachtung des Gesetzes offenbar - und
das kombiniert (er) mit der Brutalität der Okkupation und dem Niedertrampeln
aller Friedenschancen. So sieht unsere Nation aus, so ihre Führerschaft. Der
unausweichliche Schluss: die Zionistische Revolution ist tot.
Aber warum verhält sich die Opposition so still? Vielleicht, weil Sommer
ist, vielleicht, weil sie müde ist. Vielleicht möchten manche ja auch um
jeden Preis selbst in die Regierung - auch wenn der Preis darin besteht, bei
dieser kranken Sache mitzumachen. Und während sie zögern, verlieren die
Kräfte des Guten ihre Hoffnung. Es ist Zeit für klare Alternativen. Jeder,
der es ablehnt, klar Position zu beziehen - schwarz oder weiß - kollaboriert
de facto mit dem Niedergang. Es geht nicht mehr um Likud gegen
Arbeitspartei, Rechte gegen Linke, es geht um richtig oder falsch,
akzeptabel oder inakzeptabel, um Gesetzestreuer oder Gesetzesbrecher. Es
geht nicht um politischen Ersatz für die Regierung Scharon, was wir vielmehr
brauchen, ist eine Vision der Hoffnung. Wir brauchen eine Alternative zur
Destruktion des Zionismus und seiner Werte durch die Tauben, die Stummen und
die Gleichgültigen. Auch Israels Freunde im Ausland sollten jetzt ihre Wahl
treffen - Juden wie Nichtjuden, Präsidenten und Premierminister, Rabbis und
Laien. Sie müssen die Hände ausstrecken und Israel helfen, damit Israel
mithilfe der Straßenkarte (Roadmap) den Weg navigiert zu unserem nationalen
Ziel: das Licht der Nationen zu sein und eine Friedensgesellschaft, eine
Gesellschaft der Gerechtigkeit und der Gleichheit.
Yediot Aharonot / ZNet 03.09.2005,
Übersetzt von: Andrea Noll
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