Nahum Sokolow
Geschichte des Zionismus
Mit einer Einleitung von A. J. Balfour, Britischem Minister des Äusseren
Internationaler Verlag "Renaissance",
Wien/Berlin/Leipzig/New York, 1921
Einleitung
(S. 15-31)
Der Zionismus trägt zwei deutlich
ausgeprägte Züge. Einerseits enthält er nichts, was man nicht auch anderswo
fände. Das Gelobte Land, jüdisch nationale Eigenheiten, die Zukunft des
Volkes, diese Ideen lassen sich im Judentum und Christentum nachweisen. Sie
gehen in die fernste Vergangenheit zurück und nehmen im Laufe der Zeit
tausenderlei Formen an: Sie wenden sich an das Gefühlsmoment, versuchen
praktische Lösungen, sie betonen das Erhabene, sogar das Mystische. Im
modernen Zionismus kehren sie alle wieder. Doch während die Elemente des
älteren Zionismus ziemlich klar hervortreten, ist der Gesamteindruck des
modernen Zionismus nicht so leicht zu definieren. Denn der moderne hat
eigene Konzeptionen, die ihn weit von den älteren Bestrebungen und Ideen
abrücken. Manche alten Ideale des Mittelalters über die Wiederherstellung
Israels dürften heute kaum mehr annehmbar sein. Doch wenn wir die große
Masse der Juden von diesen Ideen erfüllt und nach ihrer Verwirklichung
streben sehen, dann erwecken sie unser Interesse. Das gleiche gilt in bezug
auf die Einzelheiten. Im zionistischen Programm kehrt jeder Punkt der alten
zionistischen Idee wieder, doch jeder mit modernem Gehalt. Der moderne
Zionismus ist die logische Folge der jüdischen Geschichte. Er beruft sich
nicht immer auf die alten Traditionen, welche trotz ihrer Ehrwürdigkeit
nicht durchweg unanfechtbar sind. Er arbeitet mit einfachen und
einleuchtenden Mitteln, mit einer Renaissance (Wiederbelebung des Alten).
Diese entfacht Begeisterung, erneuert den Mut, erweckt im Herzen neuen Eifer
und Tatkraft.
Der Zionismus beruft sich zu seiner
Stütze auf eine lange Tradition. Doch wäre diese nur eine geschichtliche,
würde sie wirkungslos bleiben und nur Archäologen interessieren. Die Wurzeln
des Zionismus liegen in der Vergangenheit, seine Blüte treibt in der
Gegenwart und seine Frucht wird in der Zukunft reifen. Der Grund ist einfach
der, daß alles, was tatsächlich mit dem Judentum zusammenhängt, nur
aus der Geschichte erklärt werden kann.
Zionismus ist zunächst unbestreitbar
eine große historische Idee. Es ist eine einfache Tatsache, daß Israels
Geschichte mit dem Zionismus beginnt und die alte Geschichte uns den Weg zur
Erfüllung des Zionismus zeigt. Der Auszug aus Ägypten ist ein Beispiel für
Auswanderung und Kolonisation. Die Juden betraten Kanaan, besetzten das Land
und wurden in wenigen Generationen ein mächtiges Volk. Die Rückkehr aus
Babylon war ein großes zionistisches Ereignis, das ohne jedes übernatürliche
Wunder nur von der Gnade Gottes und der Zustimmung Cyrus des Großen abhing.
Die aus Babylon zurückkehrenden Juden waren der Zahl nach eine Minderheit,
aber sie waren inspiriert von einem Gedanken und deshalb gelang ihnen
die Gründung eines Zentrums: Palästinas, das nun ein neues Licht für Juden
und Heiden wurde. War nicht tatsächlich die Lieblingsidee des modernen
Zionismus der Gedanke eines geistigen Zentrums in Zion für alle zertreuten
Juden, das Bild eines rein jüdischen Lebens in Palästina, die Schaffung
eines intellektuellen und moralischen Reservoirs, aus dem jüdisches Wissen
und jüdische Inspiration der zertreuten Nation zuströmen sollen, um so das
kleine Land zur Hochburg des Judentums zu machen, war nicht bereits dieses
zionistische Programm in den Plänen und Ausführungen der Zerubbabel, Ezra
und Nehemiah niedergelegt und ausgeführt?
Später wanderten die Juden als
Emigranten in alle Weltteile. Sie unterwarfen sich den Gesetzen der
verschiedenen Länder und verstanden es, sich den Verhältnissen ihrer
Umgebung anzupassen. Sie nahmen ihren Gott und ihre Traditionen, ihre,
Literatur und ihre Gebräuche mit, doch vergaßen sie niemals die alte,
heilige Heimat, die sie verlassen hatten.
Diese Treue ist eine der rührendsten
Erscheinungen in der Weltgeschichte. Die Juden bewahrten treu die Erinnerung
an Jerusalem, an dessen zerstörte Wälle und Paläste, an dessen frühere Größe
und Zusammengehörigkeit mit ihrem Volk; sie vergaßen niemals das alte Land
und seine verwüsteten Felder. Dieses Empfinden war, unabhängig von den
einzelnen Juden, Gemeingut der ganzen jüdischen Nation.
Die Juden vergaßen niemals ihre alte
Volkszusammengehörigkeit. Sie vergaßen niemals, daß sie ein Volk für sich
waren, von anderen verschieden durch ihre Religion, Literatur, soziale
Einrichtungen und Agrikultur, kurz, eine
zivilisierte Nation, als westliche Zivilisation noch unbekannt war.
Zweitausend Jahre nach dem Verlust ihrer politischen Unabhängigkeit glaubten
sie mit leidenschaftlichem Vertrauen an ihre Zukunft als Nation in
Palästina. Während sie sich mit ihrer Umgebung vermischten, konnte sie keine
Versuchung, weder die Hoffnung auf materiellen Erfolg noch der zermürbende
Kampf ums Dasein von ihrem Vertrauen in die Zukunft abbringen. Keine noch so
starke Verlockung, kein Leiden, keine Qual, kein Hinsiechen war imstande,
ihnen ihre heilige Schuld, die sie Gott, ihren Vätern und sich selbst
schuldeten, aus dem Herzen zu löschen. Sie hielten es immer für ihre
Pflicht, Glieder einer großen Familie zu sein, die nicht nur durch eine
gemeinsame Vergangenheit, sondern auch durch die Gemeinsamkeit unsterblicher
Ideen, Bestrebungen und Hoffnungen auf ihre nationale Zukunft miteinander
verbunden war. Sie blieben ihrer Pflicht unveränderlich getreu. Diese
mächtige Überzeugung ist tief in die Herzen von Millionen Juden eingegraben.
Eine ununterbrochene Kette verbindet vom Beginn der jüdischen Geschichte an
alle Generationen von Abraham bis zu uns. Dieser unerschütterte Glauben, der
alle Juden der Welt zusammenhielt und heute noch zusammenhält, ist der
Grundgedanke aller jüdischer Prophezeiungen, von Moses zu Malachus, und
aller indischen Lehren, seit den Männern der großen Synode über Maimonides
bis heute.
Dieser Gedanke an eine völkische Zukunft
ist das Wesen aller jüdischen Gebete seit der Abfassung der "Achtzehn
Lobpreisungen" bis zum letzten Paitanim. Er ist der Grundton aller jüdischen
Dichtungen, von den heiligen Psalmen angefangen bis zu den Gedichten des
Jehudah Ha'levi, und von Jehudah Ha'levi bis zu den lebenden Dichtern
unserer Zeit. Dieser unvergängliche, alles umfassende, unbesiegbare Gedanke
einer nationalen Zukunft ist ausgesprochen jüdisch. Er hat die Juden von der
Wiege bis zum Grab begleitet. Er ist das Geheimnis ihres langen Bestehens,
das in der Geschichte ohne Parallele dasteht. Er hat nichts mit den
nationalistischen Strömungen und Bestrebungen unter den Andersgläubigen
unserer Zeit gemeinsam. Er überdauerte gleichermaßen die Zeiten der
Erniederung und des Unglücks wie die Tage des Gedeihens. Er war niemals die
Erfindung von einzelnen; man kann im Gegenteil hier und dort in Stellen von
weniger Bedeutung Ansichten belegen, welche einen abweichenden Standpunkt
verraten. Aber das jüdische Volk als ganzes blieb selbst mit seinen
extremsten Sekten, den Karaiten und Samaritern, diesem Gedanken treu
ergeben.
Wollte man vom historischen Standpunkt
aus von deutschen, ungarischen oder türkischen Juden sprechen und diese nur
als Angehörige einer Religionssekte bezeichnen, wie man von Protestanten,
Katholiken oder anderen spricht, so wäre dies eine Verkennung historischer
Tatsachen. Die Juden bilden keinen Staat innerhalb eines anderen Staates,
wie manche Antisemiten behaupten; sie sind vielmehr unbestreitbarerweise
eine alte historische Nation unter anderen Nationen, ein altes Volk, welches
die ägyptischen Pharaonen, assyrischen Könige und arabischen Kalifen
überlebt hat. Die Tatsache, daß sie gegenwärtig nicht in ihrem eigenen Land
leben, sondern über die ganze Welt zerstreut sind, daß sie sich in
verschiedenen Ländern eingelebt haben, deren Gesetzen gehorchen und nun zu
ihren treuesten Bürgern gehören, ändert nicht das geringste an der Wahrheit
unserer Behauptung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehen die Juden nur
untereinander Heiraten ein und bewahren sich, soweit die Majorität in
Betracht kommt, ihre völkischen und historischen Eigenheiten. Ja noch mehr,
ihre ganze Religion bestellt aus historischen Ideen und nationalen
Erinnerungen. Sie können in keiner Weise mit Katholiken oder Protestanten
verglichen werden. Es gibt französische und deutsche Katholiken, englische
und deutsche Protestanten, doch die jüdische Religion ist seit Tausenden von
Jahren der Glauben des jüdischen Volkes gewesen.
Erst in moderner Zeit hat sich eine Art
Widerstand gegen diesen Gedanken in einigen jüdischen Kreisen geäußert,
welche durch die allgemeinen Tendenzen am Ende des 18. Jahrhunderts
beeinflußt wurden. Sie werden hauptsächlich durch die sogenannte
Mendelssohnsche Schule vertreten. Dieser Gegensatz hat sich noch verstärkt,
seitdem der moderne Zionismus mit seinem klaren Programm und modernen
Charakter hervortrat.
Die Hauptpunkte dieser Opposition sind
folgende:
1. Der geistige Gehalt des Judentums.
2. Die sogenannte Mission der Juden.
3. Der Fortschritt der modernen
Zivilisation.
4. Die Pflicht des Patriotismus.
5. Das Problem der Rechtsgleichheit für
die Juden.
Schon die oberflächlichste Prüfung
dieser Einwände zeigt, dass sie teils auf Mißverständnisssen, teils auf
wörtlicher Auslegung beruhen und in keiner Weise den Gehalt des Zionismus
beeinträchtigen.
1. Es wäre lächerlich zu behaupten, der
Zionismus leugne den geistigen oder universellen Charakter des Judentums.
Der Zionismus betreibt keine "Stämmepolitik". Ganz im Gegenteil. Jüdische
Glaubenssätze gelten für die ganze Welt, und ihre Ethik zielt dahin, die
Menschheit zu einigen. Das ist so offenkundig, daß ein Beweis überflüssig
ist. Doch Juden sind keine Geister. Sie sind Menschen von Fleisch und Blut
und sie müssen das Judentum vom menschlichen Standpunkt aus betrachten. Und
dieser sagt, daß die Juden trotz des geistigen Charakters ihres Glaubens
geradeso wie jedes andere Volk zu der Gattung "Mensch" gehören als ein durch
Abstammung, und gemeinsame Geschichte geeinigtes Volk.
"Gott", sagt Mazzini, "hat in jedes Volk
einen Hauch seiner Seele gelegt und deshalb bringt jedes Volk seine Gaben
auf den großen Markt der Welt." In diesem Sinne sind Zionisten als
Nationalisten zu betrachten: Sie blicken auf zu dem allmählichen und
endlichen Sieg nationaler Typen mit Einschluß der ihrigen. Die Menschheit
hat keinen Anlaß, dieses natürliche Recht des ältesten Volkes der Welt zu
bestreiten, aber noch weniger dürfen die Juden den Wahnsinn des nationalen
Selbstmordes wegen des geistigen Gehaltes des Judentums begehen.
2. Die zionistische Auffasung, die
Juden als eine lebende Nation mit ihren charakteristischen
Merkmalen zu betrachten, hat auch für die Idee von der Mission des Judentums
Geltung. Offen gesagt, nehmen die Zionisten diese Idee nicht gern als eine
Rechtfertigung der jüdischen Forderung auf Anerkennung ihrer Existenz in
Anspruch. Was versteht man denn eigentlich unter der Mission eines Volkes?
Dieser unbestimmte Ausdruck von der Sendung eines Volkes, die
mystische Form, in welcher das durch retrospektives Geschichtsstudium
gewonnene Wissen ausgedrückt wird, der Gedanke, daß ein Volk auf einem
vorgezeichneten Weg die Entwicklung der gesamten menschlichen Moral
beeinflußt habe, alle diese Behauptungen verwechseln Ursache und
Wirkung. Diese Annahme setzt voraus, daß einem Volk schon im voraus
bestimmte Aufgaben zugewiesen wurden, für deren Lösung es nun weiterlebt und
handelt. Die Wahrheit ist vielmehr, daß jede Nation vermöge ihrer Eigenart
und aus dem Einfluß der Umgebung heraus ganz bestimmte Erscheinungen in der
Geschichte der Zivilisation hervorbringt, solange sie Existenzmöglichkeit
oder Handlungsfreiheit hat. Ein Volk hat keine andere Aufgabe als zu leben
und alle seine Fähigkeiten zu entwickeln. Dann führt es ganz von selbst,
ohne es zu wollen oder zu wissen, seine Aufgabe in der Geschichte der
Menschheit durch. Ein unterdrücktes, verfolgtes und verachtetes Judenvolk
ist für die Menschheit wertlos; frei, stark und glücklich, wird es ein
nützlicher Mitarbeiter für die Aufgabe werden, den Fortschritt der
menschlichen Rasse zu fördern. Diese Mitarbeit kann eine Mission genannt
werden, die aber niemals von einem verfolgten und durch Angleichung
zusammengeschmolzenen jüdischen Volk erfüllt werden kann. Anderseits ist
aber die Lösung dieser Aufgabe möglich durch ein national
zusammengeschlossenes jüdisches Volk. Nehmen wir an, es gäbe eine „jüdische
Sendung", welche die auf Sinai geoffenbarten Sittengebote weiterverbreiten
sollte, um die Menschheit durch Lehren und Beispiele zu beeinflussen. Wenn
auch eine solche Sendung bis zu einem gewissen Ausmaß in das zerstreute
jüdische Volk getragen werden kann, wobei jedoch immer die Voraussetzung
bestehen bleibt, daß es von anderen Nationen nicht aufgesogen wird, so kann
sie doch am besten von einem jüdischen Zentrum und einer jüdischen
Gemeinschaft von dem Land aus erfolgen, von dem der Geist des Judentums
zuerst in Sittlichkeit, in menschliche Gesellschaft und Einrichtungen
überging. Dort wird diese Sendung auf festem Boden stehen. Von dort her
kamen die Heiligen Schriften, welche die späteren Literaturen, alle Herzen,
alle Seelen und Bestrebungen beeinflußten. Aus Palästina wird das Licht des
jüdischen Genius wieder mit dem Licht einer modernen Zivilisation, gemäß den
Ideen und Lehren der alten Propheten, in die Welt dringen. Dies wird das
wirksamste Mittel der Propaganda sein, da es den deutlichsten Beweis für das
Vorhandensein jüdischen Geistes und dessen Tätigkeit erbringt.
3. Der Fortschritt der modernen
Zivilisation wird als eine Art moderner Sendung für die endliche Lösung des
jüdischen Problems betrachtet. Der Zionismus hält diese Auffassung für
überflüssig und irreführend. „Moderne Zivilisation ist einer jener
unbestimmten Ausdrücke, welche die Vorstellung ziemlich weiter, aber noch
nicht festgelegter Inhaltsgebiete erweckt. Unsere Zeit kennt keine Ehrfurcht
vor Geheimnissen, die schon während der letzten Generationen immer weniger
wurden. Das Licht der Wahrheit drang überall hin. Man beginnt zu verstehen,
was "moderne Zivilisation" in ihren vielgestaltigen Formen ist. "Moderne
Zivilisation" bedeutet in einem die Mitteilung von Gedanken, häusliche
Bequemlichkeit, Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone, Luftschiffe etc.,
ferner die Entwicklung dieser reichen, physikalischen Hilfsmittel unserer
Zeit; dasselbe Wort schließt auch Kanonen, Überdreadnoughts und
Unterseeboote, Diplomatie und Macht in sein Geltungsgebiet ein. Die
Zionisten sehen nicht ein, wie diese Zivilisation eine Sendung für die Juden
werden soll oder irgendein menschliches oder nationales Problem lösen
könnte. Sie sehen, daß trotz aller bewunderungswürdigen Errungenschaften der
modernen Zivilisation etwas nicht stimmt. Und in der Tat ist außer den
technischen Fortschritten alles noch in Schwebe. Man muß zurückgehen und die
eigentliche Quelle dieser wirklichen Zivilisation, dieser Kultur des Herzens
aufsuchen, deren Triumph "ein neuer Himmel und eine neue Erde, wo
Gerechtigkeit wohnet", sein wird. Wenn ein Gedanke aus den Lehren der
Propheten, der sich durch alle Schriften zieht und ebenso von den Geboten
des Christentums betont wird, heute übernommen werden sollte, so ist es die
Lehre von der Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit.
Wo sind sie, diese Ideale? Wir sehen
alle Dämonen der Erde, alle Mächte der Finsternis losgelassen. Die Zeichen
auf Belsazars Mauer erscheinen wieder: Mene Tekel Upharsin! Niemals stand
die Menschheit vor einem bedeutungsvolleren Wendepunkt, niemals verdunkelte
eine schwärzere Wolke die Welt. Niemals sehnte sich die Menschheit mehr nach
Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit; nach Rettung und Befreiung kleiner,
enterbter und bedrückter Nationen: Wir hoffen alle, daß aus Bösem Gutes
kommen wird. Es wird aber nicht von selbst aus „moderner Zivilisation"
erstehen, sondern vielmehr aus jenem universalen und nationalen
Rechtsgefühl, das der Zionismus erstrebt.
4. Wichtiger ist die Frage des
Patriotismus. Doch gibt es eigentlich, soweit der Zionismus hier in Betracht
kommt, diesbezüglich gar keine Frage. Es war eine Beleidigung und ein
Schimpf von Seiten der Antisemiten, als sie fragten: Kann ein Jude oder
Zionist ein Patriot sein? Hier brauchen keine widerstreitenden Gefühle
versöhnt zu werden, hier herrscht nur ein Gefühl: das der Treue. Ein
selbstischer Materialist wird niemals ein Gefühl für die alte Heimat seiner
Väter oder seine jetzige Heimat aufbringen. Sein Grundsatz lautet: Ubi bene,
ibi patria. (Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland.) Anderseits kann ein
Mann von Charakter ebenso leicht zwei Zielen Treue halten, als er
Vaterlands- und Familienliebe vereinigen kann.
Das Herz des Juden schlägt warm für das
Land, in dem er lebt, welches das Heim seiner Kindheit, die Schule seines
Jünglingsalters, der Haushalt seiner reifen Jahre ist: das Land, in welchem
er während seiner tätigen Jahre arbeitet, in welchem er bleiben will, wenn
die Jahre des Kampfes ums Brot vorüber sind. Kein Engländer kann England
mehr lieben oder mehr für seine Größe tun als der englische Jude. Das Kind
wird niemals die nährende Brust vergessen, an welcher es in glücklicheren
Tagen war. Dies ist natürlich. Und der Zionismus ist diesem Gefühl niemals
hemmend gegenübergetreten. Zionisten sind genau so gute Patrioten wie
Nichtzionisten; sie arbeiten für ihre Heimat, sie opfern ihr Vermögen und
ihr Leben. Sogar in Ländern, wo die Juden ihrer Bürgerrechte beraubt waren,
sind sie als Bürger tätig gewesen, und dies nicht nur im Kriege, sondern
auch im Frieden.
Keiner ist so eifrig bestrebt, sein
Bestes für das Land zu geben und es in Industrie, Kunst und Wissenschaft
nach all seinen Kräften vorwärtszubringen. Hierin sind Zionisten und
Nichtzionisten vollständig einig. Den Zionisten ist es gleichgültig, ob die
Antisemiten ihren Patriotismus anerkennen wollen oder nicht. Ebenso ist es
unmöglich zu wissen, ob die Antisemiten den Patriotismus von Juden, die
keine Zionisten sind, anerkennen wollen. Gegen Vorurteile kann man nicht
ankämpfen. Doch zwischen den Juden selbst und freier denkenden
Andersgläubigen sollte diese Frage der Unvereinbarlichkeit von Zionismus und
Patriotismus wegen ihrer offensichtlichen Sinnwidrigkeit ein für allemal
ausgeschaltet werden.
5. Die Frage der Rechtsgleichheit ist
ein anderes Problem, das die Antizionisten für ihren Standpunkt verwerten
wollten. Die russische Revolution hat mit ihrer Anerkennung der
individuellen und nationalen Rechte in einem Land, wo diese Frage die
brennendste für die Juden war, den Gegnern dieses Standpunktes den Boden
unter ihren Füßen entzogen. Und wir brauchen nicht länger auf die
Streitfrage eingehen, ob zwischen den Zielen des Zionismus nach Anerkennung
der jüdischen Nationalität und der Forderung des einzelnen Juden, an den
Bürgerrechten Anteil zu haben, da er ja bereit ist, die Pflichten zu
erfüllen, eine Unvereinbarlichkeit besteht. Es liegt in der Tat ein
unfreiwilliger Humor in dem Versuch, das Problem in diese Forderung zu
pressen: "Entweder Rechte, oder Palästina!" Das ist der Gipfel der Naivität
und dieser Gegensatz ist eine sinnlose Erfindung. Jeder Kenner der jüdischen
Geschichte weiß, daß Judenverfolgungen oder Unterdrückung ihrer Rechte nicht
aus dem Grund erfolgten, weil sie Zionisten waren oder nicht. Man könnte
leichter einen Zusammenhang zwischen Antisemiten und der Assimilation
derjenigen Juden herstellen, welche sich zu schnell anpassen wollten. Doch
auch dieser Punkt ist gleichgültig. Die Juden dürfen sich nicht selbst
aufgeben, denn auch so würden sie keine Rechte erhalten. Je mehr sie sich
selbst achten, um so mehr werden sie geachtet werden. Und worin besteht die
Selbstachtung eines alten Volkes? Selbstachtung ist treues Festhalten an der
eigenen Geschichte und seinen Traditionen. Da gibt es keine Zweiheit und
keinen Gegensatz, sondern nur ein jüdisches Problem, das seine Lösung
verlangt. Es gibt auch nur eine Gerechtigkeit für den einzelnen und für
Völker. Gerechtigkeit wird jüdische Wünsche anhören, Ungerechtigkeit wird
dagegen taub für jede Forderung sein. Schwachköpfige und ängstliche Leute
fürchteten, daß der Zionismus, der die Juden als Nationalität anerkennt, den
Antisemiten Gelegenheit geben werde, uns Heimatlosigkeit vorzuwerfen.
Schwachköpfigkeit und Furcht sind schlechte Ratgeber. Die Antisemiten
warteten nicht auf den Zionismus, um uns diesen Vorwurf
entgegenzuschleudern. Doch die Christen, bei denen wir ein Gefühl für
Gerechtigkeit voraussetzen können, werden uns glauben, wenn wir ihnen
folgendes sagen: "Wir Juden sind treue Bürger der Staaten, denen wir
angehören. Alle Interessen des Landes sind auch die unsrigen. Wir haben kein
einziges Interesse, welches sich mit einem Interesse eures Landes kreuzte.
Wir sind stark und empfinden tief, deshalb sind wir mit solcher Liebe dem
Lande treu, wo unsere Wiege stand und die Gebeine unserer Väter begraben
sind."
Dies Selbstvertrauen ist der Grundzug
des Zionismus. Dieser ist ein jüdisches Programm, da er von den Juden Mut,
Tatkraft, Opferwilligkeit, Beharrlichkeit und Willensstärke verlangt. Für
die jüdische Befreiung ist die wichtigste Bedingung das Mitgefühl der
andern, für den Zionismus dagegen, daß die Juden Juden bleiben, die mit
unerschütterlicher Beharrlichkeit diesem nationalen Ideal ergeben bleiben.
Im »ersten Falle muß die wirkliche Arbeit von andern geleistet werden; die
Juden können dabei wenig tun, da ihre Rolle hauptsächlich eine passive ist.
Sie mögen verfolgt werden oder nicht, Rechte erhalten oder nicht. Der
Hauptsache nach hängt dies alles von Umständen ab, die außerhalb ihres
Einflusses und ihrer Kontrolle liegen. Doch der Zionismus ist in seinem
Wesen ein aktives jüdisches Programm, er ist wirkliche jüdische Selbsthilfe.
Er will die Juden zu Schöpfern, nicht zu Geschöpfen von Zufälligkeiten
machen.
Wie alle Juden sind die Zionisten
überzeugte Optimisten, aber ihr Optimismus kennt nicht die Devise: "Warten
und zusehen:" Das Vertrauen in die Zukunft war der Fluch der Juden. Das
Vertrauen in den „Fortschritt" als ein Idol war Blindheit. Weg mit
Vergötterung! Die Juden haben ihre Sache selbst in die Hand genommen, denn
Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Zunächst müssen sie die allgemeine
Lage der Welt und die ihres eigenen Volkes in Betracht ziehen. Sie müssen
auch die Zeichen der Zeit verstehen, die nie stillsteht. Wir sind nicht mehr
am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Grundzug unserer Zeit als der einer
nationalistischen Zeit liegt offen zutage.
Der Zionismus blickt auf die 2000 Jahre
der jüdischen Tragödie in der Erwartung, Gerechtigkeit für seine nationalen
Forderungen zu finden. Das jüdische Problem ist im Wesen (und unabhängig von
der Notwendigkeit menschlicher Rechte für die in der Welt zerstreuten Juden)
eine Frage der nationalen Heimatlosigkeit.
Die Welt hat heute eine Periode hinter
sich, die wie ein Alp aus Blut und Zerstörung auf ihr liegt und doch
manchmal als einer jener großen Zeitabschnitte angesehen werden muß, die den
Menschen zum Einsatz all seiner Lebensenergie zwingen, über ganz Europa, Ja
über die ganze Welt brauste der Sturm des größten und furchtbarsten Krieges
der Geschichte mit der Wut von Tausenden ausbrechender Vulkane oder
losgelassener Höllen. Blühende Länder wurden in Schutt und Ruinen
verwandelt, weite Gefilde mit dem Blute von Millionen von Männern
durchtränkt. Breite Massen der Bevölkerung, fast ganze Völker wurden
vernichte! oder aus ihren Ländern vertrieben.
Doch endlich wird wieder Friede in die
zerrüttete Welt kommen, ein dauernder Friede der Sicherheit und
Gerechtigkeit für große und kleine Völker auf der ganzen Welt. Neue Probleme
und neue Lösungen drängen zu einer Klärung, wir stehen vor politischen,
wirtschaftlichen und völkischen Fragen. Es ist allgemeine Überzeugung, die
keiner Begründung bedarf, daß die heutige Entwicklung unvermeidlich dahin
zielt, von neuem und mit allem Nachdruck historische Traditionen, Ziele und
Unterschiede zu betonen. Die Lösung dieser Fragen wird manche Schwierigkeit
ergeben, doch diese werden durch Entschlossenheit und die Notwendigkeit
überwunden werden. Es wird viel Arbeit geben, denn es wird lange dauern,
bevor der Stillstand, den der Krieg jedem Fortschritt gegenüber verschuldet
hat, gutgemacht ist und die Spuren dieser grausamen Zerstörung verwischt
sind. Doch dieses Werk wird früher oder später vollendet werden. Die ganze
Energie der Regierungen und Völker wird dem Wiederaufbau gewidmet sein
müssen. Endlich wird der Pflüger vom Schlachtfeld zum Acker, der Kaufmann
aus dem Lager auf den Markt zurückkehren, und jeder sein altes Heim und
seine frühere Beschäftigung wieder aufsuchen. Jedes Volk, das ein Land
besitzt, wird wieder in die Höhe kommen und sich von den Schlägen des
Krieges erholen. Die Landwirtschaft, die innere Entwicklung, das
industrielle und geistige Leben der Völker wird wieder in neuer Blüte
erstehen.
Nun kann von allen Schlachtfeldern und
Friedhöfen des Krieges keiner mit dem Ruinenfelde des jüdischen Getto in
Osteuropa verglichen werden. Millionen von Juden sind durch Ströme von Blut
und Tränen gewatet. Städte und Dörfer wurden von ihrem Blute rot. Die Juden
haben ihren Handel, ihr Vermögen, ja sich selbst geopfert. Die Blüte ihrer
Jungmannschaft ist verloren oder verstümmelt. Die Lebensadern wurden
durchschnitten, jede Existenzmöglichkeit unterbrochen. Das Schwert des
Damokles bedroht die Überlebenden. Hungernde und zerstörte Gemeinden zittern
am Rande des Abgrundes.
Und was wird die Zukunft für alle diese
Millionen bringen? Wie soll diese führer- und heimatlose Menge diese
furchtbare Krisis überwinden? Wo sind die Felder, die ihrer harren, um den
Speer in die Pflugschar zu verwandeln? Keine Antwort ertönt auf diese
Fragen! Waren alle ihre Leiden umsonst? Sollen wieder ungezählte Juden nach
England und Amerika auswandern, um als Bettler oder unwillkommene Fremde ihr
Auslangen zu finden? Wieviel Hilfe aus jüdischen Kreisen wird nutzlos
vergeudet und verliert sich, schlecht beraten oder auf den unrechten Platz
geleitet, in den Sand! Trotz all dieser Ströme nutzlosen Mitleides und
brüderlicher Liebe, die helfen möchte, ohne jedoch zu wissen wie und
wo, bleibt die traurige Lage der Juden unverändert.
Doch gibt es eine Lösung des Problems
und diese ist der Zionismus: gebt den Juden ihre Heimat wieder! Palästina
und die dünn bevölkerten Nachbardistrikte können der große Abfluß für den
Strom der jüdischen Bevölkerung werden. Palästina kann wieder zur Blüte
gebracht werden und wie in den Tagen Davids und Salomons eine große
Bevölkerung ernähren. Weite Strecken der sogenannten Syrischen Wüste sind
tatsächlich nur abgeforstete Gebiete, und wohin der Mensch friedlich seinen
Fuß setzt, erwacht der trockene Boden zu neuem Leben. Die Ebenen des Hauran,
die Dörfer des Jordan, das Land von Gilead könnten die reichsten Kornkammern
der Welt werden.
Palästina kann wieder in den Mittelpunkt
einer weitausholenden Politik treten. Napoleon I. und Alexander der Große
betrachteten dieses Land als den Schlüssel zum Tor zwischen Ost und West.
Der Grieche eroberte es und drang bis in das Fünfstromland (Indien) vor.
Napoleon scheiterte in seinem Versuche und mußte wieder heimkehren. Doch wie
groß auch der Wert Palästinas in jenen Tagen war, heute ist seine Bedeutung;
durch die gewaltige Ausdehnung der europäischen Zivilisation und Industrie
über Afrika, Australien, Indien und den ganzen Osten, durch Eisenbahnen,
Schiffsverbindungen, Telegraphen und den Suezkanal, der alle Entfernungen
verkürzt und die Welt im Vergleich zu früher so klein macht, ins
Unermeßliche gestiegen: aus diesen Gründen kann Palästina durch seine Lage
ein gesegnetes und glückliches Land werden.
Die gegenwärtige Lage bietet zahlreiche
Möglichkeiten und Ausblicke, denn in der Frage über die alte Heimat der
Juden sind verheißungsvolle Fortschritte erzielt worden. Das ist die Stunde
des Zionismus. Der Augenblick der Tat ist gekommen. Die Geschichte würde die
Zionisten verurteilen, ließen sie die jetzige Gelegenheit unbenutzt
verstreichen. Doch wo soll ihre Tätigkeit einsetzen? Das Basier Programm der
Zionisten, das der erste Zionistenkongreß des Jahres 1897 festlegte, gibt
die Antwort auf diese Frage:
Der Zionismus erstrebt für das jüdische
Volk eine Heimat in Palästina, die durch Staatsverträge gewährleistet und
geschützt wird.
Der Kongreß betrachtet folgende Mittel
als geeignet zur Erreichung dieses Zieles:
1. Die Förderung der Besiedlung
Palästinas durch jüdische Land- und Industriearbeiter.
2. Zusammenschluß der gesamten
Judenschaft durch geeignete lokale und internationale Vereinbarungen
gemäß den Gesetzen eines jeden Landes.
3. Stärkung und Pflege des
jüdisch-nationalen Denkens und Fühlens.
4. Einleitung vorbereitender
Schritte, gegebenenfalls die Zustimmung der Regierungen für die
Verwirklichung dieser Ziele des Zionismus zu erlangen.
Bei der Durchführung ihrer gesteckten
Ziele sind die Zionisten von dem einen Wunsche beseelt, die Heimat ihrer
Väter als Mittelpunkt zu gewinnen, wo die Juden ihr Brot verdienen sollen,
und wo die Nation auf diese Weise sich betätigen kann. Sie wollen
nutzbringend jüdische Energie mit den Kräften jüdischen Kapitals und
jüdischer Auswanderung vereinigen und so das in alle Welt zerstreute Volk zu
einer neuen Höhe materiellen Wohlstandes und moralischer Würde in Palästina
erheben.
Die Zionisten haben dieses Werk begonnen
und es hat sich als verheißungsvoll erwiesen. Die "Freunde Sions" und die
Zionisten haben die neue Kolonisation von Palästina ins Leben gerufen. Sie
haben es übernommen, geeignete Elemente auszuwählen, sie hinüberzuschaffen,
ihnen durch alle Auskünfte und Unterstützungen an die Hand zu gehen. Man
sagte, und es wird von Antizionisten immer wiederholt, daß das Ziel des
Zionismus die Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates sei. Dies ist
alles Täuschung. Der "jüdische Staat" war niemals ein Programmpunkt der
Zionisten. Der "jüdische Staat" war der Titel von Herzls erster
Streitschrift, deren Hauptverdienst es war, die Menge zum Denken angeregt zu
haben. Auf diese Schrift folgte der erste zionistische Kongreß, der das
Basler Programm annahm, das einzige Programm, das besteht.
Immer mehr in die Enge getrieben, hat
die Opposition eine gewisse Verwirrung der Ideen dadurch hervorgerufen, daß
sie das Schlagwort vom "politischen Zionismus" erfand, indem sie den
Zionismus als eine politische Bewegung hinstellte. Doch worin besteht der
politische Charakter dieser Bewegung? Der Ausdruck "politisch" verdeckt zwei
verschiedene Auffassungen. Die eine erblickt im Zionismus eine mit
Abenteuern, Intrigen und Revolten liebäugelnde Strömung, nach der anderen
ist er ein System, welches politische Forderungen vertritt. Eine politische
Bewegung im Sinne der ersten Erklärung würde die Verwirklichung ihrer Pläne
auf dem Wege politischer Spekulation versuchen; im zweiten Fall wird jedoch
eine politische Bewegung, wie der Zionismus es ist, ihr Ziel unter allen
Umständen zu erreichen suchen und auch trachten, die an der Spitze der Macht
stehenden Männer zu gewinnen, um die bestmöglichen Zugeständnisse zu
erlangen. Das Basler Programm und die ganze zionistische Bewegung legt klar
Zeugnis ab für die Tatsache, daß der Zionismus nichts mit politischer
Abenteuerei zu tun hat. Zionisten sind niemals mit Angriffen gegen eine
Politik hervorgetreten oder haben sich im Gegensatz zu einer Regierung oder
einem Volk gestellt. Sie wünschten vielmehr immer (siehe § 4 des Basler
Programms), bei allen Regierungen und Völkern, die im zionistischen Programm
eine Förderung der Gerechtigkeit und Freiheit erblicken wollten, eine
Unterstützung für die Hauptpunkte ihres Programms zu finden.
Der Zionismus sucht folgende Ziele zu
verwirklichen:
1. Eine Heimat für die materiell und
moralisch leidenden Juden.
2. Eine Heimat für jüdische Erziehung,
Schulbildung und Literatur.
3. Eine Quelle des Idealismus für alle
Juden der Welt.
4. Einen Platz, auf dem die Juden nach
ihren Anschauungen sich ihr Leben einrichten können.
5. Eine Wiederbelebung der biblischen
Sprache.
6. Wiederaufbau der alten Heimat unserer
Väter durch Zivilisation und Industrie.
7. Schaffung einer gesunden, starken
jüdischen Landbevölkerung.
So will der Zionismus eine jüdische
Gemeinschaft begründen, die durch gemeinsames Fühlen und Denken verbunden
ist und ihr Geschick selbst bestimmen kann. Die Zionisten brauchen ein
Gemeinwesen Jüdischer Kolonisation und Werktätigkeit, eine Niederlassung
jüdischer Pioniere und Arbeiter, welche ihre eigene Zivilisation frei von
allen Hemmungen entwickeln können. Dies ist nur in Palästina möglich, daher
ist diese Voraussetzung die Grundbedingung des gesamten jüdischen Volkes.
Die Schaffung einer solchen
Niederlassung wird den Juden auf Wirtschaftlichem Gebiete helfen, doch hängt
es von der geleisteten Arbeit ab. in welchem Ausmaß und wie schnell sich
diese Hilfe äußern wird. Es kann eine langsame, aber um so gründlichere
Arbeit sein, die den Grundstein für ein gewaltiges Gebäude legen soll.
Palästina kann die Heimat einer großen Menge von Juden werden. Doch wie dem
auch sei, die Gründung einer nationalen Heimat für die Juden
wird ihr Prestige unter den anderen Völkern steigern, ohne die Forderungen
des Rechtes und der Billigkeit zu beeinträchtigen, die auf solche Weise nur
eine Stärkung erfahren.
Für den geistigen Gehalt des Judentums
wird dieses Werk ein Wiederaufleben bedeuten, denn nun wird das Judentum
nicht länger abstrakte Definition, sondern wirkliches Leben bedeuten. Die
Beschäftigung mit dem Hebräischen wird nun nicht mehr als totes
Sprachstudium gelten, das nur von Schülern und Fachleuten betrieben wird,
diese Studien werden vielmehr eine fortlaufende Kette in der Entwicklung und
kulturellen Erbschaft einer lebenden Nation vorstellen.
Die Zionisten verkennen nicht die Größe
und Schwierigkeiten der Aufgabe, die sie zu überwinden haben. Doch werden
sie diesen Schwierigkeiten als ernste Männer und begeistert von der Größe
ihrer gerechten Sache entgegentreten. Mit ihrem Ziele vor Augen wollen die
Zionisten in vollster Eintracht mit allen Freunden der Gerechtigkeit,
Freiheit und Wahrheit zusammenarbeiten; doch während sie um die Befreiung
ihres Volkes kämpfen, werden sie sich niemals zu einer gerechten Forderung,
die der Patriotismus einer anderen Nation erhebt, in Gegensatz setzen. Sie
werden ihre Sache danach richten oder sie unterordnen. In diesem Sinne
sprechen wir von einem „politischen Zionismus".
Die Geschichte zeigt, daß die
zionistische Idee und die fortwährende Erneuerung aller Anstrengungen in
dieser Richtung eine jahrhundertelange Tradition innerhalb des englischen
Volkes aufweisen. Anglikaner lehrten die unsterblichen Glaubenssätze der
Juden, und so war der Zionismus dauernd mit England verbunden. Die
jüdischnationale Idee hat sich zunächst an englisches Empfinden gewendet,
hat das Herz der englischen Nation gerührt. Tatsachen und Berichte
widerlegen die absurde und doch so tief eingewurzelte Anschauung, daß der
Zionismus nur eine Träumerei von Sektierern oder Phantasien von Schwärmern
sei Die in diesem Buch zitierten Dokumente geben überzeugende Beweise von
der hohen moralischen Würde und dem politischen Wert, welche die
zionistische Sache im Urteil hervorragender englischer Denker, Literaten und
Dichter im Laufe der Generationen gefunden hat. Durch fast drei Jahrhunderte
hindurch war der Zionismus ebensogut eine religiöse als auch politische
Idee, welche große Christen und Juden, hauptsächlich in England, dann aber
auch in Frankreich, der Nachwelt überlieferten. Und außerdem ergibt sich aus
der Überprüfung der hier in Betracht kommenden Punkte die Tatsache, daß, so
oft die Aufmerksamkeit der Welt auf die Frage von Palästina und auf
Maßnahmen zur Verbesserung der Lage im Osten gelenkt wurde, die englische
öffentliche Meinung der zionistischen Idee am sympathischesten
gegenüberstand. Demnach ist die gegenwärtige zionistische Bewegung ein
logischer Abschluß aller Prämissen, die von verschiedenen Gesichtspunkten
aus nicht nur von einer großen Anzahl jüdischer Autoritäten, sondern auch
von der öffentlichen Meinung in großen zivilisierten Ländern Westeuropas
angenommen wurden. So hoffen also die Zionisten, daß die englischen Christen
würdige Erben und Nachfolger des Earl v. Shaftesbury, George Eliot und
vieler anderer sein werden: die englischen Juden sich einen Moses
Montefiore, französische Christen einen Henri Dunan, französische Juden
einen Josef Salvador, Bernard Lazare und andere zum Vorbild nehmen. Da
außerdem der Zionismus nichts enthält, was Streit und Zank in die Welt
brächte, sondern vielmehr nach Frieden und Einigung strebt, so hoffen wir,
daß sich die Völker der Welt dieser Überzeugung nicht verschließen und
seinen Zielen ihre Unterstützung gewähren werden.
Der Zionismus hat sein Werk in Palästina
begonnen und wird es fortsetzen. In Anerkennung der Aspirationen der Juden
auf Palästina und ihrer historischen Rechte hat die britische Regierung am
2. November 1917 die bekannte Erklärung abgegeben. Ihr geht die französische
Enunziation vom 4. Juni 1917 voraus, die in dem an mich gerichteten Brief
vom 14. Februar 191S des Ministers für Auswärtiges, H. Stephan Pichon, in
ihrer Gänze anerkannt wurde, ferner auch der Brief der italienischen
Regierung vom 9. Mai 1918, der die Übereinstimmung der italienischen
Regierung mit diesen Erklärungen bekundet. (Siehe das Kapitel: Zionismus und
der Krieg.) Es wird nun die Aufgabe des Zionismus sein, mit aller Kraft die
für seine Ziele in Betracht kommenden materiellen und moralischen
Hilfsmittel zusammenzubringen. Diejenigen Juden, die noch außerhalb der
Bewegung stehen, werden sich ihr allmählich anschließen, da es außer
ungerechtfertigten Vorurteilen kein Argument gegen diese friedliche Idee
einer nationalen Gerechtigkeit gibt. Doch will der Zionismus auch moralische
Unterstützung bei den Völkern finden, und gerade in England wird kein Jude,
der historische Kenntnisse besitzt, jemals das Verständnis Englands für die
zionistische Idee im Laufe der Jahrhunderte vergessen. Sind doch die
glorreichsten Seiten der Geschichte Englands die, als Britannien an der
Spitze der anderen Nationen für die Befreiung alter Völker eintrat. Die
Freunde Griechenlands und Italiens werden dieser Tradition nicht untreu
werden.
Die Zionisten können das begründen, was
sie wollen. Sie wollen nicht nur ihr Werk fortsetzen, sondern es auf
breitester Basis entwickeln. Sie wollen als Ackerbauer, Handwerker und
geistige Arbeiter ein Werk des Friedens durchführen. Sie sind bereit,
Kapital, Energie und Intelligenz dafür einzusetzen, eine Heimat für die
Juden zu schaffen. Palästina soll neu erstehen. Doch dazu brauchen wir eine
nationale Selbständigkeit, um das Gedeihen eines jüdischen Palästina zu
sichern.
Möge die Menschheit für Palästina nur
die Hälfte all dessen tun, was es für die entlegensten Kolonien so freigebig
getan hat, vielleicht noch weniger, denn die Zionisten bitten nicht um
materielle Hilfe oder sonstige ungern gegebene Bürgschaften. Sie wollen nur
eine freundliche Prüfung ihrer Sache und Hilfe, Anerkennung und Schutz. Und
die Menschheit kann der Dankbarkeit eines Volkes sicher sein, das, obgleich
hart geprüft, niemals in seinen Zuneigungen erkaltete, eines Volkes, das
durch seine Wiedererstehung das werden soll, was es in alten Zeiten war,
nicht eine Macht des Schwertes, sondern ein Freund geistiger und friedlicher
Entwicklung. Dann wird die Zeit kommen, wo die Dankbarkeit dieses Volkes
seine Schuld der Welt gegenüber für die Mitarbeit an seiner gerechten und
großen Sache anerkennen und abstatten wird.
Zurück zur Übersicht
hagalil.com
10-05-07 |