Kongressrede, Basel, 29. August 1897
Von Max Nordau
Die Sonderberichterstatter für die
einzelnen Länder werden Ihnen die Lage unserer Brüder in den verschiedenen
Staaten eingehend schildern. Einige ihrer Berichte haben mir vorgelegen,
andere nicht. Aber auch von den Ländern, über die ich von meinen
Mitarbeitern nichts erfuhr, habe ich teils aus eigener Anschauung, teils aus
anderen Quellen einige Kenntnis, so daß ich es vielleicht ohne
Selbstüberhebung unternehmen darf, ein Gesamtbild von der Verfassung der
Judenheit am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts zu entwerfen.
Dieses Bild kann ungefähr aus einem einzigen Farbenton gemalt werden.
Ueberall, wo Juden in einigermaßen größerer Zahl unter den Völkern siedeln,
herrscht Judennot. Es ist nicht die Durchschnittsnot, die das wahrscheinlich
unabänderliche Erdengeschick unserer Gattung ist. Es ist eine besondere Not,
die die Juden nicht als Menschen, sondern als Juden erleiden und von der sie
frei sein würden, wenn sie keine Juden wären.
Die Judennot hat zwei Formen, eine sachliche und eine sittliche. In
Osteuropa, in Nordafrika, in Westasien, gerade in den Gebieten, die die
ungeheure Mehrheit, wahrscheinlich neun Zehntel, aller Juden beherbergen,
ist die Judennot buchstäblich zu verstehen. Es ist ein tägliches Drangsal
des Leibes; ein Bangen vor jedem folgenden Tage; ein qualvolles Ringen um
die Erhaltung des nackten Lebens. Im europäischen Westen ist den Juden der
Kampf ums Dasein etwas leichter gemacht, obschon neuerdings die Neigung
sichtbar wird, ihn ihnen auch hier wieder zu erschweren. Die Brot- und
Obdachfrage, die Frage der Sicherheit von Leib und Leben martert sie
weniger. Hier ist die Not eine sittliche. Sie besteht in täglichen
Kränkungen des Selbst- und Ehrgefühles. Sie besteht in der rauhen
Unterdrückung ihres Dranges nach seelischen Befriedigungen, nach denen zu
streben kein Nichtjude sich zu versagen braucht.
In Rußland, dessen jüdische Bevölkerung über fünf Millionen beträgt und das
die Heimat von mehr als der Hälfte aller Juden ist, sind unsere Brüder
manchen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen. Nur eine wenig zahlreiche
jüdische Sekte, die der Karaiten, genießt dieselben Rechte wie die
christlichen Untertanen des Zaren. Den übrigen Juden ist der Aufenthalt in
einem großen Teile des Staates untersagt. Der Freizügigkeit erfreuen sich
nur gewisse Kategorien von Juden, z. B. Kaufleute der ersten Gilde, Besitzer
akademischer Titel usw. Aber um zur ersten Kaufmannsgilde zu gehören, muß
man reich sein, und das sind nur wenige russische Juden, und akademische
Titel können auch nicht viele Juden in Rußland erwerben, denn die
staatlichen Mittel- und Hochschulen lassen jüdische Schüler nur in sehr
beschränkter Zahl zu, ausländische Diplome aber gewähren keine gesetzlichen
Rechte. Es ist den Juden untersagt, manche Gewerbe zu betreiben, deren
Betrieb allen christlichen Russen freisteht. Diese unglücklichen Menschen
sind in einigen Gouvernements zusammengepfercht, wo es für sie keine
Gelegenheit gibt, ihre Fähigkeiten und ihren guten Willen zu betätigen. Die
Bildungsquellen des Staates fließen spärlich für sie, eigene können sie sich
nicht erschließen, weil sie zu arm sind. Wer irgend kann, der wandert aus,
um in der Fremde Luft und Licht zu finden, die ihm in der Heimat versagt
sind. Wer dazu nicht jung oder mutig genug ist, der bleibt in seinem Elend
und verkommt darin geistig, sittlich, leiblich.
Von Rumänien mit seiner Viertelmillion Juden hören wir, daß unsere Brüder
auch dort rechtlos sind. Sie dürfen nur in den Städten wohnen, sind jeder
Willkür der Behörden und selbst der niedrigen Beamten preisgegeben, von Zeit
zu Zeit den blutigen Gewalttaten des Pöbels ausgesetzt und in den
schlechtesten wirtschaftlichen Verhältnissen. Unser rumänischer
Sonderberichterstatter schätzt die Zahl der völlig mittellosen auf die
Hälfte aller rumänischen Juden.
Grauenhaft sind die Zustände, die unser galizischer Berichterstatter uns
enthüllt. Von den 772 000 Juden Galiziens sind nach den Angaben des Herrn
Dr. Salz 70 Prozent buchstäblich Bettler, Berufsarme, die Almosen verlangen,
freilich meist ohne es zu empfangen. Die übrigen Einzelheiten seines
Berichtes will ich nicht vorwegnehmen. Sie sollen nicht zweimal das Grauen
empfinden, das er in Ihnen erregen wird.
Für die Verhältnisse Westösterreichs mit seinen rund 400 000 Juden ist die
Angabe des Herrn Dr. Mintz kennzeichnend, daß in Wien von 25 000 jüdischen
Haushaltungen 15 000 wegen Armut zur Kultussteuer gar nicht herangezogen
werden können. Von den 10 000 Besteuerten sind 90 Prozent zum niedrigsten
Steuersatz veranlagt. Aber auch von dieser Kategorie der
Niedrigstbesteuerten sind drei Viertel nicht imstande, ihre Steuerpflicht zu
erfüllen. Das geschriebene Gesetz kennt in Oesterreich, anders als in
Rußland und Rumänien, keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Aber
die öffentlichen Gewalten behandeln das Gesetz kühl als toten Buchstaben und
die Sitte richtet den Judenbann wieder auf, den der Gesetzgeber niedergelegt
hat. Die gesellschaftliche Aechtung erschwert den Juden den Broterwerb und
wird ihn in naher Zukunft vielfach ganz unmöglich machen.
Aus Bulgarien tönt uns derselbe Klageschrei entgegen: ein heuchlerisches
Gesetz, das keinen Unterschied des Rechtes wegen Verschiedenheit des
Glaubens kennt, über das die Behörden sich jedoch hinwegsetzen; eine
Feindseligkeit in allen Kreisen, die den Juden überall zurückscheucht; Not
und Elend ohne Hoffnung auf Besserung bei der weitaus überwiegenden Mehrheit
der Juden.
In Ungarn klagen die Juden nicht. Sie sind im Vollbesitze aller
Bürgerrechte; sie dürfen arbeiten und erwerben und ihre wirtschaftliche Lage
wird günstiger. Freilich dauert dieser glückliche Zustand noch nicht lange
genug, um der Mehrheit der Juden ermöglicht zu haben, sich aus der tiefsten
Armut herauszuarbeiten, und so sind die meisten Juden auch in Ungarn noch
nicht selbst zu einem Anfang von Wohlstand gelangt. Ueberdies versichern
Kenner der Verhältnisse, daß auch in Ungarn der Judenhaß unter der Decke
fortglimmt und bei erster Gelegenheit verheerend ausbrechen wird.
Die 150 000 Juden von Marokko, die Juden von Persien, deren Zahl mir nicht
bekannt ist, muß ich vernachlässigen. Die Aermsten haben nicht einmal mehr
die Kraft, sich gegen ihr Elend aufzulehnen. Sie tragen es in stumpfer
Ergebung, klagen nicht und rufen unsere Aufmerksamkeit nur an, wenn der
Pöbel in ihr Ghetto einbricht und unter ihnen plündert, schändet und mordet.
Die Länder, die ich angeführt habe, bestimmen die Geschicke von weit über
sieben Millionen Juden. Sie alle, mit Ausnahme von Ungarn, drücken durch
Rechtsbeschränkung und amtliche oder gesellschaftliche Ungunst die Juden zum
Stande der Proletarier und Berufsarmen hinab, ohne ihnen auch nur die
Hoffnung zu lassen, durch noch so große Einzeloder Gesamt-Anstrengung sich
über diese wirtschaftliche Stufe zu erheben.
Die gewissen "praktischen" Leute, die sich jede "unfruchtbare Träumerei"
versagen und ihr Streben auf Nächstliegendes, Erreichbares richten, sind der
Meinung, daß die Aufhebung der gesetzlichen Rechtsbeschränkungen dem Elend
der Juden in Osteuropa abhelfen würde. Galizien übernimmt es, die Kritik
dieser Meinung zu liefern. Und nicht Galizien allein. Das Heilmittel der
gesetzlichen Emanzipation ist in allen Staaten der obersten Gesittungsstufe
versucht worden. Sehen wir, was das Experiment lehrt.
Die Juden Westeuropas sind keiner Rechtsbeschränkung unterworfen. Sie dürfen
sich frei bewegen und entwickeln, genau wie ihre christlichen Landgenossen.
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Bewegungsfreiheit waren denn auch
unzweifelhaft die günstigsten. Die jüdischen Rasseneigenschaften des
Fleißes, der Ausdauer, der Nüchternheit, der Sparsamkeit bewirkten die
rasche Abnahme des jüdischen Proletariats, das in manchen Ländern
vollständig verschwunden wäre, wenn es nicht durch jüdische Einwanderung aus
dem Osten genährt würde. Die emanzipierten Juden des Westens gelangen
verhältnismäßig rasch zu mäßigem Wohlstand. Jedenfalls nimmt das Ringen um
das tägliche Brot bei ihnen nicht die schauerlichen Formen an, die in
Rußland, Rumänien und Galizien beschrieben werden. Aber unter diesen Juden
wächst die andere Judennot empor: die sittliche.
Der Jude des Westens hat Brot, aber man lebt nicht von Brot allein. Der Jude
des Westens sieht Leib und Leben kaum mehr vom Pöbelhaß gefährdet, aber die
Wunden des Fleisches sind nicht die einzigen, die schmerzen und an denen man
sich verblutet. Der Jude des Westens hat die Emanzipation als wirkliche
Befreiung gedeutet und sich beeilt, aus ihr die letzten Folgerungen -zu
ziehen. Die Völker bedeuten ihm, daß er Unrecht habe, so unbefangen logisch
zu sein. Das Gesetz richtet großmütig die Theorie der Gleichberechtigung
auf. Regierung und Gesellschaft üben eine Praxis der Gleichberechtigung, die
aus dieser einen Hohn machen, wie die Ernennung Sancho Panzas zum glänzenden
Posten eines Vizekönigs der Insel Barataria. Der Jude sagt naiv: "Ich bin
ein Mensch, und nichts Menschliches erachte ich als mir fremd." Ihm tönt die
Antwort entgegen: "Gemach, dein Menschentum ist mit Vorsicht zu gebrauchen;
dir fehlen der richtige Ehrbegriff, das Pflichtgefühl, die Sittlichkeit, die
Vaterlandsliebe, der Idealismus, und wir müssen dich deshalb von allen
Verrichtungen fernhalten, die diese Eigenschaften voraussetzen."
Durch Tatsachen hat man diese furchtbaren Beschuldigungen niemals zu
begründen versucht. Höchstens wird ab und zu das Beispiel eines einzelnen
Juden, eines Auswurfes seines Stammes und der Menschheit, triumphierend
angeführt und allen Gesetzen des richtigen Denkens und Schließens entgegen
kühn verallgemeinert. Aber das ist psychologisch wohlbegründet. Es ist die
Gewohnheit des menschlichen Bewußtseins, für die Vorurteile, die das Gefühl
in ihm wachruft, nachträglich vernünftig scheinende Begründungen hinzu zu
erfinden. Die Volksweisheit hat dieses psychologische Gesetz längst erkannt
und in ihrer anschaulichen Weise in ausdrucksvolle Formeln gefaßt. "Wenn man
einen Hund ersäufen will", sagt das Sprichwort, "so behauptet man, er sei
toll." Man dichtet den Juden alle Laster an, weil man sich selbst beweisen
will, daß man recht hat, sie zu verabscheuen. Aber das Vorbestehende ist
eben, daß man die Juden verabscheut.
Ich muß das schmerzliche Wort aussprechen: die Völker, die die Juden
emanzipierten, haben sich einer Selbsttäuschung über ihre Gefühle
hingegeben. Um ihre volle Wirkung zu üben, mußte die Emanzipation im Gefühl
vollzogen sein, ehe sie im Gesetz ausgesprochen wurde. Das war aber nicht
der Fall. Das Gegenteil war der Fall. Die Geschichte der Judenemanzipation
ist eins der merkwürdigsten Hauptstücke der Geschichte des europäischen
Denkens. Die Judenemanzipation ist nicht die Folge der Einsicht, daß man
sich an einem Stamme schwer vergangen, daß man ihm Entsetzliches zugefügt
habe und daß es Zeit sei, tausendjähriges Unrecht zu sühnen; sie ist einzig
die Folge der geradlinig geometrischen Denkweise des französischen
Rationalismus im 18. Jahrhundert. Dieser Rationalismus konstruierte sich mit
der bloßen Logik, ohne Rücksicht auf das lebendige Gefühl, Grundsätze von
der Bestimmtheit eines mathematischen Axioms und bestand darauf, diese
Gebilde der reinen Vernunft in der Welt der Wirklichkeiten zur Geltung zu
bringen. "Eher sollen die Kolonien umkommen als ein Grundsatz!" lautet der
bekannte Ausruf, der die Anwendung der rationalistischen Methode auf die
Politik zeigt. Die Judenemanzipation stellt eine andere -gleichsam
automatische Anwendung der rationalistischen Methode dar. Die Philosophie
Rousseaus und der Encyklopädisten hatte zur Erklärung der Menschenrechte
geführt. Aus der Erklärung der Menschenrechte leitete die starre Logik der
Männer der großen Umwälzung die Judenemanzipation ab. Sie stellten eine
regelrechte Gleichung auf: jeder Mensch hat von Natur bestimmte Rechte; die
Juden sind Menschen; folglich haben die Juden von Natur die Menschenrechte.
Und so wurde in Frankreich die Gleichberechtigung der Juden verkündet, nicht
aus brüderlichem Gefühle für die Juden, sondern weil die Logik es
erforderte. Das Volksgefühl sträubte sich sogar dagegen, aber die
Philosophie der Umwälzung gebot, die Grundsätze über die Gefühle zu stellen.
Man verzeihe mir den Ausdruck, der keine Undankbarkeit in sich schließt: die
Männer von 1792 emanzipierten uns aus Prinzipienreiterei.
Das übrige Westeuropa ahmte das Beispiel Frankreichs nach, wieder nicht
unter dem Drange des Gefühls, sondern weil die gesitteten Völker eine Art
sittlicher Nötigung empfanden, sich die Errungenschaften der großen
Umwälzung anzueignen. Wie das Frankreich der Revolution der Welt das
metrische System der Maße und Gewichte gab, so schuf es eine Art geistigen
Urmeters, den die übrigen Länder widerstrebend oder bereitwillig als
Normalmaß ihres Gesittungsstandes annahmen. Ein Land, das den Anspruch
erhob, auf der Höhe der Gesittung zu stehen, mußte gewisse, von der großen
Umwälzung geschaffene, übernommene oder entwickelte Einrichtungen besitzen,
z. B. Volksvertretung, Preßfreiheit, Schwurgericht, Trennung der Gewalten
usw. Die Judenemanzipation nun war auch eins dieser unerläßlichen
Einrichtungsstücke eines hochgesitteten staatlichen Hauswesens, etwa wie das
Piano, das im Salon nicht fehlen darf, auch wenn kein Familienmitglied
Klavier spielt. So wurden in Westeuropa die Juden emanzipiert, nicht aus
einem innern Drange, sondern in Nachahmung einer politischen Zeitmode, nicht
weil die Völker sich im Gemüte entschlossen hatten, den Juden die Bruderhand
zu reichen, sondern weil die führenden Geister ein gewisses europäisches
Gesittungsideal anerkannt hatten, das auch erforderte, daß im Gesetzbuch die
Judenemanzipation stehe. Nur auf ein Land findet all das keine Anwendung.
Das ist England. Das englische Volk läßt sich seine Fortschritte nicht von
außen aufnötigen. Es entwickelt sie aus sich heraus. In England ist die
Judenemanzipation eine Wahrheit. Sie ist nicht bloß geschrieben, sie wird
gelebt. Sie war im Gemüte längst vollzogen, als sie vom Gesetzgeber
ausdrücklich bestätigt wurde. Aus Achtung vor dem Hergebrachten scheute man
sich in England noch, die gesetzlichen Rechtsbeschränkungen der
Non-Konformisten förmlich aufzuheben, als die Engländer schon reichlich seit
einem Menschenalter gesellschaftlich keinen Unterschied mehr zwischen
Christen und Juden machten. Natürlich läßt ein großes Volk mit intensivstem
Geistesleben sich aus keiner geistigen Strömung, auch aus keiner geistigen
Verirrung der Zeit ausschalten und so wird auch in England Antisemitismus
vereinzelt beobachtet. Aber er hat dort nur die Bedeutung der Nachahmung
einer festländischen Mode, die von Einfaltspinseln aus Zierbengelei und
Geckenhaftigkeit als das Neueste aus der Fremde, als etwas vermeintlich
Vornehmes zur Schau getragen wird. Im ganzen werden Sie finden, daß der an
Tatsachen und Zahlenangaben so reiche Bericht des Mr. de Haas über die Lage
der Juden in England der tröstlichste von allen ist, die Ihnen vorgelegt
werden.
Die Emanzipation hat die Natur des Juden vollständig umgewandelt und aus ihm
ein anderes Wesen gemacht. Der rechtlose Jude der Voremanzipationszeit war
ein Fremder unter den Völkern, aber er dachte keinen Augenblick daran, sich
gegen dieses Verhältnis aufzulehnen. Er fühlte sich durchaus als Angehörigen
eines besondern Stammes, der mit den übrigen Landsassen nichts gemein hat.
Er liebte das vorgeschriebene gelbe Judenrad am Mantel nicht, weil es eine
amtliche Aufforderung an den Pöbel zu Rohheiten war und sie im voraus
obrigkeitlich rechtfertigte, aber freiwillig hob er seine Sonderart viel
stärker hervor, als es der gelbe Fleck tun konnte. Wo ihn nicht die Behörden
in ein Ghetto einmauerten, da richtete er sich selbst ein Ghetto ein. Er
wollte mit den Seinigen hausen und mit den christlichen Landsassen keine
anderen als geschäftliche Berührungen haben. In das Wort Ghetto schwirren
heute Obertöne von Schmach und Erniedrigung herein. Der Völkerpsychologe und
Sittengeschichtschreiber aber erkennt, daß das Ghetto, was immer es auch in
der Absicht der Völker gewesen sein mag, von den Juden der Vergangenheit
nicht als Gefängnis, sondern als Zufluchtstätte empfunden wurde. Es
entspricht der geschichtlichen Wahrheit, wenn man sagt, daß nur das Ghetto
den Juden die Möglichkeit bot, die entsetzlichen Verfolgungen des
Mittelalters zu überdauern. Im Ghetto hatte der Jude seine eigene Welt, sie
war ihm die sichere Heimstätte, die für ihn die geistige und sittliche
Bedeutung eines Vaterlandes hatte; hier waren die Genossen, bei denen man
gelten wollte, aber auch gelten konnte; hier bestand die öffentliche
Meinung, deren Anerkennung das Ziel des Ehrgeizes, deren Geringschätzung
oder Unwille die Strafe der Unwürdigkeit war; hier wurden alle spezifisch
jüdischen Eigenschaften geschätzt und durch ihre besondere Entwicklung war
die Bewunderung zu erlangen, die der scharfe Sporn der Menschenseele ist.
Was lag daran, daß außerhalb des Ghettos verachtet wurde, was man im Ghetto
pries ? An der Meinung des Außenstehenden lag nichts, denn es war die
Meinung unwissender Feinde. Man strebte, den Brüdern zu gefallen, und das
Gefallen der Brüder war ein würdiger Lebensinhalt. So lebten die Ghettojuden
in sittlicher Hinsicht ein Volleben. Ihre äußere Lage war unsicher, oft
schwer gefährdet, innerlich aber gelangten sie zur allseitigen Ausgestaltung
ihrer Eigenart und sie hatten nichts Fragmentarisches an sich. Sie waren
harmonische Menschen, denen keins der Elemente des Normaldaseins eines
Gesellschaftsmenschen fehlte. Sie fühlten auch triebhaft die ganze Bedeutung
des Ghettos für ihr Innenleben und sie hatten nur die eine Sorge, seinen
Bestand durch eine unsichtbare Umwallung zu sichern, die noch viel dicker
und höher war als die Steinmauern, die es greifbar einschlossen. Alle
jüdischen Bräuche und Gewohnheiten verfolgten unbewußt nur den einen Zweck,
das Judentum durch Absonderung von den Völkern zu erhalten, die jüdische
Gemeinschaft zu pflegen, dem einzelnen Juden fortwährend gegenwärtig zu
halten, daß er sich verlor und unterging, wenn er seine Eigenart aufgab.
Dieser Absonderungsdrang war die Quelle der meisten Ritualgesetze, die sich
für den Durchschnittsjuden mit dem Begriff des Glaubens selbst deckten, und
auch andere rein äußerliche, oft zufällige Unterscheidungsmerkmale in Tracht
und Gehaben erhielten, so wie sie erst bei den Juden recht eingebürgert
waren, religiöse Weihe, damit sie um so sicherer bewahrt wurden. Kaftan,
Schläfenlocken, Pelzmütze, Jargon haben offenbar nichts mit Religion gemein.
Die Juden des Ostens aber betrachten es mißtrauisch schon als Beginn der
Abtrünnigkeit vom Glauben, wenn der Stammgenosse sich europäisch kleidet und
irgendeine Sprache richtig spricht. Denn er hat die Bande zwischen sich und
den Stammgenossen durchschnitten, sie aber fühlen, daß diese Bande allein
ihnen jenen Zusammenhang mit einer Gemeinschaft gewährleisten, ohne den das
Individuum sich auf die Dauer sittlich, seelisch, zuletzt auch stofflich
nicht zu behaupten vermag.
Das war die Psychologie des Ghettojuden. Nun kam die Emanzipation. Das
Gesetz versicherte den Juden, daß sie Vollbürger ihres Geburtslandes seien.
Es übte auch eine gewisse Suggestion auf diejenigen, die es gaben, und
veranlaßte in seinen Flitterwochen auf christlicher Seite Gemütsäußerungen,
die das Gesetz herzerwärmend erläuterten. Der Jude beeilte sich in einer Art
Rausch, alle Brücken sofort hinter sich abzubrechen. Er hatte nun eine
andere Heimat, er bedurfte des Ghettos nicht mehr; er hatte einen andern
Anschluß, er brauchte sich nicht mehr an die Glaubensgenossen zu nesteln.
Sein Trieb der Selbsterhaltung paßte sich sofort und vollständig den neuen
Daseinsbedingungen an. Früher war dieser Trieb auf schroffste Absonderung
gerichtet gewesen, jetzt strebte er nach äußerster Annäherung und
Anähnlichung. An die Stelle der rettenden Gegensätzlichkeit trat förderliche
Mimicry. Ein oder zwei Menschenalter lang, je nach dem Lande, mit
überraschend gutem Erfolg. Der Jude durfte glauben, er sei nur noch
Deutscher, Franzose, Italiener usw. wie jeder andere seiner Landsleute und
schöpfe aus derselben Volksquelle wie sie das Maß von Gemeinleben, das zur
vollen Entwicklung des Individuums unentbehrlich ist.
Da brach nach einem Schlummer von 30 bis 60 Jahren, vor etwa zwei
Jahrzehnten, der Antisemitismus in Westeuropa von neuem aus den Tiefen der
Volksseele hervor und enthüllte vor dem Auge des entsetzten Juden seine
wirkliche Lage, die er nicht mehr gesehen hatte. Er durfte noch immer bei
der Wahl der Volksvertreter mitstimmen, aber er sah sich aus den Vereinen
und Versammlungen seiner christlichen Landsleute sanft oder barsch
ausgeschlossen. Er hatte noch immer das Recht der Freizügigkeit, aber
allerorten stieß er auf Aufschriften, die ihm bedeuteten: "Juden ist der
Eintritt verboten." Er hatte noch immer das Recht, alle Pflichten des
Staatsbürgers zu erfüllen, aber die Rechte, die über das all gemeine
Stimmrecht hinausgehen, die edleren Rechte, die der Begabung und Tüchtigkeit
zugestanden werden, diese Rechte wurden ihm schroff verweigert.
Das ist die heutige Lage des emanzipierten Juden in Westeuropa. Seine
jüdische Sonderart hat er aufgegeben, die Völker erklären ihm, daß er ihre
Sonderart nicht gewonnen hat. Seine Stammgenossen flieht er, weil der
Antisemitismus sie ihm selbst verekelt hat, seine Landsleute stoßen ihn
zurück, wenn er sich zu ihnen halten möchte. Die Heimat des Ghetto hat er
verloren, das Geburtsland versagt sich ihm als Heimat. Er hat keinen Boden
unter den Füßen und er hat keinen Anschluß an eine Gesamtheit, in die er
sich als willkommenes, vollberechtigtes Mitglied einfügen könnte. Bei den
christlichen Landsleuten haben weder sein Wesen noch seine Leistungen auf
Gerechtigkeit, geschweige denn auf Wohlwollen zu rechnen, mit den jüdischen
Landsleuten hat er den Zusammenhang verloren. Er hat das Gefühl, daß die
Welt ihm gram ist, und er sieht keine Stelle, an der er Gemütswärme finden
kann, wenn er sie sucht und sich nach ihr sehnt.
Das ist die sittliche Judennot, die bitterer ist als die leibliche, weil sie
höher differenzierte, stolzere, feiner fühlende Menschen, heimsucht. Der
emanzipierte Jude ist haltlos, unsicher in seinen Beziehungen zu den
Nebenmenschen, ängstlich in der Berührung mit Unbekannten, mißtrauisch gegen
die geheimen Gefühle selbst der Freunde. Seine besten Kräfte verbraucht er
in der Unterdrückung und Ausrottung oder mindestens in der mühsamen
Verhüllung seines eigensten Wesens, denn er besorgt, daß dieses Wesen als
jüdisch erkannt werden möchte, und er hat nie das Lustgefühl, sich ganz zu
geben, wie er ist, er selbst zu sein, wie in jedem Gedanken und Gefühle, so
in jedem Ton der Stimme, in jedem Augenlidschlag, in jedem Fingerspiel.
Innerlich wird er verkrüppelt, äußerlich wird er unecht und dadurch immer
lächerlich und für den höher gestimmten, ästhetischen Menschen abstoßend wie
alles Unwahre.
Alle besseren Juden Westeuropas stöhnen unter dieser Not und suchen Rettung
und Linderung. Sie haben nicht mehr den Glauben, der die Geduld gibt, jedes
Leid zu ertragen, weil er darin eine Schickung des strafenden, aber dennoch
liebenden Gottes erkennt. Sie haben nicht mehr die Hoffnung, daß der Messias
kommen und an einem Tage des Wunders sie zur Herrlichkeit erhöhen werde.
Manche suchen sich durch Flucht aus dem Judentume zu retten. Freilich läßt
der Rassenantisemitismus, der die Umwandlungskraft der Taufe leugnet, diesen
Rettungsplan wenig aussichtsvoll erscheinen. Es ist ja auch nicht gerade
eine Empfehlung für die Betreffenden, die doch meist ungläubig sind — von
der Minderheit der wirklich Gläubigen spreche ich natürlich nicht —, daß sie
mit einer gotteslästerlichen Lüge in die christliche Gemeinschaft eintreten.
Jedenfalls entsteht auf diese Weise ein neues Marranentum, das ungleich
schlimmer ist als das alte. Dieses hatte einen idealistischen Zug von
geheimer Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, von herzbrechender Gewissensnot und
Reue und es suchte oft genug seine eigene Sühne und Reinigung in
wohlerwogener, gewollter Blutzeugenschaft. Die neuen Marranen scheiden aus
dem Judentum mit Grimm und Erbitterung, aber im innersten Herzen, wenngleich
vor ihnen selbst uneingestanden, tragen sie ihre eigene Erniedrigung, ihre
eigene Unehrlichkeit, den Haß, der sie zu ihrer Lüge gezwungen, auch dem
Christentum nach. Mir graut vor der zukünftigen Entwicklung dieses
Geschlechtes der neuen Marranen, das sittlich nicht gehalten wird von irgend
einer Ueberlieferung, dessen Gemüt vergiftet ist durch Feindlichkeit gegen
das eigene wie das fremde Blut, dessen Selbstachtung zerstört ist durch das
immer gegenwärtige Bewußtsein einer fundamentalen Lüge. Andere erhoffen das
Heil vom Zionismus, der ihnen nicht die Erfüllung einer mythischen
Verheißung der Schrift ist, sondern der Weg zu einem Dasein, in welchem der
Jude endlich jene allereinfachsten, allerursprünglichsten Lebensbedingungen
vorfindet, die für jeden Nichtjuden beider Welten das Selbstverständliche
sind, nämlich einen sichern gesellschaftlichen Halt, eine wohlwollende
Gemeinschaft, die Möglichkeit, alle seine organischen Kräfte zur Entwicklung
seines wirklichen Wesens zu verwenden, statt sie zu dessen Unterdrückung,
Fälschung oder Verkleidung selbstzerstörend zu mißbrauchen. Noch andere
endlich, die sich gegen die Lüge des Marranentums empören und die mit ihrem
Vaterlande zu innig verwachsen sind, um den Verzicht, den der Zionismus in
letzter Folge in sich schließt, nicht als zu hart und grausam zu empfinden,
werfen sich dem wildesten Umsturz in die Arme, mit dem unbestimmten
Hintergedanken, daß bei der Vernichtung alles Bestehenden und dem Aufbau
einer neuen Welt der Judenhaß vielleicht doch nicht eines der Wertstücke
sein möchte, die man aus den Trümmern der alten Verhältnisse in die neuen
hinüberretten würde.
Das ist das Gesicht, das Israel am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts
zeigt. Um es mit einem Worte zu sagen: die Juden sind in ihrer Mehrheit ein
Stamm von geächteten Bettlern. Fleißiger und anschlägiger als der
Durchschnitt der europäischen Menschen, von trägen Asiaten und Afrikanern
nicht zu sprechen, ist der Jude zum äußersten Proletarierelend verurteilt,
weil ihm nicht gestattet wird, seine Kräfte frei zu gebrauchen. Von einem
nicht zu bändigenden Bildungshunger, Bildungsheißhunger durchfiebert, sieht
er sich von den Stätten, wo Wissen gereicht wird, zurückgestoßen, ein
wirklicher Bildungstantalus unserer unmythischen Zeit. Mit einem ungeheuren
Auftrieb begabt, dessen Kraft ihn immer wieder aus den schlammigen Tiefen
emporschnellt, in die man ihn hinabdrückt und zu begraben sucht, zerschellt
er sich den Schädel an der dicken Eisdecke von Haß und Verachtung, die über
seinem Haupte ausgespannt ist. Ein Gesellschaftswesen wie kaum ein anderes,
ein Gesellschaftswesen, dem sogar sein Glaube als verdienstliche und
gottgefällige Handlung empfiehlt, zu dreien zu essen und in Gemeinschaft von
zehn zu beten, ist er von der normalen Gesellschaft, der landsmännischen,
ausgeschlossen und zu tragischer Vereinsamung verurteilt. Man klagt ihn der
Vordringlichkeit an und er strebt doch nach Ueberlegenheit nur, weil man ihm
die Gleichheit versagt. Man wirft ihm Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen
Juden der Erde vor und sein Unglück ist doch, daß er beim ersten Liebeswort
der Emanzipation alle jüdische Solidarität bis auf die letzte Spur aus
seinem Herzen gerissen hat, um für die Alleinherrschaft der Liebe zu seinen
Landgenossen Raum zu gewinnen. Betäubt von dem Hagel antisemitischer
Beschuldigungen wird er an sich selbst irre und ist oft nahe daran, sich
tatsächlich für das leibliche und geistige Scheusal zu halten, als das ihn
seine Todfeinde darstellen. Man hört ihn nicht selten murmeln, er müsse vom
Feinde lernen und sich von den Gebrechen zu heilen suchen, die man ihm
vorhält, und er bedenkt nicht, daß die antisemitischen Anklagen für ihn
gänzlich unfruchtbar und wertlos sind, weil sie nicht eine Kritik wirklich
beobachteter Fehler, sondern die Wirkung jenes psychologischen Gesetzes
sind, nach welchem Kinder, Wilde und boshafte Toren für ihre Leiden Wesen
oder Dinge verantwortlich machen, gegen die sie Widerwillen empfinden. Zur
Zeit des schwarzen Todes beschuldigte man die Juden der Brunnenvergiftung;
heute beschuldigen die Agrarier sie, den Getreidepreis zu drücken; die
Handwerker beschuldigen sie, das Kleingewerbe zu vernichten; die
Konservativen beschuldigen sie, grundsätzliche Regierungsgegner zu sein. Wo
es keine Juden gibt, da bezeichnet man als Urheber derselben Uebelstände
andere Bevölkerungsgruppen, die man haßt, meistens Fremde, manchmal
einheimische Minderheiten, Sekten oder Gesellschaften. Dieser
Anthropomorphismus der Unlustgefühle beweist nichts gegen die Beschuldigten,
er beweist nur, daß ihre Ankläger sie schon haßten, als sie zu leiden
begannen und sich nach einem Sündenbock umsahen.
Das Bild wäre nicht vollständig, wenn ich nicht noch einen Zug hinzufügte.
Eine Sage, an die selbst ernste und gebildete Menschen glauben, die nicht
einmal Antisemiten zu sein brauchen, behauptet, daß die Juden alle Macht und
Herrschaft haben, daß die Juden alle Reichtümer der Erde besitzen. Sie die
unheimlichen Handhaber der Gewalt, diese Juden, die nicht einmal imstande
sind, ihre Stammgenossen gegen die Mordlust elenden arabischen,
marokkanischen und persischen Gesindels zu schützen! Sie die Verkörperung
des Mammons, diese Juden, von denen reichlich die Hälfte keinen Stein
besitzt, wo sie ihr Haupt hinlege, und keinen Fetzen, mit dem sie die Blöße
ihres Leibes bedecke! Das ist der Hohn, der hinzutritt und Gift einträufelt,
nachdem der Haß die Wunde geschlagen hat. Gewiß, es gibt einige hundert
überreiche Juden, deren lärmende Millionen weithin bemerkt werden. Aber was
hat Israel mit diesen Leuten gemein? Die meisten von ihnen — eine Minderheit
nehme ich gern aus — gehören zu den niedrigsten Naturen der Judenheit, die
eine natürliche Auslese zu den Berufen bestimmt hat, in denen man rasch
Millionen und manchmal Milliarden gewinnt — fragt mich nur nicht wie! In
einer normalen und vollständigen jüdischen Gesellschaft würden diese
Menschen infolge ihrer organischen Eigenschaften in der Volksachtung die
allerunterste Stufe einnehmen und jedenfalls niemals die Adelstitel und
hohen Orden erhalten, mit denen die christliche Gesellschaft sie
auszeichnet. Das Judentum der Propheten und Tanaim, das Judentum Hillels,
Philos, Ibn Gabirols, Jehuda Halevys, Ben Maimons, Spinozas, Heines kennt
diese Geldprotzen nicht, die alles geringschätzen, was wir verehren, und die
hochhalten, was wir verachten. Diese Leute sind der Hauptvorwand des neuen
Judenhasses, der mehr wirtschaftliche als religiöse Gründe hat. Für das
Judentum, das um ihretwillen leidet, haben sie nie etwas getan, als daß sie
Almosen hinwarfen, die für sie keine Opfer sind, und daß sie einen
spezifisch jüdischen Krebsschaden unterhalten, das Schnorrertum. Für ideale
Zwecke ist ihre Hilfe nie zu haben gewesen und wird sie wohl nie zu haben
sein. Viele verlassen denn auch das Judentum und wir wünschen ihnen Glück
auf die Reise und beklagen nur, daß sie denn doch aus jüdischem Blute sind,
wenn auch aus dessen Bodensatze.
Die Judennot darf niemand gleichgültig lassen, die christlichen Völker
ebensowenig wie uns Juden. Es ist eine große Sünde, einen Stamm in geistiger
und leiblicher Not verkommen zu lassen, dem selbst seine schlimmsten Feinde
Begabung nicht abgesprochen haben; es ist eine Sünde an ihm und es ist eine
Sünde an dem Werke der Gesittung, an dem der jüdische Stamm ein nicht
gleichgültiger Mitarbeiter sein möchte und sein könnte. Und es kann zu einer
großen Gefahr für die Völker werden, willensstarke Menschen, deren Maß im
Guten wie im Schlechten über den Durchschnitt hinausreicht, durch unwürdige
Behandlung zu verbittern und durch Verbitterung zu Feinden der bestehenden
Ordnung zu machen. Die Mikrobiologie lehrt uns, daß kleine Lebewesen, die
harmlos sind, so lange sie in der freien Luft leben, zu furchtbaren
Krankheitserregern werden, wenn man ihnen den Sauerstoff entzieht, wenn man
sie, wie der Fachausdruck lautet, in anaerobische Wesen verwandelt. Die
Regierungen und Völker sollten Bedenken tragen, aus dem Juden ein
anaerobisches Wesen zu machen! Sie könnten es schwer mitzubüßen haben, was
immer sie dann auch unternehmen würden, um den durch ihre Schuld zum
Schädling gewordenen Juden auszurotten.
Daß die Judennot nach Abhilfe schreit, haben wir gesehen. Die Abhilfe zu
finden, wird die große Aufgabe des Kongresses sein. Ich trete nun das Wort
an meine Mitberichterstatter ab, die das von mir in großen Umrissen
entworfene Bild ausführen und vervollständigen und bei deren Vorträgen Sie
meist die Empfindung haben werden, "Kinnoth" anzuhören.
Aus: Max Nordau: Zionistische
Schriften, Berlin 1923 (2. Auflage), S. 39-57.
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10-05-07 |