Das Ziel der Zionisten
Von Golda Meir
Rede am Dropsie College, November 1967
Ich glaube, viele Leute auf der Erde,
viele Juden und gewiß viele Nichtjuden, fragen sich manchmal, warum es so
viel Lärm um ein so kleines Land gibt: klein an Territorium, klein an
Bevölkerungszahl, in einem fernen Winkel der Erde eingeklemmt zwischen
großen Nachbarstaaten an einer Stelle, die große Kontinente verbindet — ein
Land, das zu oft in den Schlagzeilen erscheint.
Ich möchte nicht auf die jüngste
Geschichte eingehen — oder jedenfalls nicht ausführlich. Aber ich möchte
mich in der Rückschau der Frage zuwenden, was die jüdischen Pioniere der
letzten drei Generationen zu erreichen versuchten. Welche Mission glaubten
sie, erfüllen zu müssen?
Zunächst einmal waren das Leute, die
glaubten, daß das jüdische Volk durch die Jahrtausende existiert hatte, weil
es von einem besonderen (und wahrscheinlich eigentümlichen) Wunsch getrieben
war, zu leben statt unterzugehen. Dies gilt für die Leute der Bilu der
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ebenso wie für die der Zweiten
Alija. Dieser hartnäckige Wunsch widersprach vielleicht aller Erwartung. Ein
Volk, das zweimal in seiner Geschichte in alle Welt zerstreut wurde, das als
Minderheit unter Mehrheiten von verschiedener Kultur, Religion und
Lebensweise existierte und dennoch ein Volk blieb, war gewiß eigentümlich.
Ich denke jetzt nicht an Pogrome,
Massaker und grobe Diskriminierung. Ich spreche nur von den üblichen
Nachteilen, die das Los der Juden waren, selbst wenn sie zu verschiedenen
Zeiten unserer Geschichte unter Menschen lebten, die keine Antisemiten
waren, wenn sie keine Pogrome kannten, wenn sie nicht gedemütigt wurden wie
im zaristischen Rußland und andernorts. Doch selbst unter vergleichsweise
günstigen Umständen waren sie eine Minderheit: Ihre Religion war
verschieden, ihr Ruhetag war verschieden. Die Bücher, die ihre Kinder lasen,
waren in der Regel von Anfang an in einer verschiedenen Sprache geschrieben.
Und doch gibt es uns trotz aller Hindernisse, ob sie schier unüberwindlich
oder gerade noch erträglich waren.
Wie ist das möglich? Ich persönlich bin
überzeugt, daß die Religion — nicht nur allgemeine religiöse Vorstellungen,
sondern die strikte Einhaltung ganz bestimmter Regeln — zu diesem Überleben
beigetragen hat. Selbst diejenigen von uns, die nicht die Vorschriften
beachten, an die sich ein frommer Jude zu halten hat, müssen objektiverweise
zu dem Schluß kommen, daß die Religion für die Bewahrung der Einheit des
jüdischen Volkes ein Hauptfaktor war. Wie wahr das ist, wurde uns in Israel
in dramatischer Weise vor Augen geführt, besonders nach der Errichtung des
Staates, als Menschen aus den Höhlen Libyens und den Bergen Marokkos und des
Jemen zu uns kamen. Wenn man diese Leute mit europäischen Juden und in
Israel geborenen jungen Menschen zusammen sah, mußte man sich fragen: Was
verbindet diese verschiedenen Leute eigentlich? Nicht die Sprache; gewiß
nicht ein Lebensstil; gewiß nicht ein Bildungsniveau; gewiß nicht Anpassung
an die Wissenschaft und Technik unserer Zeit.
Wir hatten nur eins gemeinsam: Wir alle
waren Juden.
Ich werde nie vergessen, wie ich einmal
einen zwölfjährigen jemenitischen Jungen nach der Masseneinwanderung aus
seinem Geburtsland traf. Ich begegnete ihm in einem der neuerrichteten
Dörfer, wo man Jemeniten angesiedelt hatte, und fragte ihn, wie lange er
schon da sei. "Erst ein paar Wochen." Ich wollte weiter wissen, wie lange er
schon in Israel sei, und er sagte: "Fast ein Jahr." Er sprach sehr gut
Hebräisch. Also fragte ich ihn, woher er Hebräisch könne. Darauf blickte er
mich geringschätzig an und erklärte: "Ani jodea torah — ivrit mehatorah!"
("Ich kenne die Torah — Hebräisch kommt aus der Torah.") Jeder Junge und
Mann, der aus dem Jemen kam, konnte lesen, weil er seine Bibel las. (Kein
Mädchen und keine Frau konnte lesen, weil Frauen die Bibel nicht zu kennen
brauchten.) Der Jemen ist weit entfernt. Wir kannten die Jemeniten nicht,
die Jemeniten uns nicht, aber diese Verbindung zwischen uns bestand.
Die Bilu und die Menschen der Zweiten
Alija waren sich der Kontinuität des jüdischen Volkes, der Einheit des
jüdischen Volkes sehr bewußt. Ich glaube, für sie bedeutete die Idee des ato
bechartonu ("Du hast uns auserwählt") weder, daß wir auserwählt wären, weil
wir besser als andere Leute sind, noch daß wir — wie manche, darunter viele
Juden, es verstehen wollten — auserwählt wären, unter die Völker verstreut
zu werden, um sie Moralbegriffe und Tugenden zu lehren. Für unsere Pioniere
bedeutete ato bechartonu, daß die Juden eine bessere Gesellschaft aufbauen
würden, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten und allein für ihre Heimat und
ihre Gesellschaft verantwortlich wären. Das ist meine Erklärung für ihre
absolute Hingabe an die Idee der Juden als Volk und an die Wiederherstellung
der jüdischen Unabhängigkeit, die sich verband mit einem gleich starken
Engagement für das Wesen der Gesellschaft, die in diesem unabhängigen
jüdischen Staat entstehen würde: ihr Wunsch, daß diese Gesellschaft besser
sein sollte als jene, die in den meisten Teilen der Erde bestanden. Diese
Pioniere glaubten, daß weder ein soziales noch ein nationales Ideal dem
jüdischen Denken, der jüdischen Religion oder den Visionen unserer Propheten
fremd wäre. Beide galt es zu verwirklichen.
Ein weiteres wichtiges Element bestimmte
ihre Haltung. In meinen 46 Jahren in Israel habe ich keinen Mann und keine
einzige Frau aus dieser Gruppe kennengelernt, der sich als "Gebender" für
das Land oder das Volk vorkam oder meinte, er hätte sich aufgeopfert. In
Israel sind wir äußerlich viel weniger sentimental und emotional, als wir es
tatsächlich sind. Es ist wahrscheinlich bekannt, daß die in Israel geborenen
Kindes Sabres genannt werden, weil sie nach außen sehr stachlig sind. Erst
später haben wir erfahren, wie saftig und süß sie im Innern sind. Doch
gewöhnlich sieht man das stachlige Äußere. Unter uns pflegen wir keine
langen Diskussionen darüber zu führen, warum wir kamen und was wir getan
haben. Aber wenn wir einmal nach der Meinung unserer Leute forschen würden,
dann ergäbe sich, daß niemand glaubt, etwas für jemand anders getan zu
haben, sondern vielmehr, daß er sich als "auserwählt" oder als Teil der
"auserwählten" Generation betrachtet, weil es ihm möglich war, zu tun, was
er getan hat. Generationen von Juden hatten sich durch die Jahrtausende
tatsächlich für ihre Religion, für ihr Judentum aufgeopfert, bis hin zum
Opfer des eigenen Lebens und hatten nur erreicht, daß sie die
Übriggebliebenen in ihrer Entschlossenheit zum Weitermachen bestärkt hatten.
Endlich kamen Generationen, die sich in gleicher Weise jeder Prüfung
stellten, aber durch ihre Anstrengungen nicht nur überlebten, sondern für
das Volk etwas schufen und aufbauten. Dieser Erfolg war nur den neuen
Generationen vergönnt.
Ich möchte verdeutlichen, was ich meine,
indem ich drei oder vier Typen von Männern und Frauen beschreibe, die ins
Land kamen, etwas leisteten und für ihre Leistung verantwortlich waren. Wer
ist mehr verantwortlich: derjenige, der die Idee hatte, oder jene, die diese
Idee aufnahmen und mit Leben erfüllten? Die Menschen, an die ich denke,
gehörten zu beiden Gruppen.
Aaron David Gordon zum Beispiel kam
nicht als junger Mann nach Palästina; er war kein Landwirt. Er war Zionist
durch seinen Glauben, daß Israel wiedererrichtet werden müsse, daß dies
möglich sei und daß er daran teilnehmen müsse, aber nur unter einer
Bedingung: daß der Aufbau und die Wiedererrichtung des Staates von denen
geleistet werde, die kommen, nicht von anderen. Er glaubte, daß die jüdische
Gesellschaftsordnung, die in Palästina geschaffen würde, besser sein sollte
als die bestehenden Gesellschaftsordnungen der modernen Welt. Aber er hielt
nichts davon, anderen zu predigen. Seine Philosophie lautete, daß jeder sein
Leben führen und damit die Umwelt durch sein Beispiel beeinflussen sollte.
1905 ging er nicht in einen Teil von Palästina, der bereits bevölkert und
urbar gemacht war; er gehörte zu den ersten, die hinaus nach Deganiah zogen.
Was war Deganiah in jenen Tagen? Die
Siedlung lag jenseits des Jordans, in einer sumpfigen, verlassenen Gegend in
Galiläa, wo es keine jüdischen Siedler gab. Die Araber in den wenigen
umliegenden Dörfern waren nicht freundlich gesinnt. Und doch wählten Gordon
und seine Freunde diesen verlassenen Ort. Und wie kamen sie hin? Jeder
einzeln? Sie gingen als Gruppe. Die ersten neun Männer und Frauen zogen aus
als Kollektiv, das sich auf einen simplen, aber nichts-destotrotz schwer
realisierbaren Grundsatz stützte, nämlich: "Jeder nach seinen Fähigkeiten,
jedem nach seinen Bedürfnissen." Das war übrigens viele Jahre, bevor die
Kollektivwirtschaften in Rußland entstanden; bis zum heutigen Tag gibt es
nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen dem freiwilligen Kibbuz und der
durch Zwang geschaffenen Kollektivwirtschaft des Sowjetstaates.
Bewegende Geschichten wurden über die
Schwierigkeiten und Tragödien dieses einsamen Kibbuz erzählt und geschrieben
— Schwierigkeiten durch das Klima, feindselige Araber, die Sümpfe, Malaria,
die Tatsache, daß die meisten Siedler noch nie einen Bauernhof gesehen
hatten. Als das erste Kind zur Welt kam, wurde es von seiner Mutter
versorgt. Doch als eine weitere Mutter ein Kind gebar, entstand ein neues
Problem. Sollte jede Mutter zu Hause bleiben und sich um ihr Kind kümmern?
Wie würde sich das auf die Arbeit der Gruppe auswirken? Wie würden die
Frauen ihren Teil zum Aufbau der Wirtschaft beitragen? Die erste Mutter, die
hinaus zur Arbeit zog und ihr Kind einer anderen Mutter zur Pflege
hinterließ, bedeutete eine Revolution.
Es gibt verschiedene Formen von
Kibbuzim, und ihre Strukturen haben sich seitdem weiterentwickelt, aber im
wesentlichen beruhen alle Kibbuzim in Israel auf einem Prinzip: dem der
kooperativen Arbeit. Als Mitglied des Kibbuz blieb Gordon keinen Tag der
Arbeit fern. Auf diese Weise beeinflußte sein Beispiel und das seiner Gruppe
das ganze Land.
Ich möchte auch einen ganz anderen Typ
erwähnen: Berl Katzenelson, der geistige Riese der israelischen
Gewerkschaftsbewegung, ein Mann der sich viele Fragen stellte, bevor er eine
Antwort gab, und der sich nie schämte, einen Irrtum zuzugeben und etwas
anderes zu beginnen. Er kam 1906 nach Israel, in den Kibbuz Kinnereth,
nachdem er von andern Lösungsversuchen des jüdischen Problems enttäuscht
worden war. Er hatte keine Hoffnung mehr, nach einer Revolution in Rußland
könnte dieses Problem geklärt werden; denn er hatte sich an der
revolutionären Bewegung selbst beteiligt und war aufgrund seiner Erfahrungen
zu dem Schluß gekommen, daß der Ausweg anderswo zu suchen war. Er hatte sich
zum Territorialismus hingezogen gefühlt; vielen ist bekannt, daß man uns
Uganda anbot. (Als ich vor einigen Jahren Uganda in offizieller Eigenschaft
besuchte, war ich froh, daß wir nicht dort sind; nicht, weil Uganda nicht
schön wäre, sondern weil ich mir nicht vorstellen kann, wie ich den
Bewohnern erklären sollte, was Juden dort tun.) Aber Katzenelson ging
schließlich nach Palästina, nachdem er alle Schwierigkeiten erwogen hatte,
die sich durch die Araber und das türkische Regime ergaben. Obwohl er stark
in der russischen revolutionären Bewegung und im Territorialismus engagiert
gewesen war, kam er noch als junger Mann nach Palästina. Er war zur
Überzeugung gelangt, daß die einzig sinnvolle Lösung für die Juden in der
Wiedererrichtung der jüdischen Unabhängigkeit in Palästina — und nirgends
sonst lag. Eine jüdische Gesellschaft müßte dort entstehen auf der Grundlage
moralischer Prinzipien, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Mit dieser
Anschauung beeinflußte er zwei Generationen junger Menschen.
Er war ein brillanter Journalist, ein
brillanter Sprecher — kein "Redner"; nie redete er auf ein Publikum ein. Man
hatte immer das Gefühl, daß er etwas mit seinen Zuhörern diskutierte. Vor
allem war er Erzieher. Ich glaube nicht, daß er es verziehen hatte, wenn wir
ihn in seiner Gegenwart einen "Führer" genannt hätten. Dieser Begriff war
ihm fremd, wie ich hoffe, daß er uns heute noch fremd ist. Er war einer von
uns. Er konnte Stunden zu Fuß gehen, wenn er wußte, daß da ein junger Mensch
war, mit dem es sich lohnte, zu diskutieren und zu denken. Er war — wie
viele seiner Kollegen — ein Mensch, der es nicht für besonders mutig hielt,
politische Gegner anzugreifen, sondern es als viel wichtiger ansah, seine
eigene Partei und Organisation zu kritisieren, wenn nötig mit größter
Schärfe.
Zusammen mit Ben Gurion gehörte er zu
den Gründern der Histadrut, eines Arbeiterbundes, der als Gewerkschaft eine
einzigartige Stellung einnahm. Bei seiner Gründung im Jahr 1920 gab es im
ganzen Land 4000 jüdische Arbeiter. Es gab eine große Debatte, weil eine
kleine Gruppe den "Klassenkampf" als Hauptpunkt in die Satzung der Histadrut
aufnehmen wollte; dabei gab es nicht einmal eine Klasse, gegen die sich
hätte kämpfen lassen — weder eine Arbeiterklasse noch eine
Kapitalistenklasse. Der einzige Kampf, den es zu führen galt, war der gegen
die Sümpfe, Wüsten und Felsen — und gegen die mangelnde Vertrautheit der
Siedler mit körperlicher Arbeit. Es gab keine Landwirte, keine Maurer, keine
Straßenbauer. Hier lag der Kampf. Es verlangte viel Mut von Katzenelson, Ben
Zvi und Ben Gurion, sämtlich engagierte Sozialisten, sich einzugestehen, daß
die Lage in Palästina keine dogmatischen Antworten zuließ, daß wir nicht mit
geschlossenen Augen den Arbeiterbewegungen in anderen Ländern folgen und es
ihnen genau gleichtun konnten.
Für uns ging es nicht darum, gegen
schlechte Bedingungen oder für günstigere wirtschaftliche Bedingungen zu
kämpfen. Zuerst mußte etwas aufgebaut werden. Deshalb wurde die Histadrut
nicht nur zu einer Arbeiterbewegung, sondern zu einer Organisation, der es
weitgehend zu verdanken ist, daß es 1948 bereits ein Wirtschaftsleben im
Land gab, daß es Fabriken gab, daß es Juden gab, die zusammenarbeiten
konnten. Weil keine Kapitalisten da waren, mußte die Histadrut selbst
Arbeitgeber und Investor werden.
All dies war sehr verschieden von der
Praxis anderer Gewerkschaftsbewegungen in der Welt. Vor allem hielt die
Hi-stadrut die Würde des Individuums hoch. Ohne den einzelnen konnte nichts
erreicht werden; seine Hingabe und seine Disziplin waren entscheidend. Aber
das Individuum diente nicht als Werkzeug für irgend etwas: Es war der
Hersteller von Werkzeugen; der einzelne mußte den Aufbau leisten. Es ist
verbrecherisch, das Individuum lediglich als Mittel zu irgendeinem Endzweck
zu benutzen, selbst wenn dieser Zweck gut ist. Von einer Gesellschaft, in
der die Würde des einzelnen zerstört wird, kann man nicht erwarten, daß sie
eine menschliche Gesellschaft wird.
Ein anderer Mann, dessen Name
wahrscheinlich nur wenigen bekannt ist, war Schmuel Javnieli. Wie die
meisten anderen kam er aus Osteuropa. Geistig tief verwurzelt in der
Arbeiterbewegung, wurde auch er, der Gelehrte und Schriftsteller, zum
Pionier. Damals, 1908/09, hatte man in Palästina von den fernen
jemenitischen Juden, die beinahe als verlorener Stamm galten, eben gehört.
Javnieli nahm es nach Gesprächen mit seinen Kollegen auf sich, die große
Botschaft von der Rückkehr nach Zion den Juden des Jemen zu überbringen. Es
war für einen Juden fast unmöglich, in den Jemen zu gelangen. Auf dem
Eselsrücken reiste Javnieli monatelang über steinige Pfade und Bergstraßen,
um seine Nachricht zu verbreiten. Die Juden im Jemen empfingen ihn fast wie
den Messias, kam er doch aus Jerusalem. Er berichtete ihnen von den Wundern
der Wiedergeburt, die in Zion geschahen, und erklärte ihnen: "Ich bin
gekommen, um euch zu sagen, daß unser Land bald frei sein wird. Jeder Teil
des Landes Israel, der mit jüdischen Händen kultiviert wird, ist befreit."
Die erste Auswanderungswelle von Juden
aus dem Jemen kam nicht nach der Errichtung des Staates, wie man allgemein
glaubt, sondern 40 Jahre früher, zur Zeit Javnielis.
Und gewiß wäre Israel ärmer, hätten wir
nicht den Stamm aus Jemen all diese Jahre unter uns gehabt. Als die
Jemeniten in Palästina eintrafen, begriffen sie, daß Javnieli nicht der
Messias war, aber sie vergaßen nie, daß er etwas Messia-nisches getan hatte.
Ich möchte auch eine Frau erwähnen:
Rachel Blaustein, ein junges, zartes Mädchen aus Rußland, die zu Beginn des
20. Jahrhunderts nach Palästina kam. Sie war Dichterin und bestellte den
Boden in einer neuen Siedlung am See Geneza-reth. Ihre Körperkräfte waren
der Feldarbeit nicht gewachsen, aber einige ihrer schönsten Gedichte handeln
von dieser Arbeit. Ihr ganzes, kurzes Leben lang war sie betrübt darüber,
daß sie keine körperliche Arbeit verrichten konnte.
Die Vorstellung, daß man mit seinen
Händen arbeiten mußte, war allen gemeinsam. Manche Leute kritisieren uns
heute, weil wir angeblich geistige Arbeit nicht hoch genug schätzen. Aber
überall haben die Juden sich mit geistigen Dingen befaßt, wenn es eine
Möglichkeit dazu gab. Was in unserem Leben fehlte, waren Juden, die mit
ihren Händen arbeiten konnten.
Als ich im israelischen Außenministerium
tätig war, machte ich einen offiziellen Besuch in Mexiko. Bei einem Essen
sagte mein Gastgeber, der mexikanische Außenminister, zu mir: "Ich muß Sie
etwas fragen. Was ist mit Ihrem Volk geschehen? Man hat von Ihnen nie als
Bauern gehört. Wie sind Sie so hervorragende Landwirte geworden? Sogar in
Mexiko haben wir jetzt eine Gruppe von Ihren Leuten, die unseren Landwirten
verschiedene Aspekte der Landwirtschaft beibringen."
Die Frage ist leicht zu beantworten,
aber vielleicht sind einfache Dinge schwer zu verstehen. Die Erklärung liegt
in unserer Geschichte. Jahrhundertelang war der Boden für Juden tabu, vor
allem in Osteuropa. Wir konnten kein Land besitzen, wir konnten nicht auf
den Feldern arbeiten. Wir wurden in den Ghettos von ein paar Städten
zusammengedrängt. Das war der historische Hintergrund dafür, daß wir auf
landwirtschaftlicher Arbeit bestanden. Männer und Frauen unter den ersten
Einwanderern nach Palästina — die BILU, die Erste Alija, die Zweite Alija,
die Dritte Alija — begriffen die dringende Notwendigkeit unserer
gesellschaftlichen Transformation. Wäre das nicht der Fall gewesen, so
hätten wir die Unabhängigkeit nie gewonnen.
Und ich glaube auch, wir hätten die
Unabhängigkeit nicht verdient, wenn wir diese Notwendigkeit nicht begriffen
hätten. Es wäre zu bequem gewesen, wenn eine kleine Zahl von Juden nach
Palästina gekommen wäre, Orangenhaine gekauft hätte und sie von Arabern
hätte bestellen lassen. Es war leichter, mit arabischen Arbeitskräften
auszukommen als mit jüdischen. Sie waren billiger. Und sie hatten keine
hochgeschraubten Vorstellungen vom Achtstundentag. Ja, in vieler Hinsicht
wäre es einfacher gewesen, arabische Landarbeiter für jüdische Grundbesitzer
arbeiten zu lassen. Doch wenn es so gekommen wäre, dann hätte es keinen
Platz für Juden gegeben — und kein Recht, in ein Land zurückzukehren, das
durch die Arbeit anderer wieder urbar gemacht worden war. Die Pioniere
retteten das jüdische Volk und bewahrten ihm die Chance, seine
Unabhängigkeit wiederherzustellen, weil sie ein einfaches, aber
grundlegendes Prinzip zu ihrer Bibel gemacht hatten: avoda atzmit —
eigenständige Arbeit.
Die Juden mußten lernen, mit ihren
Händen zu arbeiten. Die Dritte Alija mit ihrer Haschomer-Gruppe bestand aus
Jungen und Mädchen, die größtenteils aus Elternhäusern von Kaufleuten,
Rabbinern und Wissenschaftlern stammten; viele kamen aus wohlhabenden
assimilierten Familien. Und doch waren sie es, die die erste Straße zwischen
Tiberias und Nazareth bauten. Arbeit war ihr Glaubenssatz. Diesen Glauben
mußte jeder annehmen, wenn er wirklich das Land aufbauen wollte. Wir mußten
es aufbauen. Die Häuser mußten von uns gebaut werden. Die Straßen mußten von
uns gebaut werden. Der Weizen mußte von uns angebaut werden. Die Sümpfe
mußten von uns trockengelegt werden. Das gab uns zusätzlich zum historischen
Anrecht das moralische Anrecht auf das Land. Wenn es keine Sümpfe mehr gibt
in Palästina, dann, weil wir sie trockengelegt haben. Wenn es Wälder gibt,
dann, weil wir die Schonungen angelegt haben. Wenn es weniger Wüsten gibt,
dann, weil unsere Kinder in die Dürregebiete gingen und sie urbar machten.
Noch eine Erläuterung zu einer anderen
Frage, die mir mein mexikanischer Kollege stellte. Es war nach dem
Suez-Feldzug, 1956, und er fragte: "Man hat von Ihnen nie als Fachleuten auf
militärischem Gebiet gehört. Was ist geschehen?" Ich bin neugierig, was er
heute, nach dem Sechs-Tage-Krieg, gefragt hätte. Nachdem ich ihm erklärt
hatte, warum wir gute Landwirte geworden sind, konnte ich ihm nur sagen, daß
wir gezwungen waren, gute Soldaten zu werden. Aber nicht mit Freuden. Wir
sind mit Freuden gute Landwirte. Es ist großartig, in einen Kibbuz tief im
Negev zu fahren und sich daran zu erinnern, was vor 25 Jahren dort war: Sand
und Himmel und vielleicht ein Brunnen mit fauligem Wasser. Heute dorthin zu
kommen und festzustellen, daß es praktisch kein Obst gibt, das dort nicht
wächst, grüne, schmucke Obstgärten und Felder zu sehen, bereitet große
Freude. Gute Soldaten zu sein ist eine bittere Notwendigkeit, und es liegt
keine Freude darin.
Wir mußten aus der Geschichte lernen.
Wir sind nicht die einzige Nation, deren Schicksal es war, ihr Land zu
irgendeiner Zeit von fremden Mächten besetzt zu sehen. Aber in den meisten
Fällen blieben die Menschen im Land; sie konnten sich irgendwann erheben,
die fremde Macht vertreiben und die Unabhängigkeit wiedergewinnen. Eine
solche Situation bringt Kämpfe, Verluste und Leiden mit sich, aber die
Grundlage für die Erneuerung bleibt bestehen. Unser Schicksal war grausamer.
Zweimal in unserer Geschichte vor der Wiedergeburt des Staates Israel wurde
unsere Unabhängigkeit von fremden Mächten zerstört, die nicht nur das Land
besetzten und uns ihrer Herrschaft unterwarfen; wir wurden zweimal
vertrieben und in alle Teile der Erde zerstreut.
Wenn unsere jungen Leute gut kämpfen,
dann, weil sie die alte und die jüngste Geschichte gut kennen. Sie wissen,
daß uns die arabischen Staaten, die uns das dritte Mal in 20 Jahren den
Krieg erklärten, genau dasselbe Schicksal bereiten wollten, wie es die Juden
der Jerusalemer Altstadt erlitten, als sie 1948 von der jordanischen Armee
erobert wurde, oder wie es die Kibbuzim in Kefar Etzion durchmachten.
Niemand blieb unbehelligt. Zerstörung war das Schicksal, das uns erwartete,
1948, 1956, 1967 — nicht die Besetzung durch fremde Mächte. Die Tatsache,
daß das jüdische Volk die beiden Vertreibungen in unserer alten Geschichte
überlebt hat, erregte das Erstaunen der Welt. Würde die dritte Chance, die
uns die Geschichte geboten hat, verpaßt, so erhielten wir vielleicht nie
eine vierte.
Vergessen wir nicht, daß der Staat
Israel errichtet wurde, nachdem sechs Millionen Juden in Europa umgekommen
waren. Sie bildeten das natürliche Reservoir unserer Religion, des
Zionismus, der jüdischen Kultur und der hebräischen Kultur. Angesichts
dieses geleerten Reservoirs, angesichts der drei Millionen Juden, die hinter
dem Eisernen Vorhang eingeschlossen sind, und angesichts der Millionen von
Juden in der Freien Welt, die neben wirklicher Freiheit die Freiheit
besitzen, sich zu assimilieren, nicht Hebräisch zu lernen, nicht in die
Synagoge zu gehen, nicht die Bibel zu kennen, sich dem jüdischen Volk nicht
verbunden zu fühlen, leben wir in der Furcht, daß, wenn Israel vernichtet
wird, diese schicksalhafte historische Chance für immer vergeben sein wird.
Mehrere Monate vor dem schrecklichen
schwarzen Tag, an dem Präsident Kennedy ermordet wurde, hatte ich das große
Privileg, mit ihm über ein Sicherheitsproblem in Israel sprechen zu können.
Im Verlauf des Gesprächs sagte ich ihm einmal:
"Herr Präsident, wie jede andere
anständige Regierung sorgt sich auch die israelische Regierung um das Wohl
ihres Volkes und die Sicherheit des Landes. Darin unterschieden wir uns
nicht von anderen Staaten. Aber wir haben eine zusätzliche Verantwortung,
wie sie wohl kaum eine andere Regierung trägt: unsere weit zurückreichende
Erinnerung an das, was uns zweimal in der Vergangenheit geschah, und unsere
Befürchtung, daß wir einmal in die Geschichte eingehen könnten als die
Generation, die nach der Vernichtung von sechs Millionen Juden eine Chance
hatte, die jüdische Souveränität wiederherzustellen, aber sie nicht zu
bewahren vermochte. Diese Angst, nicht vor der Geschichte bestehen zu
können, macht diese Unterscheidung aus."
Ich hatte nicht den geringsten Zweifel,
daß Präsident Kennedy wirklich verstand, als er "ich verstehe" sagte.
Vielleicht ist das der zweite Grund
dafür, daß wir gute Soldaten sind. Wir sind gute Landwirte, weil etwas, das
auf einer anderen Grundlage entstanden wäre als durch unsere schwere
körperliche Arbeit, nie gediehen wäre. Hinzu kommt, daß wir uns unserer
Verantwortung gegenüber der Geschichte bewußt sind; in Israel kann man gar
nicht anders, als sich der Geschichte bewußt zu sein. Das spürt der heutige
Israeli. Er muß die Zukunft schützen, nicht nur für sich und seine Familie,
nicht nur für jene, die heute in Israel sind, sondern auch für diejenigen,
die nicht kommen konnten und die noch kommen werden.
Uns beseelt die Erinnerung an die
Vergangenheit, die Verantwortung für die Zukunft und der Wunsch, uns der
"Auswähltheit" würdig zu erweisen — nicht, weil wir besser
sind als andere, sondern weil wir davon träumen, es beim Aufbau einer
Gesellschaft in Israel besser zu machen, einer guten Gesellschaft, die auf
den Grundlagen der Gerechtigkeit und Gleichheit beruht.
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10-05-07 |