Sie beschlossen, es ohne Verzug zu tun. Sie wollten dem Präsidenten
Pichenstamm, der sie schon damals in Haifa eingeladen hatte, einen Besuch
machen und ihn um Rat fragen, wie sie es am besten anfingen, in die neue
Gesellschaft als ordentliche Mitglieder einzutreten. So fuhren sie nach dem
Hause des Präsidenten. Das war ein Gebäude, das an die Palazzi der
genuesischen Patrizier erinnerte. Unmittelbar vor ihnen war ein Motorwagen
vorgefahren, dem zwei ältere Herren und Professor Steineck entstiegen. Der
Professor stand schon auf der Freitreppe, als er die beiden Freunde sah, die
mit dem Portier parlamentierten. Er winkte ihnen einen Gruß zu, und das
hatte die Folge, daß der Pförtner weiter keine Schwierigkeiten machte und
sie durchließ. Aber Steineck war im nächsten Augenblick verschwunden.
Kingscourt und Friedrich hatten nach Dr. Werkin, dem Sekretär des
Präsidenten, gefragt. Ein Diener führte sie in dessen Bureau, und dort hieß
man sie warten. Sie warteten ein Weilchen in dem schönen hohen Vorsaale,
dann wurde Kingscourt ungeduldig:
„Nee, das mach’ ich nicht länger
mit. Sieben Jahre werd’ ich nicht im Vorzimmer dienen. Reden Sie mit einem
der Sklaven, Fritze! Am Ende hat man uns nicht jemeldet.“
„Sklaven
scheint es hier nicht zu geben,“ lächelte Friedrich. „Aber der
Maschinenschreiber dort wird uns Auskunft geben.“
Der Schreiber an
der Maschine gab Auskunft. Dr. Werkin sei schon seit zwei Stunden beim
Präsidenten, und es heiße, daß der Präsident plötzlich schwer erkrankt sei.
„Ah - hah! Nu jehn mir die Lichter auf. Darum ist Steineck so schnell
verschwunden? Wissen Sie vielleicht auch, vereintester Maschinist, wer die
zwei Herren waren, die mit Steineck kamen.“
„Ja. Das waren zwei
Professoren der Medizin von der Zions-Universität.“
„Ich glaube,
Kingscourt,“ sagte Friedrich, „wir ziehen uns zurück. Wir lassen unsere
Visitenkarte für Dr. Werkin hier und wollen wiederkommen, wenn es dem
Präsidenten besser geht.“
So verließen sie unverrichteter Sache das
Haus des Präsidenten. In der Stadt Jerusalem war von dem Ereignis noch
nichts bekannt. Der Verkehr rauschte mit der gewöhnlichen Lebhaftigkeit
durch die Neustadt. Die Freunde, die sich schon in den Straßen
zurechtfanden, bogen von den Boulevards ab und betraten einen großen Park,
der nach englischem Muster angelegt war. Am Eingange dieses Parkes bemerkten
sie ein ausgedehntes Gebäude mit der Aufschrift: „Gesundheitsamt der neuen
Gesellschaft“.
Kingscourt lachte laut auf:
„Sieh mal, da haben
sie wieder was Jescheutes nachjemacht. Das ist offenbar dem deutschen
Reichsjesundheitsamt nachjebildet. Da brauch’ ich nicht erst die
Einjeborenen zu befragen. Ich kenne mich schon janz aus in Altneuland. Es
ist ‘ne Mosaik - eine mosaische Mosaik. Juter Witz, was?“
„So gut wie
alle ihre Witze, Mr. Kingscourt; auch nicht besser,“ sagte Friedrich. „Aber
mir scheint, Altneuland ist in seinem Wesen nicht erschöpft, wenn wir nur
fcststellen, daß alle Einrichtungen bei unserer Abreise aus der Kulturwelt
vor zwanzig Jahren schon da oder dort existiert haben. Jawohl, alles war
schon vorhanden. Die Naturkräfte waren genügend erforscht - ich meine
genügend für den jetzigen Zustand. Die technischen Möglichkeiten waren
gegeben. Kein Gebildeter vom Jahre 1900 hätte sich über irgend etwas wundern
können, was wir hier gesehen haben. Ja, sogar das Maß von sozialer Fürsorge,
das man hier verwirklicht hat, kann einen zivilisierten Menschen unserer
damaligen Zeit nicht überraschen. Im Bewußtsein der besseren
Durchschnittsmenschen war die Forderung schon damals durchgedrungen, daß man
dem rohen Egoismus in der Gesellschaft Schranken setzen müsse. Diese
Schranken sind hier freilich nicht drückend, da der einzelne in der
Gesellschaft wieder zurückbekommt, was ihm individuell genommen ist. Aber
auch die Formen der genossenschaftlichen Produktion und Konsumtion waren
schon da. Und doch ist aus all dem Alten etwas Neues geworden. Altneuland
ist noch mehr, muß noch mehr sein als eine Zusammenfassung aller sozialen
und technischen Fortschritte.“
„Warum? Ich finde schon das janz
hübsch,“ warf Kingscourt ein.
„Als Jurist, als Europäer vom Ende des
neunzehnten Jahrhunderts frage ich mich, wie diese Gesellschaft im
Gleichgewicht erhalten wird. Ich sehe eine Ordnung in der Freiheit, und doch
bemerke ich nirgends eine staatliche Autorität hervorlugen.“
„Ja,
Fritze, da liegt der Hase im Pfeffer. Die Juristerei und Europäertum
verdunkeln euch jar vieles. Man kann mit sehr wenig staatlicher Autorität
auskommen. Wenn Sie, wie ich, drüben in Amerika jelebt und jeliebt hätten,
wüßten sie das besser. Nee, das verblüfft mich nu jar nicht. Wissen Sie, was
mich verblüfft, schon die janze Zeit? Das sind die Bäume! Die Bäume in
diesem Park sind unter Brüdern fünfzig bis vierzig Jahre alt. Wo haben die
Kerls das rausjekriegt?“
Er hatte so laut gesprochen, daß ein
vorübergehender Herr ihn hörte, lächelte und stehen blieb. Kingscourt redete
ihn natürlich sofort an:
„Ich sehe, daß Sie über mich in jelinde
Heiterkeit jeraten, jeschätzter Vorüberjehender. Wissen Sie vielleicht
Antwort auf meine Frage?“
„Gewiß, mein Herr,“ sagte der Angerufene.
„Ich diene im Gesundheitsamte und kenne die Verhältnisse einigermaßen. Daß
man auch erwachsene Bäume verpflanzen kann, ist eine bekannte Sache. In Köln
zum Beispiel, wo ich früher lebte, gab es einen Volksgarten, in dem man
vierzigjährige Bäume einsetzte. Das ist freilich recht kostspielig, aber für
die öffentliche Gesundheit wird bei uns viel aufgewendet. In den Parks, die
für das Volk da sind, ist nichts zu teuer. Es rentiert sich in den kommenden
Geschlechtern. Übrigens haben wir nicht überall so alte und kostbare Bäume
gesetzt. Wir haben namentlich von Australien jüngere Bäume, rasch wachsende
Eukalyptusarten bezogen. Die Mittel wurden anfangs durch den nationalen
Baumverein aufgebracht, der in allen Weltteilen Sammlungen einleitete, als
das jüdische Volk noch zerstreut lebte. Die Spender haben schon damals für
den Schatten gesorgt, in dem sie später sitzen wollten.“ „Danke,“ sagte
Kingscourt; „das leuchtet mir ein. Und wenn Sie jetzt noch Ihre Wohltat
vollmachen wollen, dann erklären Sie, bitte, woher alle die Kinder sind, die
man da auf den Wiesen sieht?“
Sie waren nämlich an Wiesengründen
vorbeigekommen, auf denen Schwärme halbwüchsiger Knaben und Mädchen die
Spiele Englands spielten: die Mägdlein Tennis, die Burschen Kricket und
Fußball.
Der Beamte gab willig Auskunft:
„Das sind Schulkinder
aus den Instituten, die um diesen Park herum liegen. Abwechselnd werden alle
Klassen herausgeführt zu den athletischen Spielen, die wir in der
Entwicklungszeit für ebenso wichtig halten wie das Lernen.“
„Das
scheinen aber nur die Kinder wohlhabender Leute zu sein?“ fragte Friedrich.
„Alle sind gleich schmuck und reinlich gekleidet, wie ich sehe.“
„Nein, Herr!“ erwiderte der Beamte. „Das sind die Kinder aller Leute. Es
gibt in der Schule keinen Unterschied, weder in der Kleidung, noch in irgend
etwas anderem - mit Ausnahme der Begabung und des Fleißes. In unserer neuen
Gesellschaft sind wir durchaus nicht für die Gleichmacherei. Jedem nach
seinen Werken. Den Wettbewerb haben wir nicht abgeschafft. Aber die
Bedingungen sind für alle gleich, wie bei einem Preiskampf oder Wettlauf. Am
Anfang müssen alle gleich sein, nicht am Ende. In der früheren Gesellschaft
konnte es Vorkommen, daß ein einziges gutes Geschäft eines Mannes seinen
Kindern und Kindeskindern zu allen Wohltaten der höheren Erziehung verhalf
und sie für immer sorglos machte. Auf der anderen Seite mußten wieder die
Nachkommen nicht etwa nur für die Sünden, nein, sogar für die schlechten
Geschäfte des Vaters büßen. Eine verarmte Familie geriet ins Proletariat,
und es war Heldenkraft nötig, um sich daraus noch einmal zu erheben... Bei
uns aber werden die Kinder für die Geschäfte der Väter nicht belohnt und
nicht bestraft. Für jede neue Generation stellen wir wieder den Anfang der
Dinge her. Darum sind sämtliche Schulen, von der Elementarschule bis zur
Zions-Universität unentgeltlich, und die Schüler müssen bis zur Reifeprüfung
in der Mittelschule die gleiche einfache Kleidung tragen. Wir glauben
nämlich nicht, daß es moralisch gut ist, wenn Rang oder Reichtum der Eltern
die Kinder in der Schule unterscheidet. Das verdirbt alle. Die Kinder der
Vornehmeren werden hochmütig und faul, die Kinder der anderen werden früh
verbittert... Aber Sie verzeihen, wenn ich Sie verlasse. Mich ruft meine
Pflicht.“
Und mit einem höflichen Gruße entfernte er sich.
Friedrich und Kingscourt sahen ergötzt noch eine Weile dem lustigen und
geschickten Völkchen zu. Kingscourt, der noch aus früheren Tagen mit Kricket
und Fußball wohl vertraut war, fühlte in sich die alte Passion für diese
Spiele erwachen. Er feuerte die Kinder mit Zurufen an. Am liebsten hätte er
mitgespielt. Endlich zog ihn Friedrich am Arm fort:
„Wir wollen auch
sehen, wie es Fritzchen geht, Sie Rabenotto! Und vielleicht sind Nachrichten
vom Präsidenten Eichenstamm da?“
Sie kehrten in das Hotel zurück.
Fritzchen war schon frisch und munter und begrüßte seinen Freund mit einem
Gesänge, den Kingscourt an dem i-a-i-a-i-i als sein eigenes Lied vom
Rodensteiner zu erkennen glaubte. Der Alte und das Kind waren auch bald in
ein sehr intimes, allen übrigen unverständliches Gespräch verwickelt.
Von Eichenstamm kamen aber keine guten Nachrichten. Steineck sandte an
David Littwak eine kurze Meldung: „Hoffnungslos!“ Und als es Abend wurde,
kam der Professor zurück. An seinem Gesichtsausdruck erkannten die Freunde,
was geschehen war.
„Er ist groß gestorben,“ sagte Professor Steineck.
„Ich war bei ihm bis zur letzten Minute. Er sprach über das Sterben. Er
sagte, es sei schmerzlos, wenn man sich schon lange vorher beschäftigt habe.
,Ich fühle,’ sagte er, ,wie sich mein Bewußtsein allmählich verdunkelt. Ich
höre mich noch sprechen, aber immer schwächer. Ich werde vielleicht noch
denken, unter Schleiern, wenn ich nicht mehr reden kann. Ich habe von mir
selbst schon Abschied genommen - wie schade, daß ich nicht auch von all den
anderen Abschied nehmen kann, die mir im Leben gut waren.’ Dann schwieg er
lange, sein Blick war in eine Ferne gerichtet. Wieder kehrten seine Augen
dann zu mir zurück. ,Ich hatte Freunde,’ sagte er. ,Viele Freunde. Wo sind
sie? Freunde sind der Reichtum des Lebens. Ich hatte viele, viele Freunde.
Wo sind sie? ...’ Es ging mit ihm zu Ende. Er murmelte dann noch, und mir
schien, als sagte mir sein betrübter Blick: Du siehst, jetzt kann ich nicht
mehr reden, aber noch denken. Und in einer letzten Anstrengung fand er sich
wieder. Er sagte deutlich das Wort als letztes, das wir oft von ihm gehört
haben: ,Der Fremde soll sich bei uns wohl fühlen!...’ Dann wurden seine
Augen starr. Ich drückte sie ihm zu.“
So starb Eichenstamm, der
Präsident der neuen Gesellschaft.