Die Stunden im Hause des Malers vergingen wie ein Traum. Gegen Abend
wurde Professor Steineck ans Telephon gerufen. Kingscourt war es, der ihn
rief: er möge sofort heimkehren. Im Wagen, in dem sie mit Professor Steineck
fuhren, sagte Friedrich:
"Fräulein Mirjam, ich danke Ihnen dafür, daß ich Sie durch Ihren Gesang
kennen lernen durfte. Erst jetzt weiß ich, wer Sie sind."
Sie errötete und schwieg.
Aber im Gasthofe, in dem die ganze Gesellschaft Littwaks wohnte,
erwartete sie eine böse Überraschung.
Vor dem Tore stand Kingscourt unbedeckten Hauptes und schrie dem
Professor entgegen:
"Zum Wetter, Sie hätten sich auch mehr beeilen können!"
"Ja, was gibt es denn?" fragte der Professor ruhig.
"Was es gibt?" Das Bübchen, Frifzchen — krank ist es! Nu fackeln Sie aber
jefälligst nicht lange rum und kommen Sie zu Fritzchen."
Sie eilten in das Zimmer des Kindes. Fritzchen lag mit heißen Wangen und
fieberisch glänzenden Augen im Bett.
"Otto!" schrie es dem alten Kingscourt entgegen. Und "Otto" gehorchte
schleunigst seinem kleinen Tyrannen. Er setzte sich auf einen Stuhl am
Kopfende nieder, und diesen sollte er in den folgenden Tagen nicht oft
verlassen. Denn war die Gewalt des gesunden Fritzchens über Mr. Kingscourt
recht groß gewesen, das kranke Fritzchen gar konnte mit ihm machen, was es
wollte.
Professor Steineck hatte nach der Untersuchung den Kopf bedenklich
geschüttelt. Zwar beruhigte er Frau Sarah, die ganz verzweifelt war; aber
dem alten Kingscourt verbarg er seine Besorgnisse nicht. Das Kind war
ernstlich krank: eine schwere Halsentzündung. Kingscourt erschrak heftiger,
als er es zeigen wollte.
Vor allem rief er Friedrich herbei, schleppte ihn in ein abgelegenes
Zimmer und begann lästerlich zu fluchen. Die Erkrankung des Kindes werfe
alle Pläne um, man könne jetzt nicht mehr tun, was man wollte, und es gelte,
jetzt einen anderen Entschluß zu fassen.
"Ich verstehe, Kingscourt!" sagte Friedrich bekümmert. "Sie wollen
abreisen. Nun denn, ich bin bereit!"
"I wo werd' ich!" schrie Kingscourt hochrot. "Sie verstehen jar nischt
mehr. Ihre Intellijenz hat im Verkehr mit diesem Frauenzimmer sichtlich
jelitten. Das ist ja eben die Schlemastik, wie ihr Juden euch ausdrückt: daß
wir jetzt schandenhalber nich abreisen können. Sie halten mich für nen
netten Jemütsmenschen. Zuerst Jastfreundschaft jenossen, amüsiert,
Schmarotzerpflanze jewesen — und wenn nu mal Schatten übers Haus kriechen,
soll' man gleich ausreißen? Nee, mein Lieber, Sie können meinetwegen
abdampfen, wenn Sie Europa durchaus nicht länger entbehren wollen. Ich
bleibe hier, bis Fritzchen jesund ist — aus reinem Anstandsjefühl. Das
jehört sich einfach."
Die Grobheit des alten Herrn, der er auch diesmal einen lustigen Anstrich
geben wollte, kam aber nicht echt heraus. Er hatte mehr Angst um das
Bübchen, als er zeigen wollte. Er blieb auch die Nacht über im Krankenzimmer
Fritzchens, wachte mit Frau Sarah und der Kinderfrau zusammen. Und als ob
Fritzchen eine Ahnung von der über alles merkwürdigen Wandlung gehabt hätte,
die im Gemüte des alten Menschenfeindes vorging, es klammerte sich an
Kingscourt an wie an keinen anderen. Professor Steineck suchte diese
Erscheinung auf rationalistische Weise zu erklären: der schöne lange
blütenweiße Bart Kingscourts habe es dem Kinde angetan, oder vielleicht
waren es die Grimassen und Spässe, die der alte Herr machte.
Doch wie man es auch deutete, das stand fest, daß Fritz von seinem
grimmigen Freunde nicht ließ. Im steigenden Fieber umspannte er mit seinem
Händchen den Zeigefinger des am Bett sitzenden Alten. Kingscourt war der
einzige, von dem er Arznei annahm; der einzige, von dem er sich in Schlaf
summen ließ. Kingscourt verfügte über keinen großen Schatz an Liedern. Am
besten gelang ihm noch:
"Wer reit't mit zwanzig Knappen ein
Zu Heidelberg im Hirschen?
Das ist der Herr von Rohodenstein,
Auf Rheinwein will er pi-a-i-a-i-irschen."
Mit diesem Gesange hatte er früher einmal bei Fritzchen Glück gehabt, und
nun mußte der Rodensteiner ununterbrochen zu Heidelberg im Hirschen
einreiten. Das zweite Lied Kingscourts war:
"Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte."
Mit diesen beiden musikalischen Leistungen lullte er sein leidendes
Freundchen ein.
David Littwak war von der Erkrankung des Kindes nicht benachrichtigt
worden. Man wollte ihn nicht beunruhigen, da er am nächsten Tage ohnehin
nach Jerusalem kommen sollte. Er kam als Sieger im Wahlkampfe. Die Geyersche
Hetzpartei war fast in allen Kreisen, wo sie zu kandidieren gewagt hatte,
geschlagen worden. Dr. Geyer selbst hatte nur in einem einzigen Bezirk eine
relative Stimmenmehrheit erlangt und mußte sich am folgenden Sonntag der
Stichwahl unterziehen. Hingegen war David Littwak in einunddreißig Bezirken
zum Delegierten gewählt worden. Er entschied sich, nur das Mandat von
Neudorf anzunehmen.
Doch als er in dieser frohen Stimmung zu Jerusalem eintraf, erwartete ihn
die Trübung des Glückes im Kinderzimmer. Weinend fiel ihm Frau Sarah um den
Hals:
"Wir waren zu glücklich, David. Nun sucht uns Gott so fürchterlich heim.
Vielleicht waren wir hochmütig oder nahmen das Gute als zu
selbstverständlich hin?"
Er entgegnete sanft und ernst:
"Wir wollen uns jedenfalls an die Brust schlagen und uns selber zur Demut
mahnen. Das kann nie schaden. Im übrigen aber wollen wir mit der Krankheit
kämpfen, was in unserer Macht ist."
Und sie kämpften. Die besten Ärzte versammelten sich früh und abends zur
Beratung. Alle Kunst der Heilung wurde aufgeboten, um das kleine Leben zu
retten. Aber die Krankheit schien dieser Anstrengungen zu spotten. Des
Kindes Zustand verschlimmerte sich mehr und mehr. Es kam ein Abend, an dem
die Ärzte traurig und kopfschüttelnd das Haus verließen; nur Professor
Steineck blieb da. Er und Kingscourt hielten gemeinschaftlich mit der
Pflegerin im Krankenzimmer aus. Frau Sarah war vor Aufregung und Ermüdung
zusammengebrochen und selbst erkrankt. Man hatte sie zu Bett bringen müssen.
Mirjam und Mrs. Gothland wachten bei ihr. David Littwak aber hielt sich
zwischen den beiden Krankenzimmern seiner Lieben in einem Salon auf. Er ging
bald hier und bald dort nachsehen, ob alles beim Rechten war. Besonnen traf
er die nötigen Anordnungen, und Friedrich, der nebst Reschid Bey dem
bekümmerten Mann Gesellschaft leistete, mußte ihn bewundern, wenn er diese
Gelassenheit sah. David gab den näheren Freunden, die Nachrichten einholten,
ruhig Auskunft. Doch auch seine Kraft überstieg es endlich. Er bat einen der
Freunde, hinunterzugehen und die Besucher im Vestibül des Gasthofes zu
empfangen. Reschid Bey übernahm diese Aufgabe. Im Bekanntenkreise Davids
hatte sich die Nachricht eilig verbreitet, daß es um den kleinen Kranken
schlecht stand, und von allen Seiten eilten die Leute herbei, um sich zu
erkundigen. Der Präsident der neuen Gesellschaft ließ sich jede Stunde
berichten. Die Liebe und Achtung, deren David Littwak sich bei seinen
Mitbürgern erfreute, kamen bei diesem Anlasse zum Vorschein. Vor dem
Gasthofe stauten sich die Teilnehmenden. Die wenigsten kannten das gute
Fritzchen, aber daß es David Littwaks Sohn war, genügte. Viele beteten für
dieses schwache kleine Leben, das vielleicht dereinst ein großer Segen für
die Gemeinschaft werden konnte, wenn es erhalten blieb.
Und oben redete David gebeugt, aber ruhig mit Friedrich.
"Sehen Sie, mein lieber Dr. Löwenberg, das haben wir nicht anders machen
können, als es war. Als es war vor zwanzig und vor zweitausend Jahren. Wenn
die Stunde des früher glücklichen Hiob schlägt, muß er sich fassen und
sagen: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen ..."
Bei diesen Worten trat Steineck aus Fritzchens Zimmer und flüsterte:
"Noch nicht!" Aber es klang wenig Hoffnung daraus. Der Professor fügte
hinzu: "Wenn das Kind nur einschlafen könnte. Ein ordentlicher Schlaf wäre
ein Glück, vielleicht die Rettung."
"Stört das Gebrumm Kingscourts das Kind nicht?" fragte Friedrich.
"Nein," entgegnete Steineck. "Er muß weitersingen, ob er will oder nicht.
Wenn Fritzchen aus dem Halbschlummer erwacht, muß der Alte singen. Es ist
rührend, wie er es tut."
"Er hat das Kind unendlich gern," sagte Friedrich.
Da begann David zu weinen. Aus dem Nebenzimmer aber hörten sie
Kingscourts Stimme:
"Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Der wollte keine Knechte ..."
Und dann ging es in don Rodenstein über, der auf Rheinwein
pi-a-i-a-i-irschen wollte. Doch immer trübseliger ritt der Herr von
Rodenstein zu Heidelberg im Hirschen ein, und im Nebenzimmer horchten sie
mit Bangen, ob der Gesang nicht jetzt und jetzt völlig verstummen werde.
Jetzt — eine Pause. Man hörte nichts mehr. Und im nächsten Augenblick
erschien Kingscourt in der Tür. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er
legte den Finger bedeutsam auf den Mund:
"Still! Er schläft!... Keinen Ton mehr im Hause! Wer mir da draußen auf
dem Korridor Lärm macht, den schlag' ich nieder. Ich setze mich raus... Wenn
Fritzchen aufwacht, ruft ihr mich!"
Und so tat Kingscourt. Er setzte sich in den Gang vor Fritzchens Zimmer
auf einen Stuhl und wachte. Er blickte Diener und Gäste, die vorbeiwollten,
so fürchterlich an, daß sie vor ihm erschraken. Dazu knurrte er heiser, sie
möchten anderswohin gehen, hier sei ein Kranker.
Eine Stunde verging so, dann eine zweite. Da ging Friedrich zu Kingscourt
hinaus vor die Tür. Der Alte fuhr von seinem Stuhl auf:
"Hat es mich jerufen?"
"Nein," flüsterte Friedrich. "Es schläft noch immer." Im selben
Augenblick fühlte er sich beim Kopf gepackt. Kingscourt hatte ihn
umschlungen und raunte ihm ins Ohr:
"Fritze, wenn das Wurm aufkommt, bleib' ich hier, für immer. Das jelobe
ich hiermit feierlich. Dieses Opfer bring' ich für seine Jenesung, so wahr
ich Adalbert von Königshoff heiße..."
Stunde um Stunde verrann. Fritzchen schlief und schlief. Er schlief sich
in die Gesundheit hinüber. Aus Nacht ward Morgen. Und mit der Sonne ging
auch wieder die Hoffnung auf. Als man in der Frühe Kingscourt an das Bett
des Kindes rief, hatte es schon wieder helle Äuglein und es jauchzte ihm
entgegen: "Ottoh! Ottoh!"
"So 'n Kerl!" brummte Kingscourt und versuchte eine unzufriedene Miene zu
machen, weil er sich seiner nächtlichen Verzagtheit vor Friedrich schämte.
"Nun gehen Sie aber auch schlafen, Kingscourt!" sagte dieser. "Sie brauchen
jetzt Ruhe. Und was Ihre Worte vom Korridor betrifft, die will ich einfach
nicht gehört haben."
"Nee, mein Lieber!" entgegnete Kingscourt stolz, "da kennen Sie mich doch
erst zur Hälfte. Was ich einmal jeschworen habe, ist jeschworen... Aber vor
allem denk' ich einen langen Schlaf zu tun... Nachher wollen wir sehen, wie
wir uns hier in die neue Jesellschaft aufnehmen lassen. Jawohl!"
Friedrich wußte noch immer nicht, ob der Alte scherzte. Hier zu bleiben
war ja sein sehnlichster Wunsch. Ein nützliches Mitglied der neuen
Gesellschaft werden, mitarbeiten an all dem Guten, was er gesehen hatte,
dauernd ein Genosse der Wackeren sein — es war sein bisher verschwiegener
Traum. Und noch etwas anderes, das er sich gar nicht zu gestehen wagte.
Aber Kingscourt hielt Wort. Gleich am folgenden Tage, als Fritzchen
wieder frisch und munter war und auch Frau Sarah sich vom Schrecken erholt
hatte, der ihre ganze Krankheit gewesen, mahnte Kingscourt selbst an die
Ausführung seines Vorhabens. Erriet er die Freude, die er dem Genossen
seiner zwanzig Inseljahre machte? Man durfte es ihm wohl zutrauen, dem
angeblichen Menschenfeinde, der dem Zauber des Kindes erlegen war. Sein
Verhältnis zu Fritzchen suchte er wenigstens auf eine prinzipientreue Weise
zu rechtfertigen, nachdem er es nicht mehr zu leugnen vermochte. Er könne
das Bübchen allerdings recht gut leiden, aber nur ungefähr so, wie man ein
unschuldiges Tierchen gern habe. Fritzchen sei eben noch kein Mensch,
folglich vergebe sich ein Menschenhasser nichts, wenn er so 'n Kerlchen
liebgewinne.
"Die Motivierung, Kingscourt, schenke ich Ihnen," lachte Friedrich; "mir
genügt die Tatsache. Wann sollen wir uns zum Eintritt in die neue
Gesellschaft melden?"