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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
VIERTES BUCH:
Passah
Sechstes Kapitel
Die Erzählung des Phonographen war zu Ende. Die letzten Worte
hatten auf die Zuhörer einen tiefen Eindruck gemacht. Kingscourt räusperte
sich stark und bemerkte: "Scheint 'n charmanter Kerl zu sein, euer Joe, 'n
ganz charmanter Kerl. Schade, daß er nicht hier ist. Hätte ihm gern die Hand
gedrückt. Na, hoffentlich sieht man ihn doch, bevor man weiterzieht ... Auf
eine Sache hat er mich übrigens recht gespannt gemacht: auf den
Toten-Meer-Kanal. Scheint ja so 'ne Art Weltwunder zu sein. Wann werden wir
ihn denn beaugapfeln, den sagenhaften Kanal?"
David versprach es für die ersten Tage nach der Passahwoche.
Diese Zeit aber verbrachten sie in heiterer Ruhe zu Tiberias. Kingscourt aß
wacker mit von den ungesäuerten Broten und schimpfte zwischendurch, daß man
ihn, einen christlichen und deutschen Edelmann, ganz und gar verjude. Mit
besonderer Heftigkeit schimpfte er auch über Fritzchens Tyrannei, die
täglich anspruchsvoller wurde. Dieser kleine Schuft glaubte wohl, daß der
alte Kingscourt auf die alten Tage nichts Gescheiteres zu tun habe, als sich
zum Steckenpferd eines solchen Rangen herzugeben. Doch gestattete sich der
Brummbär das Raisonnieren nur, wenn Fritzchen schlief, und alle Vorsätze der
Auflehnung schwanden, sobald das Kind nach "Otto" rief. Als man sich nach
Ablauf der Osterwoche anschickte, die Fahrt durch das Jordantal nach Jericho
zu machen und David das Kind bei den Großeltern zurücklassen wollte, hatte
Kingscourt allerlei einzuwenden. Der Bursche solle doch auch das Land ein
bißchen kennenlernen, und David wäre eigentlich ein Rabenvater, wenn er
Fritzchen allein ließe, und im schlimmsten Fall würde er, Kingscourt, sich
opfern und auf den ganzen Toten-Meer-Kanal verzichten, wenn Fritzchen nicht
mitkäme. Kurz, er drang so lange darauf, bis man sich entschloß, auch das
Bübchen mitreisen zu lassen. Da tat Kingscourt freilich, als wäre ihm das
äußerst gleichgültig; er war persönlich daran nicht im mindesten beteiligt,
er hatte sich nur des hilflosen Kindes angenommen.
Architekt Steineck und Reschid Bey waren mittlerweile nach
Haifa zurückgekehrt. Reschid wollte nach seiner Familie sehen, versprach
aber, in Jerusalem wieder zu den Freunden zu stoßen. Der Architekt hatte mit
den nahe bevorstehenden Delegiertenwahlen für den Kongreß viel zu tun. Wie
die Zeitungen und Privatnachrichten meldeten, machte die Partei Geyer
ungeheure Anstrengungen. Da mußte Steineck auf dem Posten in Haifa sein, wo
sämtliche Fäden der Agitation zusammenliefen und allstündlich die
Losungsworte an die Ortskomitees hinaus telephoniert oder telegraphiert
wurden. David aber hatte in seinen eigenen Geschäften noch einiges drüben in
der Landschaft Dscholan zu besorgen, bevor er die Fahrt nach Jericho
antreten konnte. Er lud seine Gäste ein, ihn nach dem Dscholan zu begleiten,
wo es auch Merkwürdiges zu sehen gäbe. Friedrich Löwenberg schloß sich
bereitwillig an, da auch Mirjam und Professor Steineck mit von der Partie
sein sollten. Hingegen blieb Kingscourt noch länger in Tiberias, weil er
Frau Sarah und Mrs. Gothland nicht allein im Motorwagen nach Besan fahren
lassen wollte. Man verstand seine liebenswürdige Schwäche für Fritzchen
schon und neckte ihn nicht übermäßig wegen seines Verweilens in Tiberias. In
zwei Tagen also würden sich die beiden Teile der Reisegesellschaft wieder zu
Besan im Jordantale vereinigen. Kingsoourt sollte mit Frau Sarah, Mrs.
Gothland, dem Kinde und der Kinderfrau im Motorwagen nach Besan fahren und
dort im großen Hotel auf die vom Dscholan Kommenden warten.
Eine schmucke Barke mit elektrischem Betriebe harrte der vier
Reisenden, die nach dem jenseitigem Ufer des Sees von Genezareth übersetzen
wollten. Die Zurückbleibenden hatten ihnen das Geleit bis ans Schiff
gegeben. Friedrich Löwenberg reichte seinem alten Freunde zum Abschied die
Hand.
"Wissen Sie, Fritze," sagte Kingscourt mit grimmiger
Betonung, "daß wir da vor einer Neuerung stehen? Seit zwanzig Jahren haben
wir uns keinen Tag verlassen. Mensch, geraten Sie mir in der Gegend mit dem
verrückten arabischen Namen da drüben auf keine Abwege! Sonst soll Sie ein
mehrfach gesalzenes Donnerwetter einholen. Und Sie, Fräulein Mirjam,
benützen Sie gefälligst die Gelegenheit nicht, um diesem Jüngling den Kopf
zu verdrehen ! Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Das ist das
gefährlichste Alter. Und nun Gott befohlen! In Besan sieht man sich wieder!"
Mirjam war bei dem derben Scherz des Alten rot geworden, aber
Friedrich auch. Ganz verwirrt stiegen beide in die Barke. Kingscourt sah
Mrs. Gothland mit bedeutungsvollem Zwinkern der Augen an, und er freute sich
unbändig, daß es ihm gelungen war, die beiden in Verlegenheit zu bringen.
Es war einer der weichen Frühlingstage, die am See von
Genezareth so lieblich sind. Rasch durchschnitt die Barke die von einer
spielenden Brise bewegten Wellen. Die lichten Palästchen und Villen von
Tiberias wurden immer kleiner und die steilen Höhen des östlichen Ufers
rückten heran. Wundervoll war der Blick auf den schneeigen Hermon im Norden,
und die zahlreich vorbeistreichenden Schiffe aller Arten und Größen boten
die munterste Unterhaltung. So verging die Fahrt hinüber wie ein eiliger
Traum. Am anderen Gestade legte die Barke in einer kleinen Bucht an. Die
Reisenden hatten nur wenige Schritte zur Station der elektrischen Bahn. Sie
mußten auch nicht allzulange auf den Zug warten, der sie weiterbringen
sollte. Sie nahmen in einem Salonwagen Platz und fuhren nach El Kunetra.
Dort hatte David Littwak seine Geschäfte abzumachen. Das Bahngeleise stieg
allmählich an, da es bis El Kunetra tausend Meter Meereshöhe zu erreichen
hatte. Diese Stadt war als ein Knotenpunkt der Bahnen im Ostjordanlande zu
ansehnlicher Bedeutung gelangt. Zwischen Safed und Damaskus liegend, war sie
ein wichtiger Stapelplatz des Verkehrs.
Als David mit seinen Freunden aus dem Salonwagen stieg,
bemerkten sie auf einem anderen Geleise, wo der Zug nach Beirut zur Abfahrt
bereitstand, einen Waggon, aus dem singende Knabenstimmen tönten. Es waren
Jungen im Alter von vierzehn bis zu sechzehn Jahren.
"Die machen wohl einen kleinen Ausflug?" erkundigte sich
Friedrich.
"Jawohl, einen kleinen Ausflug — rund um die Erde," erwiderte
Professor Steineck schmunzelnd.
Und Mirjam erklärte dem erstaunt Aufhorchenden, was das für
eine Schülerreise war. Man hatte eine Einrichtung der klugen und gelehrten
Benediktinermönche nachgebildet. Die französischen Benediktiner pflegten
schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts Karawanen von Schülern unter der Hut
ihrer Lehrer in fremde Länder zu schicken. Dort erwarben die jungen Leute
die Kenntnis der Sprachen und Gebräuche. Lehr- und Wanderjahre wurden auf
diese Art planvoll verbunden. Diese Jugend war inhaltsreicher als die der
früheren Zeiten, und ihre Ausbildung war nicht nur gediegener, sondern auch
ökonomischer. Man bekam die fertigen Menschen schneller, und was die neue
Gesellschaft an Geldmitteln auf diese Schulkarawanen verwandte, das trug
bald seine Zinsen. Den Karawanen wurden nur die besten Schüler aller
Unterrichtsanstalten des Landes eingereiht, weil man solche Kosten an
möglicherweise faule und unnütze Burschen nicht verschwenden durfte.
Zugleich war darin aber auch die wirksamste Prämie auf den Lerneifer
gesetzt. Die Knaben hatten keinen höheren Ehrgeiz, als die Erlangung eines
Schulreiseplatzes. Die Abenteuerlust, welche die Jungen gerade in diesen
sonderbaren Flegeljahren zu befallen pflegt, wurde da nicht nur gebändigt,
sondern geradezu bewirtschaftet und zu einem weiteren Vorwärtskommen
ausgenützt, gleich den kleinen Explosionen, die das Automobil treiben. Durch
die Unterrichtsverwaltung der neuen Gesellschaft waren diese Schulkarawanen
in ein gehöriges System gebracht worden. An mehreren Orten in den
verschiedenen Ländern, die besucht werden sollten, hatte die neue
Gesellschaft Schulhäuser mit allem zum Unterricht wie zur Verpflegung der
Kinder Nötigen eingerichtet. Stille Kleinstädte in einiger Entfernung von
der Hauptstadt des Landes wurden als Niederlassungsorte gewählt, für
Frankreich zum Beispiel Versailles. Das war für Leib und Seele wichtiger als
das Wohnen in den gefährlichen Metropolen. Jede dieser Anstalten stand unter
der Leitung eines Direktors, der immer dablieb, während die Karawanen mit
ihren Klassenlehrern nach drei Monaten weiterzogen. Durch eine in Jerusalem
zentralisierte Verfügung wurde der Weg der Karawanen geregelt. Die Knaben
lernten die Welt kennen, ohne daß ihr Lehrgang unterbrochen worden wäre.
"Und die Mädchen?" fragte Friedrich lächelnd.
"Die Mädchen machen solche Reisen nicht," sagte Mirjam. "Wir
glauben, daß der Platz der heranwachsenden Jungfrau bei ihrer Mutter ist,
wenn sie auch etwas Tüchtiges gelernt hat und ihre Pflichten in der neuen
Gesellschaft erfüllen muß."
Während David seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigte,
machten Mirjam, Friedrich und Professor Steineck einen Spaziergang durch die
heiter belebte Stadt, besichtigten die Bazare, die aber nur wenig
Orientalisches hatten, sondern die Niederlagen europäischer Kaufhäuser
waren. Sie fanden in einem recht guten englischen Hotel Unterkunft.
Friedrich wunderte sich über den Komfort, der hier geboten war, nicht mehr.
Es kam ihm jetzt schon selbstverständlich vor, daß an einem Orte des
Weltverkehrs auch Bequemlichkeiten für zivilisierte Reisende sich befanden.
Das Abendessen wurde früh eingenommen, weil man am nächsten Tage beizeiten
aufbrechen wollte, um einen Ausflug nach der sogenannten Kornkammer zu
machen.
Es war ein Morgen in zarten Farben. Sie fuhren mit einer
elektrischen Sekundärbahn in die bezaubernd junge Landschaft hinaus.
Friedrich empfand in dieser Umgebung die Frühlingsgefühle seiner ersten
Jünglingsjahre. Neues Leben war in ihm aufgebrochen beim Anblick all dieser
glücklichen Arbeit auf den Feldern und auch — kaum wagte er es sich zu
gestehen — die Nähe der schönen Mirjam war nicht ohne Einfluß auf die
Fröhlichkeit seiner Stimmung. Wie verständig erklärte sie ihm alles, was
seine Aufmerksamkeit erregte. David und Steineck halfen mit mancher
Erläuterung aus, wo Mirjams Wissen doch nicht ausreichte. In dieser Gegend
des Ostjordanlandes befanden sie sich an einer eigentümlichen Wasserscheide.
Fern vom technischen Erfindungswesen des neunzehnten Jahrhunderts
aufgewachsen, mit einer bloß juristischen Bildung ausgestattet, hatte
Friedrich eigentlich nicht viel von den modernen Möglichkeiten gewußt. Er
glich darin den meisten mittleren Gebildeten seiner Zeit. Das Treiben der
geschlossenen wie der "offenen" Fabriken war ihm völlig unbekannt. "Offene
Fabriken" nannte nämlich Steineck in seinen plaudernden Erklärungen die
neueren landwirtschaftlichen Betriebe, die sie auf ihrem Ausfluge zu sehen
bekamen. Und eine Wasserscheide sei diese Gegend, weil die Wasser, die vom
Norden und Süden heraufflossen, hier zusammentrafen. Friedrich glaubte
zuerst an einen Scherz des Gelehrten, als dieser von den heraufströmenden
Gewässern sprach. Steineck wollte sich wohl über die Unwissenheit eines so
weit Zurückgebliebenen lustig machen. Doch der Aufschluß ließ nicht auf sich
warten. Die Wasser selbst flössen wohl nicht bergauf, wohl aber die Kraft
ihrer Wellen. Die Naturgewalten zu ändern war man auch in Altneuland nicht
fähig gewesen, so wenig wie die Beschaffenheit der Menschen; wohl aber hatte
man im Gefolge der allgemeinen Kultur die Naturkräfte besser kennen und
ausnützen gelernt. Es war nicht mehr notwendig, das Mühlenrad unmittelbar
unter dem Wasserfall anzubringen, wie in den einfältigen Zeiten. Ein Bach,
der in einer Ferne von fünfzehn oder zwanzig Meilen zu Tale stürmte, trieb
die Räder, denn seine Kraft wurde als elektrischer Strom in den Drähten
hierher geleitet. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war dieses Problem
bereits vollkommen gelöst. In Amerika hielt man darin schon vor zwanzig
Jahren weit genug. Vom Niagara wurde elektrischer Strom in eine Entfernung
von 162 Kilometern geleitet. Von den San-Bernardino-Bergen nach der Stadt
Los Angeles in Südkalifornien gab es damals eine Leitung von i33 Kilometer
Länge mit sehr geringem Kraftverlust. Das waren leicht nachzuahmende
Einrichtungen. Und so konnten auch die Wasserkräfte vom südlichen
Toten-Meer-Kanal wie von den Gebirgsquellen des Libanon und Hermon im Norden
herangezogen werden.
"Die wahren Gründer von Altneuland," sagte David, "waren die
Wasserbautechniker. Drainage der Sümpfe, Berieselung der verdorrten Strecken
und dazu das System der Kraftanlagen — darin lag alles."
Nach anderthalbstündiger Fahrt kamen sie auf der
Musterwirtschaft an, welche unter der Aufsicht der neuen Gesellschaft von
einem millionenreichen Wohltätigkeitsvereine angelegt worden war. Der
Direktor dieser ausgedehnten großkapitalistisch geführten Unternehmung
zeigte den Gästen alles auf dem prachtvollen Landgute. Die besondere
Bewunderung Friedrichs rief die elektrische Zentrale neben dem
Direktionsgebäude hervor. Da waren die Wände rings mit Knöpfen,
Vertiefungen, Nummern und kleinen Täfelchen bedeckt. Zwei junge Damen in
schlichter Kleidung hantierten da nach den Anweisungen eines Beamten, der
selbst hinter einem Pull saß und jeden Augenblick die Hörmuschel eines
Telephons ans Ohr legte. Friedrich erinnerte sich bei diesem Anblick,
ähnliches einmal in einer Telephonzentrale gesehen zu haben. Der Direktor
erklärte, wie von hier aus durch die Drahtleitungen nach allen Punkten der
Wirtschaft die Kraft versendet werde, sobald man sie benötige, aber auch
nicht um eine Minute länger. Von dieser Stube aus wurden nämlich nicht nur
die eigentlichen Feldarbeiten mit Kraft gespeist, sondern auch die mit der
Landwirtschaft zusammenhängenden, im großen betriebenen Gewerbe: eine
Zuckerfabrik, eine Bierbrauerei, die Spiritusbrennerei, die Mühle, die
Stärkefabrik und so weiter.
In den Wirtschaftsgebäuden, die sie besichtigten, wie in den
Fabriken, auf den Wegen und Feldern war alles nach der modernsten
landwirtschaftlichen Lehre eingerichtet, eine peinliche Sauberkeit
herrschte, und es ging merkwürdig ruhig zu. Das riesige Räderwerk der
Musterwirtschaft machte nicht mehr Geräusch, als unumgänglich nötig schien.
Friedrich fiel es auf, als ein kleiner Trupp von Arbeitern in gleichmäßiger
Kleidung mit Geräten auf den Schultern an ihnen vorüberzog. Die Leute
schritten gesenkten Blickes vorbei. Die einen sahen verdrossen aus, die
anderen scheu. Zwei Aufseher folgten hintennach. Diese grüßten den Direktor
militärisch.
"Darf ich mir eine kritische Bemerkung erlauben?" sagte
Friedrich. "Wir haben bisher in Altneuland so viel Schönes bewundert, daß
ich vielleicht auch ein Bedenken äußern kann."
"Gewiß!" entgegnete David. "Was ist es?"
"Die Arbeiter kommen mir sonderbar gedrückt vor, als wären
sie von der prachtvollen Maschine, der sie dienen, innerlich ein bißchen
zermalmt. Und was nützt all die sinnreiche ökonomische Einrichtung, wenn die
Menschen dabei nicht glücklicher werden? Beim Anblick dieser Leute fielen
mir die Fabrikarbeiter früherer Zeiten ein. Es ist wahr, ganz so traurig
sind die Mienen der Leute hier nicht, sie sehen auch viel gesünder aus als
die ehemaligen Fabrikslöhner — aber immerhin, eine Ähnlichkeit ist
vorhanden. Und das finde ich betrübend. Wenn man bedenkt, daß dieses Gut
einer wohltätigen Gesellschaft gehört, sollte man hier doch beglücktere
Menschen erwarten. Ich gestehe, daß ich ein wenig enttäuscht bin."
Der Gutsdirektor sah ihn erstaunt an und wandte sich dann
fragend an die anderen:
"Weiß Herr Doktor Löwenberg denn nicht, wo er sich befindet?"
"Nein," sagte David. "Wir haben es ihm absichtlich
verschwiegen, weil er zuerst einen unbefangenen Eindruck haben sollte. Daß
diese Musterwirtschaft eine Sträflingskolonie ist, damit wollten wir ihn
überraschen."
"Ist es möglich?" staunte Friedrich. "Dies eine
Sträflingskolonie? Das ändert freilich viel an meinem Urteil. Und wie sind
die Resultate der Erziehung zum Guten, Herr Direktor?"
"Die Leute werden moralisch und körperlich gesund," erwiderte
der Direktor. "Die meisten gewinnen das Landleben lieb und wollen es nicht
mehr lassen. Sie bleiben nach verbüßter Strafe gern noch weiter hier und
werden bezahlte Arbeiter, oder wir siedeln sie als Farmer auf immer weiter
vorgeschobenen Posten an, Der Reinertrag unseres Betriebes wird für solche
Ansiedlungen verwendet, und diese beginnen schon nach einigen Jahren das
Hineingesteckte abzuzahlen. Wir machen aus den Abfällen der Gesellschaft
wieder Menschen..."
Als die Reisenden am darauffolgenden Tage in Besan mit
Kingscourt und den übrigen zusammentrafen, berichtete Friedrich über das
Gesehene. Der alte Herr brummte:
"Natürlich! Wenn ich 'mal nicht in der Gefechtslinie bin,
passieren die größten Wunder; das Wasser fließt bergauf und die Gefängnisse
bestehen aus Freiheit."
Jetzt fuhr die Motorarche durch das Jordantal südwärts. Die
wohlgepflegte Landstraße traf und verließ öfters den vielgewundenen
Flußlauf. Der Jordan war in seiner Frühlingsfülle, die Landschaft hüben und
drüben in saftigem Grün. Reizende kleine Ortschaften, Städte und
villenartige Niederlassungen blinkten von den östlichen und westlichen
Höhen. Von Zeit zu Zeit stürmten auf dem rechten Ufer Züge der Jordantalbahn
vorüber. Der Verkehr auf der Wagenstraße selbst war auch lebhaft genug. Es
war die Zeit, in der die meisten Fremden von Jericho, dem weltberühmten
Winterkurort, schon abzureisen pflegten. Hier im Jordantale war es für die
verwöhnten Eleganten, die aus Europa vor der rauhen Jahreszeit flüchteten,
jetzt schon zu warm. Man begegnete mehreren großen Reisekutschen, ähnlich
der Motorarche David Littwaks. Die fuhren mit ihren hellgekleideten
fröhlichen Passagieren, Damen und Herren, in entgegengesetzter Richtung,
nach Norden zu; denn jetzt kamen die Modewochen für den Libanon. Ende April
schifften sich die eleganten Herdenmenschen gewöhnlich in Beyj rut ein, um
nach Europa zurückzukehren, wenn sie es nicht vorzogen, mit den Eilzügen der
kleinasiatischen Bahnen noch rascher nach Konstantinopel zu kommen.
Aber in diesem Jordantale, das die Vergnügungsmenschen um die
wärmere Jahreszeit verließen, blieb doch noch Leben zurück, eigentlich das
gesündeste und stärkste Leben. Denn die von altersher wegen ihrer
wunderbaren Fruchtbarkeit hochgepriesenen Ebenen zu beiden Seiten des
Flusses waren üppiger als jemals. Vernünftig bewirtschaftet, mit allen neuen
und besten ökonomischen Mitteln ausgestattet, brachte das Jordantal die
reichsten Erträge. Reis und Zuckerrohr, Tabak und Baumwolle gediehen
prachtvoll. Die Kunst der Wasseringenieure hatte hier das Herrlichste
geleistet. Die Jordanregulierung war nur ein Teil ihrer Tätigkeit gewesen.
Großartige Talsperren, namentlich zwischen den Bergen der Ostseite,
ermöglichten die volle Ausnützung aller Wasserkräfte des gesegneten Landes.
In den traurigen Zeiten der Vernachlässigung war der Regenreichtum fruchtlos
versickert. Durch das einfache, in Kulturländern so wohlbekannte System der
Talsperren wurde sozusagen jeder vom Himmel fallende Tropfen für die
allgemeine Wohlfahrt verwendet. Und so geschah es, daß wieder Milch und
Honig in der alten neuen Heimat der Juden floß, und es war, was es gewesen:
das gelobte Land!
Und all diese praktische Nützlichkeit war noch gehoben und
verklärt durch Schönheit. Aus den grünen Gärten, von den Terrassen der
Abhänge hüben und drüben leuchteten weiße Gemäuer. Marmorvillen ragten. Der
Stein war aus den unfernen Brüchen der Umgebung vom Toten Meer geholt. So
war für Friedrich und Kingscourt kein Ende des erfreuten Staunens auf dem
ganzen Weg nach Jericho. Und als sie in diese elegante Stadt kamen, war
selbst der grimmige Raisoneur Kingscourt sprachlos über die Pracht und Zahl
der großen Hotels, Palästchen und Villen, die sich inmitten der tropischen
Pflanzenanlagen und Palmenalleen erhoben. So entzückend hatten sie sich den
klimatischen Kurort Jericho gar nicht gedacht.
Aber Kingscourt wollte vor dem Hotel nicht absteigen. Er
wünschte gleich nach dem Toten-Meer-Kanal weiterzufahren. Zum Glück war
Fritzchen schon eingeschlummert, sonst hätte "Otto" wohl keine solchen
Sonderideen haben dürfen. Die Damen blieben also mit dem Kinde im Hotel
zurück, und nur die Herren fuhren die kurze Strecke talwärts. Vor ihnen
dehnte sich der tiefblaue Spiegel des Toten Meeres. Ein donnerndes Brausen
wurde vernehmbar — die Wasser des Kanals, die durch Tunnels vom
Mittelländischen Meer hierhergeführt, in die Tiefe stürzten. David erklärte
mit kurzen Worten die Anlage des Werkes. Das Tote Meer ist bekanntlich der
tiefste Punkt der Erdoberfläche, sein Spiegel liegt 3g4 Meter unter dem
Niveau des Mittelmeeres. Es war der einfachste Gedanke von der Welt, diesen
gewaltigen Niveauunterschied zu einer Kraftquelle zu machen. Der
Gefällverlust im Laufe des Kanals von der Küste bis ans Tote Meer betrug nur
einige achtzig Meter. Es blieben also noch über dreihundert Meter Fallhöhe.
Bei einer Breite von zehn und einer Tiefe von drei Metern lieferte der Kanal
etwa fünfzigtausend Pferdekräfte.
Kingscourt wollte sich um keinen Preis verblüffen lassen. Er
sagte:
"Die Kraftstation der Niagarafalls Hydraulic Power Company
erzeugte schon zu meiner Zeit vierzigtausend Pferdekräfte."
David entgegnete:
"Mit dem Niagarafalle und den Millionen Pferdekräften, die er
liefert, dürfen wir natürlich die Anlage des Toten-Meer-Kanals nicht
vergleichen, obwohl der Niagarafall nur fünfzig Meter hoch ist. Dort gibt es
eben ungeheure Wassermengen. Aber ich denke, es ist ganz hübsch, daß wir in
den verschiedenen Kraftstationen im Jordangebiet und am Toten Meer insgesamt
eine halbe Million Pferdekräfte erzeugen."
"Sie haben eigentlich recht, hochgeschätzter Wasserkünstler,"
gestand nun der Alte; "es ist wirklich ganz hübsch. Aber eins verstehe ich
nicht. Jetzt strömt um so viel mehr Wasser in das tote Becken, das keinen
Abfluß hat. Ist denn eine andere Verdunstung da als früher?"
"Die Frage ist nicht unintelligent," bemerkte hierauf
Steineck. "Sie müssen aber wissen, meine Herren, daß wir dem Toten Meer auch
ebensoviel Wasser entziehen, wie wir ihm zuführen. Das Süßwasser nämlich
entwenden wir ihm in entsprechendem Maße. Wir pumpen es in Reservoirs hinauf
und benützen es dann zur Bewässerung des Bodens dort, wo es eben nötig, wie
hier überflüssig ist. Sie verstehen?"
"Freilich versteh' ich," schrie Kingscourt, und diesmal war
sein Poltern nicht so ungerechtfertigt wie sonst, denn der Donner des
Wassersturzes war schon in der Nähe. "Verdammt schlaue Jungens seid ihr, das
muß euch der Neid lassen."
Und da waren sie vor der Kraftstation angelangt. Sie hatten
auf dem Fahrwege von Jericho her keinen vollen Ausblick auf das Becken des
Toten Meeres gehabt. Jetzt lag es weit und blau vor ihnen, groß wie der
Genfer See. An dem nördlichen Ufer, an dem sie standen, hatten sie zur
Rechten ein schmal zulaufendes Stück Land vor sich. Dieses zog sich unter
dem Felsen hin, von dem das Wasser des Kanals herunterdonnerte. Unten
befanden sich die Turbinenhäuser und oben langgestreckte Fabrikgebäude. So
weit der Blick um den See und seine Uferberge reichte, sah man großartige
Fabrikanlagen. Die Kraftquelle hatte all die verschiedenartigen Industrien
angezogen. Der Kanal hatte das Tote Meer zum Leben erweckt. Beim Anblick der
eisernen Röhren, in denen das Kanalwasser auf die Turbinenräder
niederschlug, erinnerte sich Kingscourt der Anlagen am Niagara. Hier am
Toten Meere gab es etwa zwanzig solcher mächtigen Eisenröhren, die aus dem
Felsen in gleichmäßigen Abständen hervorragten. Senkrecht standen die Röhren
auf den Turbinenhäusern und sahen wie phantastische Rauchfänge aus. Aber der
Donner aus ihnen und der weiße Gischt des Abflusses verkündeten, was da
Gewaltiges vorging. Die Reisenden traten in eines der Turbinenhäuser ein.
Friedrich war von dem Ungeheuerlichen dieser Kraftentwicklung betäubt,
indessen Kingscourt sich im Lärm der Industrieschlacht ordentlich wohl zu
fühlen schien. Er schrie aus Leibeskräften Bemerkungen, die allerdings im
Gebrause niemand verstehen konnte. Dennoch ahnte man aus seinen Mienen, daß
er endlich einmal vollkommen befriedigt war. Das war aber auch etwas
prachtvoll Zyklopisches, wie das Wasser auf die riesigen Bronzeschaufeln der
Turbinenräder herunterkrachte und sie zu rasenden Umdrehungen trieb. Und von
da ging die wilde, die gebändigte Naturkraft in die Generatoren des
elektrischen Stromes über, und sie lief in die Drähte und durcheilte das
Land, das altneue Land, und machte es aufblühen, daß es ein Garten und eine
Heimat wurde für Menschen, die ehemals arm, schwach, hoffnungslos, heimatlos
gewesen ... Friedrich fand endlich Worte: "Ich fühle mich wie zermalmt von
dieser Größe." "Uns," entgegnete David ernst, "hat die große Kraft
keineswegs zermalmt — sie hat uns erhoben."
Ende
des vierten Buches
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Fortsetzung
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