hebraeisch.israel-life.de / israel-tourismus.de / nahost-politik.de / zionismus.info
Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

 

[BUCH BESTELLEN]

Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND - Der utopische Roman von Theodor Herzl

 

VIERTES BUCH:
Passah

Drittes Kapitel

DAVID STELLTE DEN PHONOGRAPHEN WIEDER EIN, UND AUS DEM Schalltrichter hörte man abermals Joes Stimme, die früheren letzten Worte wiederholend:

"Das Direktorium ernannte mich zum Generalmanager auf fünf Jahre. Dann erhielt ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund eingeräumt. Einer meiner Ingenieure meinte, das sei wenig. Für den Anfang reichte es jedenfalls. Ich machte mir also meinen Plan. Wir waren im Herbst. Nach dem Winterregen wollte ich die geordnete Wanderung beginnen lassen. Ich hatte beiläufig vier Monate zur Arbeit vor mir. Da durfte keine Stunde verloren werden.

Vor allem richtete ich mir meine Zentralkanzlei in London ein und stellte für die wichtigsten Abteilungen Chefs auf, die ich kannte oder die mir gut empfohlen waren. Smith für Personentransport, Rübenz für Frachten, Steineck für das Bauamt, Warszawski für Maschinenkauf, Alladino für Landkauf, Kolin und Brownstone für die Verpflegung, Harburger für Sämereien und Baumpflanzungen. Leonkin hatte das Rechnungsdepartement, Wellner war mein Generalsekretär. Ich nenne sie in der Reihenfolge, wie sie mir einfallen. Als erster Gehilfe und Chefingenieur diente mir Fischer, den uns leider schon der Tod entrissen hat. Er war ein herrlicher, ernster, begeisterter Mensch. Wir werden nie genug um ihn trauern können.

Das Erste war, daß ich Alladino nach Palästina schickte, um so viel Land zu kaufen, wie er nur bekommen konnte. Er war ein spaniolischer Jude, des Arabischen und Griechischen kundig, ein verläßlicher, kluger Mann aus einer jener stolzen Familien, die ihren Stammbaum bis in die Zeit der Vertreibung aus Spanien nachweisen. Vor der Veröffentlichung des Charters waren die Bodenpreise mäßig. Ich durfte darauf rechnen, daß der undurchdringliche Alladino sich auch von den pfiffigsten Agenten nicht werde überlisten lassen. Die Landkäufe gingen natürlich auf ein anderes Konto der neuen Gesellschaft, es waren dafür zunächst zwei Millionen Pfund Sterling bewilligt. Fünfzig Millionen Francs waren für die damaligen Bodenverhältnisse in Palästina eine große Summe. Da ich mir beim Abschluß des Charters von der türkischen Regierung hatte versprechen lassen, daß die bisherigen behördlichen Einwanderungsschwierigkeiten bis auf weiteres bleiben sollten, war ich gegen eine überstürzte Immigration ziemlich gesichert.

Eine in kleine numerierte Gevierte eingeteilte Landkarte von Palästina wurde in meinem Bureau aufbewahrt, die genaue Kopie nahm Alladino mit. Er hatte mir einfach die Nummern der Parzellen, die er angekauft hatte, zu telegraphieren. So wußte ich jeden Tag, wieviel und welchen Boden wir bereits besaßen und konnte danach meine Dispositionen treffen.

Zur gleichen Zeit schickte ich den Botaniker Harburger nach Australien zum Ankaufe von Eukalyptusbäumchen. Auch hatte er diskretionäre Vollmacht zur Anschaffung solcher Setzlinge der Mittelmeerflora, die er zu Nutz und Zier nach Palästina verpflanzen wollte. Alladino und Harburger reisten zusammen nach Marseille. Dort trennten sie sich. Alladino ging mit dem nächsten Schiffe nach Alexandrien. Harburger reiste langsamer die Riviera hinunter, überall Bestellungen bei Gärtnern und Pflanzenhändlern für das kommende Frühjahr machend. Seine Aufgaben zeigte er täglich Rübenz an. Eine Woche später schiffte sich Harburger in Neapel nach Port-Said ein, und ich hörte dann erst wieder von ihm, als er in Melbourne angelangt war.

Ferner schickte ich sofort den Maschineningenieur Warszawski nach Amerika zum Einkauf der neuesten landwirtschaftlichen Geräte, Maschinen und aller Arten von transportablen Motoren, Straßenwalzen und so weiter. Warszawski hatte, wie alle meine Chefs, den Auftrag, sich nie ängstlich an meine Detailbefehle zu halten, sondern nur das Praktische auszuführen. Lange Berichte wünschte ich nicht. Alles Wichtige mußte mir aber sofort mit Ziffern und Tatsachen telegraphiert werden. Wer irgendwo etwas Neues, Praktisches, für unsere Zwecke Verwendbares sah, auch wenn es nicht in sein Ressort einschlug, hatte es mir sofort zu signalisieren, am liebsten telegraphisch. So habe ich im Verlaufe der Zeit manche glänzende Anregung bekommen. Unser Werk ist nur darum gelungen, weil es fort und fort auf der modernsten Höhe der Zeit war. Ich sagte Warszawski beim Abschiede bloß: Kaufen Sie kein altes Eisen! Er verstand mich.

Warszawski hatte noch einen Nebenauftrag. Er sollte die Rückwanderung der nach Amerika verschlagenen osteuropäischen Emigranten einleiten. Auf dieses Bevölkerungselement legte ich das größte Gewicht. Es waren Leute, die sich schon einmal mit Energie aus elenden Verhältnissen losgerissen und nachher die gute amerikanische Schule des Lebenskampfes durchgemacht hatten. Newyork war zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts die größte Judenstadt der Welt. Freilich konnten sich diese osteuropäischen Flüchtlinge in solchen Massen dort nicht halten. Sie drückten einander entsetzlich wie in einem Pferch und waren aus einer Misere in die andere gekommen. Da war also der Abfluß ein ebensolches Erlösungswerk wie in Osteuropa selbst. Es mußte auf ähnliche Weise die Wanderung nach Palästina vorbereitet werden. Warszawski hatte den Auftrag, die Leiter der bestehenden zionistischen Ortsgruppen zu einer vertraulichen Besprechung einzuladen. Um einer verfrühten Ablüftung des Planes vorzubeugen, hatte er ihnen nur folgendes zu sagen: "Es hat sich eine kapitalkräftige Gesellschaft gebildet und Konzessionen in Palästina erhalten, um landwirtschaftliche und industrielle Unternehmungen anzulegen. Tüchtige gelernte und ungelernte Arbeiter dürften im Monat Februar gebraucht werden. Fertigen Sie mir verläßliche Listen aus den Angehörigen Ihrer Ortsgruppen an. Die Rubriken sind: Namen, Alter, Geburtsort, bisherige Beschäftigung, Familienstand, Besitzverhältnisse. Unter den ungelernten Arbeitern erhalten die ledigen Leute den Vorzug, unter den Handwerkern die Verheirateten. Jede Ortsgruppe übernimmt für die von ihr Empfohlenen die moralische Verantwortung. Diese Verantwortung wird darin wirksam, daß eine Ortsgruppe, deren Angemeldete dann den Dienst versagen oder sich irgendwie untüchtig erweisen, späterhin vom Präsentationsrechte ausgeschlossen sein soll. Es muß eine Ehrensache der Ortsgruppe sein, nur die geeigneten Menschen vorzuschlagen. Ihre Sache ist es, wie sie die herausfinden: durch allgemeine Wahl der Mitgliederversammlung oder durch Ernennung seitens des Gruppenvorstandes. Die Mittel zur Erforschung der Eigenschaften haben sie in jedem einzelnen Falle, da sie einander kennen, jeden in ihrem kleineren Kreise arbeiten und wirtschaften sehen."

Wörtlich die gleiche Vorschrift ließ ich auch in Rußland, Rumänien, Galizien und Algerien zur Kenntnis der zionistischen Ortsgruppen bringen. Zu diesem Zwecke sandte ich Leonkin nach Rußland, Brownstone, der in Jassy zu Hause war, nach Rumänien, Kohn nach Galizien und Smith nach Algerien. Leonkin war nach drei Wochen, die anderen schon nach vierzehn Tagen wieder bei mir in London. Sie hatten den erforderlichen Korrespondenzdienst überall eingerichtet. Natürlich mußte das alles einfach und stramm zentralisiert sein. Ich hatte in den einzelnen Ländern erklären lassen, daß mein Bureau nur mit den Zentralstellen verkehren werde. Wir wären sonst in Schreibereien ertrunken. Die Vorsteher der Ortsgruppen wählten für größere Distrikte ein gemeinschaftliches Komitee. Die Vorsteher der Distriktskomitees wieder wählte ihre Landeszenlrale, die allein mit meinem Bureau zu tun hatte. Ich brauchte nur das Verzeichnis der Ortsgruppen nach Distrikten und Ländern geordnet.

Um mir den beständigen Überblick zu erleichtern, hatte ich einen kleinen Anschauungsbehelf. Ich ließ mir Stecknadeln mit verschiedenfarbigen Glasköpfen machen. Dunkelblau, lichtblau, gelb, rot, grün, schwarz, weiß. Diese Nadeln steckte ich in die auf Bretter gespannten großen Landkarten der einzelnen Staaten. Jede Farbe bedeutete den Vorbereitungszustand einer Ortsgruppe. Weiß bedeutete zum Beispiel nur, daß an diesem Ort eine organisierte Gruppe bestehe, die in der Ausarbeitung der Arbeiterliste begriffen sei. Grün bedeutete landwirtschaftliche, rot Industriearbeiter, gelb selbständige Handwerker, lichtblau endlich die bereits mit gemeinschaftlichem Vermögen gebildeten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, die nur ein Stück geliehenen Bodens zur Ansiedlung verlangten. Schwarz war das Zeichen für die Ortsgruppe, deren Sendlinge sich nicht bewährt hatten. Dann gab es auch gemischtfarbige Köpfe an meinen Stecknadeln, grün-rot, lichtblau-gelb und so weiter. Das sind geringe Details, die mir aber die Mühe sehr vereinfachten. Ich konnte Dank meinem Nachrichten- und Kartendienst Jahre hindurch jeden Tag den ganzen Stand unserer Bewegung deutlich bis in die letzten Einzelheiten überblicken. Diese Landkarten und Telegramme begleiteten mich überallhin. Später kamen Stecknadeln mit Ziffern für die Eisenbahn- und Schiffsmarkierung hinzu. Ich wußte zu jeder Stunde, wieviel Transporte unterwegs und genau, an welcher Stelle sie waren. Befand ich mich selbst auf der Reise, so wurden mir die eingelaufenen Depeschen zweimal täglich in einem Gesamtbericht von meinem braven Wellner aus London nachgedrahtet.

Vielfach war in früherer Zeit die Meinung verbreitet gewesen, daß die Aussicht auf eine bevorstehende Auswanderung die Leute demoralisieren müsse. Niemand würde mehr Lust zur Arbeit oder zur Erfüllung seiner Verpflichtungen haben, wenn er demnächst wegziehen sollte. Das Gegenteil des Befürchteteten trat ein. Da die Ortsgruppen in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse nur die Anständigsten, Fleißigsten vorschlagen durften, so entstand überall ein löblicher Wettbewerb um die Aufnahme in die Liste. Diese wurde unversehens das Ehrenbuch der Gemeinden. Wen man für würdig erklären sollte, ins gelobte Land zu ziehen, der mußte sich redlich bemühen. So ergab sich daraus eine Nebenwirkung; ich gestehe offen, daß ich diese nicht im Traum erwartet hätte. Und sie war doch eigentlich so leicht vorauszusehen gewesen. Mancher unordentliche oder hoffnungslose Mann strengte sich mehr an als bisher und wirtschaftete vernünftiger. Mancher Haushalt wurde befestigt, mancher halb Verlumpte raffte sich wieder auf. So war die Wirkung des geregelten Auswandems auch auf die ganz vorzüglich, die noch dableiben mußten. Und wie sie sich innerlich erhoben, so wurden sie auch ihren äußeren Verpflichtungen gerecht. In der Instruktion an die Ortsgruppen war mit größter Deutlichkeit gesagt, daß nur diejenigen angenommen werden könnten, die von ihrer politischen Behörde ein richtiges Abgangszeugnis erhielten. Für Vagabunden hatten wir keine Verwendung. Von den Regierungen, die über unser Werk vollkommen unterrichtet waren, wurden wir nach Möglichkeit unterstützt. Übrigens kam das erst später.

In den ersten Wochen, nachdem ich Alladino, Warszawski und die anderen ausgeschickt hatte, war ich nur mit meinem Chefingenieur Fischer, Steineck und Wellner in London. Da wurden die großen technischen Pläne zum erstenmal umrissen. Viele davon sind heute verwirklicht. Manche mußten wir aufgeben; andere wurden noch großartiger ausgeführt als wir gehofft hatten. Ich behaupte nicht, daß wir noch nicht Dagewesenes geleistet haben. Die amerikanischen, englischen, deutschen und französischen Ingenieure haben das alles schon vor uns gemacht. Aber im Orient waren wir doch die ersten Boten dieser Kultur.

Von Steineck ließ ich Pläne für Arbeitshäuser und Stationsgebäude anfertigen. Einige billige Typen mußten für den Anfang genügen. Hauptsache war die rasche Herstellung. Auf Schönheit konnte in der ersten Zeit nicht reflektiert werden. Die großen Leistungen Steinecks in der zweckmäßigen, graziösen und stellenweise majestätischen Anlage von größeren Ortschaften, Städten sind späteren Datums. Im Anfang hatte er nur für die rohen Unterkunftsbauten zu sorgen. Auf seinen Vorschlag bestellte ich in Frankreich fünfhundert Baracken eines neuen Systems, die wie Zelte abgebrochen und innerhalb einer Stunde aufgestellt werden konnten. Die Baracken mußten Mitte Februar in Marseille geliefert werden, wo sie Rübenz übernehmen ließ. Ich gab, nachdem die typischen Hauspläne fertig waren, Steineck den allgemeinen Auftrag, sich das Baumaterial und die Baumeister schnell, billig, nach seinem Ermessen zu schaffen. Steineck mußte sein Bauamt sofort einrichten und ich wollte ihm die weiteste Selbständigkeit gewähren. Ich sagte ihm: Begeben Sie sich unverzüglich an Ort und Stelle! Seine Antwort machte mich stutzig. Er sagte: "Ich werde zuerst nach Schweden und Finnland gehen ..."

Hier wurden die Worte des Phonographen überlärmt von einem lustigen Ausbruch des Architekten Steineck. Die Erinnerung riß ihn so hin, daß er dröhnend lachte. Sein Bruder wies ihn streng zurecht:

"Beherrsche dich! Du störst uns!"

David mußte die Walze wieder zurückstellen, so daß man die letzten Worte nochmals hörte:

"... machte mich stutzig. Er sagte: Ich werde zuerst nach Schweden und Finnland gehen... Das war doch nicht die Route nach Palästina? Aber ich urteilte vorschnell. Er ging nach Schweden, um Bauholz einzukaufen. Dann reiste er nach der Schweiz, nach Österreich und Deutschland und warb an den technischen Hochschulen junge Leute, die eben mit ihren Studien fertig wurden.

Nach sechs Wochen hatte er in Jaffa seine erste Baukanzlei im Betrieb, mit ungefähr hundert Bauingenieuren und Zeichnern, unter denen sich bald sehr tüchtige Kräfte bemerkbar machten. Die Kunde vom unverhofften Bedarf an jüdischen Technikern verbreitete sich aber durch die Studentenvereine sehr rasch an allen Hochschulen. Auch da zeigte sich die Erscheinung, die wir auf einer unteren Stufe in den Ortsgruppen sehen konnten. Die Aussicht, in Palästina Verwendung und eine vielleicht glänzende Karriere zu finden, beflügelte den Lerneifer der jungen Leute. Sie vertrödelten ihre Zeit nicht mit politischem Firlefanz oder Kartenspiel, sondern trachteten, mit möglichster Beschleunigung brauchbare Menschen zu werden.

Das Holz, das Steineck in Schweden und Finnland gekauft hatte, sowie seine Eisenbestellungen in Deutschland und Österreich gab er unserem Tarifmann Rübenz auf. Dieser hatte sich inzwischen mit Eisenbahnen, Schiffahrtsgesellschaften und Dockverwaltungen in Verbindung gesetzt. Rübenz war ein geschickter Tarifeur und löste die Aufgabe in den nächsten Monaten vorzüglich. Seine Leistung ist heute ziemlich vergessen, weil ein so großartiger Schiffsverkehr zwischen unseren und den europäischen Häfen besteht. Aber in den ersten drei, vier Jahren gehörte Witz dazu, billige Frachtmittel zu finden. Rübenz benützte die erstaunlichsten Gelegenheiten, spanische, griechische, nordafrikanische Schiffe. Ich hatte ihn immer im Verdacht, daß er das Speditionsgeschäft als Sport betreibe. Er ließ seine Waren die wunderbarsten Reisen und Umwege machen. Aber am Tag, an dem man sie brauchte, waren sie da, und es stellte sich manchmal heraus, daß er eine langsamere Beförderung gewählt hatte, um Lagerzins zu sparen. Das Schiff war in seiner Behandlung ein schwimmendes Dock. Er hatte in seiner Abteilung auch mehrere Landkartensysteme mit bunten Stecknadeln, die Getreide, Mehl, Zucker, Kohle, Holz, Eisen und so weiter bedeuteten. Wollte ich mich über den Materialstand orientieren, brauchte ich nur in sein Bureau zu gehen. In wenigen Minuten hatte ich alle Auskünfte und ein übersichtliches Bild unserer Vorräte. Rübenz war ein Pfennigsparer. Damit hat er unserer Wirtschaft riesige Summen eingebracht.

Es war auch ein Gedanke des Rübenz, die großen Kaufhäuser in England, Frankreich und Deutschland noch vor Beginn der Wanderung zu verständigen. Diese Kaufhäuser hatten Massen alter Ladenhüter und ihre Besitzer durften froh sein, solchen Absatz zu finden. Für uns war es eine bedeutende Entlastung, daß wir nicht für alle Lebensnotwendigkeiten unserer Ankömmlinge im vorhinein sorgen mußten. Wie sollten wir alle die Betten, Tische, Schränke, Malratzen, Kissen, Decken, Schüsseln, Teller, Töpfe, Wäsche, Kleider, Stiefel vorbereiten? Das wäre an sich schon eine ungeheure Aufgabe gewesen. Wir überließen sie am besten solchen konkurrierenden Großunternehmern, die sich dabei ihren Vorteil suchen mochten. Diese Kaufleute hatten freilich in den armen Einwanderern keine sehr geldkräftige Kundschaft. Anders als in Teilzahlungen konnten die Ansiedler die Waren nicht erstehen. Doch gab es eine Sicherheit darin, daß die neue Gesellschaft die vereinbarten Raten den Arbeitern und Angestellten vom Lohn ab-> zog und den Kaufhäusern direkt zuführte. Dadurch erlangten wir aber auch einen gesunden Einfluß auf die Warenpreise, die unseren Ansiedlern gerechnet wurden. Unser Rechnungsdepartement ließ sich mit den Kaufhäusern auf solchen Verkehr nur ein, wenn sie ihren festen Preistarif vorgelegt hatten. So wurde die Bewucherung der armen Leute verhindert, und die Warenmagazine machten große Umsätze bei völliger Sicherheit. Ja, es ist noch selten in der Weltwirtschaft vorgekommen, daß die Lieferanten einen bevorstehenden Warenverbrauch mit solcher Wahrscheinlichkeit abschätzen konnten. Die Lieferung hatte etwas Heeresmäßiges und doch Freies. Die Konkurrenz blieb allen offen. Dadurch wurde alles billiger. Einer Kartellierung der Warenhäuser war leicht vorzubeugen. Für Geschäfte, die sich zu einem Preiskartell zusammentaten, besorgten wir die Verrechnung nicht. Sie mochten dann zusehen, woher sie ihre Kundschaft nahmen. Unsere ordentlichen Leute bekamen sie nicht.

Auf diese Art schufen wir in zwei, drei Monaten den Markt der ersten Zeit. Während sich in allen Ländern die Ortsgruppen um die Auswahl der Tüchtigsten bemühten, bereiteten englische, deutsche und französische Warenhäuser ihre Niederlassungen in Haifa, Jaffa, Jericho und vor den Toren Jerusalems vor. Die einheimische Bevölkerung sah das Auftauchen der abendländischen Sachen mit Staunen. Man wußte sich anfangs die Merkwürdigkeiten gar nicht zu erklären. Ein schnurriger Brief des Architekten Steineck aus dieser Zeit schildert die gravitätische Verblüffung der Orientalen beim Erscheinen dieser Wunder. "Ernste Kamele blieben stehen und schüttelten den Kopf," schreibt unser Freund. Aber die Einheimischen fingen gleich zu kaufen an, und bis nach Damaskus und Aleppo, nach Bagdad und an den persischen Golf verbreitete sich die Kunde von den neuen Bazaren. Die Leute strömten herbei. So bewirkte schon die Vorahnung unseres Unternehmens ein Aufleben von Handel und Wandel. Nach den glänzenden Resultaten der ersten Monate begannen einige Großhändler die gangbarsten Waren in Palästina selbst zu erzeugen, weil sie dabei die Transportspesen ersparten. Das waren die frühesten Ansätze zu unserer heutigen blühenden Großindustrie.

Man hat mir später einen Vorwurf gemacht, daß ich das Reichwerden von Unternehmern begünstigte. Ich bin dafür auch in Zeitungen beschimpft worden. Das ist mir sehr gleichgültig. Anders war es nicht zu machen, und jedem kann man es nicht recht machen. Ich hatte nur darauf zu sehen, daß kein Beamter der neuen Gesellschaft mehr als sein rechtmäßiges Gehalt verdiene. Darauf habe ich erbarmungslos gesehen, das wird mir jeder bezeugen. Daß ich kein Vermögen gemacht habe, ist auch bekannt. Wenn aber freie Unternehmer reichlich erwarben, so konnte mir das im Interesse unserer Sache nur recht sein. Wo Gold aus der Erde gewaschen wird, dort strömen die Menschen hin. Auf welche Weise es gewaschen wird, ist gleichgültig. Ich unterschätze die idealen und sentimentalen Beweggründe nicht, aber die materialistischen sind auch etwas wert.

Ich greife da wieder einer späteren Entwicklung vor. Nach Steinecks Abgang hatte ich Zeit, die Pläne meines guten Fischer zu studieren. Seine Entwürfe für die Straßen, Wasser- und Kraftversorgung, Eisenbahnen, Kanäle und Häfen waren klassisch. Sein größtes Werk, der Kanal vom Mittelländischen zum Toten Meer, mit der geistreichen Ausnützung des Niveauunterschiedes, breitete er schon damals auf dem Papier vor mir aus. Ein Schweizer Ingenieur, ein Christ, der aus Begeisterung für den Zionismus zum Judentum übergetreten war, und den Namen Abraham angenommen hatte, half ihm bei dieser Arbeit. Der bescheidene Fischer pflegte ihn immer als den eigentlichen geistigen Urheber des Werkes hinzustellen. Die ausgezeichneten Landkarten des englischen Generalstabs und namentlich die plastische Karte Armstrongs, die vom Palestine Exploration Fund herausgegeben worden, leisteten uns dabei unschätzbare Dienste. Um diese Zeit regte ich auch die Gründung der ersten Eisenbahngesellschaften an. Die armselige Linie Jaffa-Jerusalem konnte natürlich den kommenden Bedürfnissen nicht genügen. Die Küstenbahn von Jaffa südwärts nach Port-Said, nordwärts über Cäsarea, Haifa, Tyrus, Sidon, nach Beirut mit dem Anschluß nach Damaskus wurde vor allem gesichert. Es folgte die neue Linie nach Jerusalem, die Jordantalbahn mit den östlichen und westlichen Abzweigungen am See von Genezareth, die Libanonbahnen. Die Kapitalien wurden von Warszawski in Amerika und von Leonkin in Rußland aufgetrieben. Ich hatte Kämpfe mit meinem Direktorium wegen der Zinsengarantien. Man erklärte mich für tollkühn, weil ich die Rentabilität solcher Linien gewährleisten wollte. Ich setzte meinen Willen durch und behielt mit meinen Schätzungen Recht. Es war allerdings eine Affäre von fünf Jahren, in denen ich nach und nach eine Linie um die andere durchdrückte. Heute ist das alles alte Geschichte, die Bahnen sind ja ins Eigentum der neuen Gesellschaft übergegangen.

Nächst den Transportfragen beschäftigte mich die des Zugviehs am meisten. Eine meiner Aufgaben war ja die Einrichtung einer sehr großen Landwirtschaft. Die Zugviehherden mußten nicht nur angeschafft, sondern auch nach Palästina gebracht und gefüttert werden. Ich hatte darüber manche sorgenvolle Unterredung mit Brownstone, in dessen Abteilung das fiel. Seine Vorschläge sagten mir nicht recht zu. Ich halte ordentlich Angst vor dem Gedanken, Herden von vielen tausend Ochsen in den Donauländern anzukaufen und sie auf langsamen Land- und Wasserwegen hinüberzuschaffen. Brownstone drängte, es wäre schon die höchste Zeit, aber ich konnte mich lange nicht entschließen. Am sympathischsten war mir der Gedanke, Zugvieh aus Ägypten zu holen. Dagegen sprach auch manches.

Während der ersten Wochen konnte ich mich nicht von London wegrühren. Aber einmal machte ich einen Sprung nach Deutschland, um mir den neuen elektrischen Motorpflug anzusehen. Ich war von dem Ergebnis geradezu begeistert. Den elektrischen Pflug rechne ich zum allergrößten, was uns das neunzehnte Jahrhundert geschenkt hat. Heute ist der elektrische Pflug freilich viel praktischer als er damals war. Aber schon in seiner früheren Form fand ich ihn ausgezeichnet. Ich kaufte augenblicklich den ganzen Vorrat der Fabrik auf, bestellte nach, was sie bis Februar liefern konnte und telegraphierte an Warszawski nach Neuyork: "Kaufen Sie elektrische Pflüge Motorsystem zusammen, so viel Sie bis Februar bekommen können." Er antwortete: "Werde sehen." Als ich wieder in London eintraf, hatte ich seine Depesche: "Dreihundert Motorpflüge werden Mitte Februar in Jaffa sein."

Durch diesen Fund war ich von einigen Sorgen erleichtert. Es gab nach meiner Rückkehr aus Deutschland einen komischen Auftritt mit Brownstone. Ich sehe noch sein verblüfftes und beleidigtes Gesicht, als ich ihn in meiner Freude anschrie: "Mein Lieber, Sie sind überflüssig geworden — wir brauchen keine Ochsen mehr!..." Erst aus dem Gelächter der Umstehenden erkannte ich das drollige Mißverständnis, bat ihn um Entschuldigung und erklärte die Sache. Brownstone jauchzte laut auf, und so taten die übrigen. Allerdings war unser Freund Brownstone auch jetzt nicht überflüssig geworden. Es gab noch reichlich für ihn zu tun, wenn er auch weniger Zugochsen aufzubringen hatte. Wir brauchten immer noch genug Pferde, Milchkühe, Schafe, Geflügel und entsprechende Futtervorräte für all das Getier. Dieser Zwischenfall hatte sich bald nach Brownstones Rückkehr aus Rumänien abgespielt. Jetzt schickte ich ihn nach Holland, der Schweiz und Ungarn, um gutes Vieh einzukaufen.

Statt der Ochsen mußten wir uns nun Kohlen für die Pflüge besorgen. Das war die Sache Rübenz'. Damals war die asiatische Kohle noch nicht so leicht erreichbar wie jetzt. Rübenz deckte sich den voraussichtlichen Bedarf an Kohle in England durch einfachen Depeschenwechsel. Innerhalb vierundzwanzig Stunden war das erledigt. Es war einer der glücklichsten Momente, in denen einem der Kulturfortschritt fühlbar wird. Denn schon das hielten wir damals für eine kolossale Errungenschaft. Sie war es auch. Wir hatten damals noch nicht die Wasserkraft des Toten-Meer-Kanals. Heute brauchen wir ja nicht mehr die englische Kohle, um den Boden von Palästina zu pflügen. Auch das Lokomobil, das am Feldrande stand, ist für uns eine altertümliche Erscheinung geworden. Wir haben jetzt unsere Drähte, in denen die Kraft vom Jordangefälle, vom Toten-Meer-Kanal oder von den Bächen des Libanon und Hermon weit übers ganze Land den Pflügen zugeleitet wird. Statt der Kohle haben wir das Wasser.

Dies waren in großen Zügen meine ersten Vorkehru..."

Hier bat Professor Steineck geräuschvoll ums Wort. David stellte sogleich die Walze ein.

"Ich muß eine Bemerkung machen," sagte der Professor. "Es ist eine mehr literarische Bemerkung, nehmen Sie mir das nicht übel. Wissen Sie, was das ist, was wir soeben vom verborgenen Joe gehört haben? Das neue Chad-Gadja. Sie verstehen?"

Kingscourt verstand natürlich nicht. Man mußte es ihm erklären. Chad Gadja, chad Gadja, das Lämmchen, das Lämmchen, ist die letzte halb scherzende und halb nachdenkliche Geschichte im Buche des Passahfestes. Das Lämmchen wird von der Katze gefressen, der Hund zerreißt die Katze, der Stock erschlägt den Hund, das Feuer verzehrt den Stock, die Quelle löscht den Brand, der Ochse trinkt die Quelle aus, der Schlächter tötet den Ochsen, der Todesengel nimmt den Schlächter fort — und über allen ist Gott, der den ganzen Weg regiert, vom Todesengel bis zurück zum Lämmchen, zum Lämmchen.

"So," meinte der Professor, "geht es auch mit den Kräften am Pflug. Den Ochsen verdrängt die Kohle, die verdrängt wird vom Wasser ..."

Worauf der alte Littwak sagte:
"Und über allen ist Gott — bis zurück zum Lämmchen."

>> Fortsetzung folgt...

[BUCH BESTELLEN]

Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND - Der utopische Roman von Theodor Herzl
hagalil.com
Search haGalil
e-Postkarten


DE-Titel
US-Titel

Books

Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved