[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
VIERTES BUCH:
Passah
Erstes Kapitel
In der Villa des alten Littwak hatte man die Passahfeier
vorbereitet. Es war Abend, als die Gäste zurückkehrten. Der russische Pope
von Sepphoris war schon vor einer Stunde eingetroffen. Jetzt kam auch David
in Begleitung des Franziskanerpaters Ignaz. Dieser war ein wohlgenährter
rotbackiger, blond-bärtiger Mann, den die braune Kutte noch gedrungener
erscheinen ließ. Er stammte aus Köln am Rhein und lebte schon seit einem
Vierteljahrhundert in Tiberias, doch hatte er noch seinen unverfälschten
kölnischen Dialekt im Munde. Anders als Deutsch konnte der gute Pater nicht
sprechen. Der Pope und der Anglikaner Mr. Hopkins machten darum löbliche
Anstrengungen, sich mit Pater Ignaz in seiner Muttersprache zu verständigen.
Der Sedertisch war im Speisesaale des Erdgeschoßes
hergerichtet. Etwa zwanzig Gedecke lagen auf dem schimmernden Linnen. David
hatte allen Gästen die Plätze angewiesen und saß selbst am unteren Ende der
Tafel, der sein Vater präsidierte. Der Stuhl zur Rechten des alten Littwak
blieb aber leer, weil er für die kranke Mutter bestimmt war; sie könnte
nicht an der Feier teilnehmen. Zur Linken des Hausvaters saß Mrs. Gothland.
Das schöne uralte Melodrama des Seders begann. Der erste
Becher war eingeschenkt und der Hausherr sprach das Kiduschgebet, worin für
die Frucht des Weinstockes und für alle Gnaden gedankt wird, welche Gott
seinem Volke erwiesen hat.
"Ewiger, unser Gott! Du hast uns bestimmte Zeiten zur Freude,
Fest- und Feiertage zur Wonne gegeben, wie diesen Festtag des ungesäuerten
Kuchens, die Zeit unserer Freilassung zur heiligen Verkündung, zum Andenken
unseres Ausganges aus Miz-rajim..."
Als dieses Gebet vorüber war, trank man den ersten Becher.
Kingscourt sah nur zu. Da neigte sich Mrs. Gothland zu ihm, in englischer
Sprache flüsternd:
"Sie müssen alles mittun, was die anderen machen. Es ist der
Brauch."
Kingscourt würgte einige Deibel hinunter, hatte aber Humor
und gute Lebensart genug, die sonderbaren Gebräuche den übrigen Gästen
gleich zu befolgen. Die christlichen Seelsorger schlössen sich auch jetzt
nicht aus.
Jetzt wusch der Hausvater sich die Hände in einem silbernen
Becken, das Mirjam ihm dienend reichte. Hierauf nahm er von der vor ihm
stehenden Sederschüssel ein Stückchen Petersilie, tauchte es in das
Salzwassergefäß, sprach den Segen und aß es. Dann wurde jedem der Tischgäste
ein wenig Petersilie gegeben, und jeder aß es. Kingscourt mit einer lustigen
Grimasse, über die seine Nachbarin Mrs. Gothland sanft lächelte. Dann wurden
das Ei und der Knochen mit dem gebratenen Fleisch von der Sederschüssel
genommen, und die verhüllte Platte hob man hoch mit den feierlichen Worten:
"Dieses ist das Brot des Leidens, das unsere Vorfahren im
Lande Mizrajim gegessen haben ..."
Wieder half Mrs. Gothland dem Verständnisse Kingscourts nach,
indem sie mit dem Finger die Stelle in der vor ihm liegenden Hagadah wies,
wo neben dem hebräischen Urtexte die deutsche Übersetzung zu lesen war. Dann
wurde der zweite Becher Weines eingeschenkt, und David, welchem es als dem
jüngsten Manne in der Tischgesellschaft zukam, erhob sich zu der
überlieferten Frage:
"Mah nischtaneh halajloh haseh?... Wodurch ist diese Nacht
ausgezeichnet vor allen übrigen Nächten? Denn in allen anderen Nächten
können wir essen Gesäuertes und Ungesäuertes — in dieser Nacht nur
Ungesäuertes. In allen anderen Nächten können wir essen allerlei Kräuter —
in dieser Nacht nur bittere Kräuter ..."
Dann wurden die flachen Passahbrote der Sederschüssel
aufgedeckt, und alle zusammen antworteten auf die Frage des Jüngsten:
"Einst waren wir Knechte des Pharao in Mizrajim, da zog uns
der Ewige unser Gott heraus von dort, mit starker Hand und ausgestrecktem
Arme..."
Und so nahm die Feier, halb Gottesdienst und halb
Familienschmaus, ihren Fortgang, ergreifend für jeden, dessen Herz von
Ehrwürdigem gerührt werden konnte. Denn dieses jüdischeste aller Feste
reichte weiter hinauf in die Vergangenheit der Menschen als irgendeine
lebende Übung der Kulturwelt. So wie jetzt wurde dies alles, geübt vor
vielen, vielen Jahrhunderten, und die Welt hatte sich seither verwandelt,
Völker waren untergegangen, andere waren in der Geschichte erschienen, der
Erdkreis hatte sich erweitert, unbekannte Kontinente tauchten aus den
Meeren, ungeahnte Naturkräfte erleichterten und verschönten das Leben — und
nur dieses eine Volk war noch da wie ehemals, hegte noch die unveränderten
Gebräuche, treu sich selbst und eingedenk der Leiden seiner Altvorderen. Es
betete noch immer mit tausendjährigen Worten zum Ewigen, seinem Gotte, das
Volk der Knechtschaft und Freiheit — Israel!
Einer war an dem Sedertische, der sprach die hebräischen
Worte der Hagadah mit der Inbrunst eines Heimgekehrten. Ihm war es ein
Wiederfinden und manchmal schnürte ihm Rührung die Kehle zu, daß er sich
zusammennehmen mußte, um nicht laut aufzuschluchzen. Bald dreißig Jahre
waren es her, daß er selbst als Knabe das "Mah nischtaneh" gefragt hatte.
Dann war die "Aufklärung" gekommen, die Loslösung von allem Jüdischen und
endlich logisch der Sprung ins Leere, da er gar keinen Halt mehr im Leben
besaß. An diesem Seder kam er sich vor wie der verlorene Sohn.
Als der erste Teil der Feier vorüber war und die Speisen
aufgetragen wurden, rief ihm Kingscourt über den Tisch zu:
"Fritz, ich wußte gar nicht, daß Sie ein so perfekter Hebräer
sind."
"Offen gestanden, ich wußte es selbst nicht!" war seine
Antwort. "Aber es scheint, daß man das aus der Jugend her nicht vergißt."
In den Tischgesprächen kehrte öfters der Name eines Herrn
wieder, den Kingscourt und Friedrich noch nicht kannten: Mister Joseph Levy.
Die beiden Steinecks nannten ihn nur "Joe", in der englischen Abkürzung. Es
klang in ihrem Munde wie "Tschoh".
"Es ist doch ein furchtbares Unrecht, daß Tschoh nicht da
ist!" sagte der Architekt laut.
"Ja," ergänzte sein Bruder, "daß Joe heute fehlt, ist nicht
in der Ordnung. Die Feier ist nicht vollständig. Sie verstehen?"
"Nee, janz und jar nich," erklärte Kingscourt. "Es
intriguiert mich schon die ganze Zeit, was Sie eigentlich von diesem
unbekannten Joe wollen."
"Er kennt Joe nicht!" schrie der Architekt und hielt sich die
Seiten vor Lachen.
"Das ist eine Lücke in ihrer Bildung, meine Herren!" sagte
der Professor. "Joe muß man kennen. Ohne Joe säße mancher heute nicht, wo er
sitzt. Joe hat die merkwürdigsten Dinge mit den geringsten Mitteln
vollbracht. Joe ist ein wunderbarer Kerl. Er besitzt nämlich eine
Eigenschaft, die seltener ist als Gold, seltener als Platin, seltener als
Uran, seltener als das Seltenste, was es gibt."
"Deibel, Sie spannen mich, Professor! Und diese Eigenschaft
wäre?"
"Einfacher, gesunder Menschenverstand! Sie verstehen?"
"Ich fange an... Nun möcht' ich aber den wundervollen Mann
auch sehen!"
Der Architekt machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und
rief lustig:
"Tschoh, Tschoh!"
Mrs. Gothland winkte dem Schreihals zu, er möge schweigen.
Dann sagte sie:
"Lieber Freund, so laut können nicht einmal Sie sprechen, daß
er Sie hört. Es wäre denn, daß Sie sich an das Telephon bemühen. Dann ist es
freilich leicht. Sie brauchen nur den Anschluß an Marseille zu verlangen.
Unser guter Joe ist heute nachmittag in Marseille angekommen. Er läßt alle
grüßen. Ich habe vorhin mit ihm telephoniert."
"Wa-as?" schrie der Architekt. "So plötzlich? Ohne ein Wort
zu sagen?"
"Ja, er hat sich vor einigen Tagen plötzlich entschlossen,"
berichtete Mrs. Gothland weiter. "Sie kennen ja unseren Joe. Es wurde ihm
gemeldet, daß ein Fabrikant in Lyon eine neuartige Maschine hergestellt
habe. 'Das muß man sich ansehen,' sagte Joe und fuhr noch am selben Tage
nach Europa hinüber. Da die Blätter dort von seiner bevorstehenden Ankunft
telegraphisch verständigt wurden, so hat er zur Stunde wahrscheinlich eine
Belagerung von Fabriken, Maschinenagenten und Ingenieuren auszuhalten. So
ist es immer, wenn Joe nach Europa geht."
Reschid Bey bemerkte:
"Es erwarten ihn gewöhnlich schon die Vertreter aller
möglichen Industrien. Er arbeitet mit England, Deutschland, Frankreich und
besonders mit Amerika. Morgen wird er vielleicht auf dem Wege nach Amerika
sein, wenn er nicht nach London geht oder hierher zurückreist. Man weiß bei
Joseph Levy nie vorher, was er tun wird. Nur das eine weiß mäh: es ist das
Richtige. Er schließt schneller einen Handel über fünf Millionen Dollars ab,
als ein anderer sich einen Rock kauft. Die Amerikaner sind von ihm entzückt.
Er bestellt rasch, zahlt gut und irrt sich nie."
"Donnerwetter, der Mann jefällt mir!" brummte Kingscourt.
"Was ist er denn hier?"
"Generaldirektor des Industrieamtes," sagte David. "Es gibt
freilich kein Amt, das Joseph Levy nicht bekleiden könnte. Das ist einmal
ein Mensch, der alles versteht, was sich einem gesunden Blick und einem
eisernen Willen erschließt. Er hat eine blitzartige Intelligenz und klärt
Ihnen im Nu die verworrenste Situation auf. Und wenn Joe Levy sich etwas
vornimmt, dann können Sie gleich einen Eid ablegen, daß er es auch
durchsetzt. Ich dachte mir, daß dieser Vollmensch Sie interessieren würde,
meine Herren. Sie sollen ihn nach Tisch wenigstens reden hören, da ich ihn
heute nicht anders als im Bilde zeigen kann."
"Da müssen wir wohl ans Telephon ran?" meinte Kingscourt.
"Nicht nötig!" lächelte David. "Sie werden es bequemer haben.
Und nicht nur Sie, auch spätere Zeiten werden seine Rede vernehmen. Ich
dachte mir, daß es immerhin merkwürdig wäre, die Stimme des Befehlenden
festzuhalten, der den neuen Auszug der Juden ordnete. Darum bat ich Joseph
Levy, den Bericht über die Besiedlung unseres Landes in den Phonographen
hineinzusprechen. Sie kannten ja diese sinnreiche Erfindung schon vor
zwanzig Jahren, meine Herren. Ich ließ die Wachsrollen, auf die Joe seinen
Bericht gesprochen hat, vervielfältigen. Einige hundert Exemplare schenkte
ich jetzt zum Passahfeste den Schulen. Wir aber werden uns heute an der
ersten Vorführung dieser Denkwürdigkeit erfreuen."
Kingscourt fand es sehr ergötzlich:
"Janz famos. Da haben Sie einen reichen Gedanken jehabt,
verehrtester Mann der Zukunft. Ohnehin fragte ich mich schon die ganze Zeit
nach dem Überjang. Das Fertige sehn wir ja vor uns. Aber wie ist es
jeworden? Da liegt schließlich des Pudels Kern begraben. Daß es Eisenbahnen,
Häfen, Fabriken, Automobile, Tele-, Phono-, Photo- und Gott weiß was für
Grafen jibt, das wußten auch wir minderjebildeten Europäer schon, bevor wir
den erstaunten Fuß auf Palästinas Erde setzten. Aber wie haben Sie das alles
herüberverpflanzt? Darum wollt' ich Sie eben ooch jebeten haben."
"Joe wird Ihnen den Anfang sagen, nachdem wir Ihnen das Ende
gezeigt haben," antwortete David. "Und dieser Sederabend schien mir dafür
eine weihevolle Zeit. Wir lesen heute in unserer alten Hagadah, wie die
Weisen einst an einem solchen Abende zu Bene-Berak zusammen kamen, und sich
die ganze Nacht hindurch über den Ausgang aus Mizrajim unterhielten. Wir
sind die Nachfahren von Rabbi Elieser, dem Sohne Asarias, Rabbi Akiba und
Rabbi Tarphon. Und dies ist unser Abend von Bene-Berak. Altes will in neues
übergehen. Wir werden zuerst unseren Seder in der Weise unserer Vorfahren zu
Ende führen. Dann möge sich die andere Zeit melden, wie sie gekommen ist.
Wieder gab es ein Mizrajim und wieder einen glückhaften Auszug. Dieser wurde
selbstverständlich auf eine Art gemacht, welche dem Kulturzustande und den
technischen Mitteln zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsprach. Es
konnte nicht anders sein. Es konnte auch nicht früher sein. Das technische
Zeitalter mußte erschienen sein. Die Völker mußten die Reife zur
Kolonialpolitik erlangt haben. Statt der Segelschiffe mußten die großen
Schraubendampfer mit zweiundzwanzig und mehr Seemeilen Geschwindigkeit
existieren. Kurz, das Inventar von 1900! Wir mußten neue Menschen geworden
und doch auch dem alten Stamm nicht untreu sein. Und auch die wohlwollende
Teilnahme der Völker und ihrer Fürsten mußte dabei sein, sonst wäre das
ganze Werk nicht möglich gewesen."
"Gott hat uns geholfen!" sagte der alte Littwak und murmelte
hebräische Worte.
Reverend Hopkins erinnerte seine geistlichen Kollegen von den
anderen Kirchen an den Osterstreit des Altertums, und wie sich all der
müßige Hader nun in Harmonien aufgelöst habe. Heute könnten sie als Christen
friedlich im Hause eines Juden zur Passahfeier zusammenkommen und nähme
keiner Anstoß an den Anschauungen des anderen. Denn ein Frühling der
Menschheit sei auferstanden.
"Er
ist wahrhaftig auferstanden!" sagte der Pope von Sepphoris.
>>
Fortsetzung folgt...
[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl |