Fünftes Kapitel
IN DER KLEINEN VILLA, WELCHE DIE ALTEN LITTWACKS FÜR DIE Dauer des
Kurgebrauches gemietet hatten, konnten die Gäste nicht beherbergt werden.
Nur Mirjam wohnte bei ihren Eltern. David hatte für sich und seine Freunde
in einem Hotel neben den Badeanstalten Zimmer bestellt. Das Gepäck aller war
schon dahin gesendet worden, und als sie nach der Begrüßung von Littwaks
Eltern nach ihrem Quartier fuhren, um sich vom Wegstaube zu säubern, da war
für sie schon Ordnung und Bequemlichkeit vorbereitet. In der Halle des
Hotels wurden sie von einer älteren Dame und zwei Herren freundlich
erwartet. David machte diejenigen, die einander noch nicht gesehen hatten,
bekannt. Die Dame war eine Jüdin aus Amerika, Mrs. Gothland. Sie hatte etwas
so Mildes in ihrer Art, daß jeder von ihr sehr bald bezaubert war. Unter den
grauen Haaren hatte ihr gütestrahlendes Gesicht noch immer einen Liebreiz.
Von den beiden Herren war der eine, der den klappenlosen schwarzen
Schlußrock der anglikanischen Geistlichen trug, der Reverend William H.
Hopkins, Seelsorger der englischen Kirchengemeinde in Jerusalem. Er hatte
einen langen weißen Prophetenbart, schöne schwärmerische blaue Augen, und er
freute sich zum größten Erstaunen Kingscourts, als ihn dieser zuerst
irrtümlich für einen Juden hielt. Der andere Herr in Mrs. Gothlands
Gesellschaft war des Architekten Bruder, der Bakteriologe Professor
Steineck, ein lustiger, hastiger und zerstreuter Gelehrter, der so laut
sprach, als ob er immerfort mit einem Auditorium von Schwerhörigen zu tun
hätte. Mit seinem Bruder geriet er in der Regel nach fünf Minuten
Beisammenseins in Streit, obwohl sie einander vergötterten. So geschah es
auch jetzt. Der Architekt hatte den Fremden vorgeschlagen, das Institut
Steineck, die berühmte Werkstätte seines Bruders, zu besichtigen.
Der Professor sträubte sich dagegen und schrie stirnrunzelnd:
"Ich bin bereit, Sie verstehen? Aber es gibt bei mir nichts zu sehen. Nicht
der Mühe wert. Ein Haus mit mehreren Zimmern und Meerschweinchenställen. In
jedem Zimmer steht ein Mensch, der experimentiert. Das ist alles. Sie verstehen?
Mein Bruder bringt mich immer in solche Verlegenheiten."
Mrs. Gothland lächelte:
"Die Herren werden Ihnen nicht glauben. Ihr Institut ist als eine
Sehenswürdigkeit bekannt."
Hierauf lachte Professor Steineck, daß es in der Halle dröhnte:
"Falsch! Mikroben wollen Sie sehen? Es ist das Charakteristische der
Mikroben, daß man sie nicht sieht, das heißt, nicht mit freiem Auge. Das sind
mir schöne Sehenswürdigkeiten. Überhaupt kennt man meinen Standpunkt. Züchte sie
nur einerseits und bekämpfe sie andererseits. Sie verstehen?"
"Nein l" brummte Kingscourt ergötzt. "Kein Wort versteh´ ich. Es scheint so
eine Art chemischer Küche zu sein. Was kochen Sie da eigentlich, Herr
Professor?"
Dieser schmunzelte sehr gemütlich:
"Post, Cholera, Dyphtheritis, Tuberkulose, Kindbettfieber, Hundswut,
Malaria..."
"Pfui Deibel !"
Mrs. Gothland sagte:
"Nämlich die Heilmittel gegen alle diese Feinde der Menschheit. Wir wollen
ihn aber nicht lange fragen und auch ohne ihn sein Institut besuchen. Fremden
von Distinktion ist der Eintritt nicht verboten. Es wird uns schon jemand
herumführen."
"Halt!" rief der Professor, "so will ich denn in Gottesnamen mitgehen. Sonst
stoßen Sie gerade auf meinen dümmsten Assistenten, der Ihnen den
Streptokokkenbazillus für den Cholerabazillus ausgibt. Sie verstehen?"
"Kein Wort !" gestand Kingscourt.
Die Gesellschaft löste sich für ein Weilchen auf. Der Architekt hatte die
Pläne eines neuen englischen Spitals, das in der Nähe von Jerusalem erbaut
werden sollte, für Mr. Hopkins mitgebracht, und die beiden hatten nun
miteinander einiges zu besprechen. Frau Sarah wollte vor allem Fritzchen
versorgen. David bat um Urlaub, weil er noch in das Franziskanerkloster müsse,
um den Pater Ignaz, einen der zur Feier des heutigen Abends geladenen Gäste,
abzuholen. Es wurde verabredet, daß man zum Nachtessen in der Villa des alten
Littwak wieder zusammenkomme. Mrs. Gothland übernahm es, die Herren pünktlich
hinzuführen, und dann fuhr sie in Begleitung Kingscourts, Friedrichs, Reschid
Beys und des Professors nach dem Institut Steineck, das in einer Viertelstunde
erreicht war. Es lag südlich am Seeufer, hinter einem Bergvorsprunge und war ein
schmuckloses Gebäude von mäßiger Ausdehnung,
Der Professor bemerkte erklärend:
"Wir brauchen für unsere Zwecke kein großes Haus. Mikroben nehmen nicht viel
Platz ein. Meine Stallungen befinden sich in den Zubauten, die Sie dort sehen.
Ich brauche sehr viele Pferde und anderes Getier. Sie verstehen?"
"Aha, Sie reiten viel aus?" sagte Kingscourt. "Begreif ich — in dieser
prachtvollen Gegend."
"Was wollen Sie von der Gegend?" rief Professor Steineck. "Ich brauche die
Pferde und Esel und Hunde, kurz, meine ganze Menagerie, zur Herstellung von
Serum. Ich erzeuge große Mengein dieser Heilmittel. Meine Ställe reichen bis
dort hinunter, wo Sie die Gebäude der Luftfabrik sehen."
"Wa-as?" schrie Kingscourt, "verehrtester Pferdevergifter, Sie werden mir
doch nicht erzählen, daß hier Luft fabriziert wird. Es gibt doch Luft jenug,
sogar janz famose zum Einatmen."
"Natürlich meine ich flüssige Luft, Mr. Kingscourt ! Sie verstehen?"
"Ach so ! Das verstehe ich freilich. Das hab' ich schon vor meinem Abgang aus
der jebildeten Welt in Amerika kennen jelernt. Also diese Industrie habt Ihr
auch herbekommen?"
"Diese und jede andere — alle! In der Kälteerzeugung besitzen wir sogar ein
gewisses Prestige. Weil wir ein warmes Land haben - wenigstens von hier den
Jordan hinunter ist es das ganze Jahr hindurch recht behaglich eingeheizt. Also
darum haben wir uns die Kälteindustrien besonders angelegen sein lassen. Sie
verstehen? So wie man die besten Öfen in den kalten Ländern hat, wahrend man in
Italien im Winter bitterlich friert. Ganz so haben wir uns für die Hitze mit
genügendem Eis zu versorgen gewußt. Wenn Sie zum Beispiel um die heiße
Jahreszeit auch nur in eines unserer bescheidenen Häuser kommen, werden Sie den
kühlenden Eisblock in der Mitte des Zimmers sehen. Wer um eine Kleinigkeit mehr
zahlen will, kauft sich einen Blumenstrauß im Eise und stellt ihn auf den
Mittagstisch."
"Kenn' ich !" sagte Kingscourt, "diesen Witz mit den frischen Blumen im
Eisblock hab' ich schon auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 jesehen."
"Ich wollte Ihnen auch nichts Neues erzählen. Wir haben uns eben alles
Vorhandene zu Nutzen gemacht. Die Kälteartikel sind bei uns ein Volksbedürfnis
und werden daher durch die Konkurrenz spottbillig in Massen erzeugt. Der
Minderbemittelte kann natürlich nicht wie die Wohlhabenden ins Libanongebirge
ziehen, wenn der Sommer kommt. Den ärmeren Europäern geht es ja geradeso. Aber
die Wissenschaft hat uns gelehrt, wie wir uns den Aufenthalt auf der
Erdoberfläche überall angenehmer und gesünder machen können. Sie verstehen? Wir
haben durch unsere technisch vorgebildete Jugend und durch die
Unternehmungslustigen alle bekannten Industrien hierher verpflanzt erhalten. Der
kosmopolitische Zug der Industrie war eine Erscheinung, die Sie schon zu Ihrer
Zeit gesehen haben. Warum hätten wir dies alles nicht auch bekommen sollen, da
es einträglich war? In unserer Erde staken Schätze, wenn man sie nur zu heben
verstand. Die chemischen Industrien erschienen hier am frühesten, sie sind ja
sozusagen am leichtesten transportabel. Mr. Kingscourt, haben Sie vielleicht im
vorigen Jahrhundert zufällig an einer Universität Chemie studiert?"
"Nee,
zufällig nich !"
"Da hätten Sie es hören können, wie man schon damals in gelehrtem Kreisen
über den Wert von Palästina dachte. Reschid Bey, der sich in Deutschland das
Doktorat der Chemie geholt hat, mag es Ihnen sagen."
Reschid sagte bescheiden:
"Sie bringen mich in Verlegenheit, Professor, wenn ich in Ihrer Gegenwart
mein bißchen Wissen auskramen soll. Übrigens wußte das vor zwanzig Jahren schon
jeder junge Student der Chemie, daß der Boden von Palästina ungehobene
Reichtümer enthielt. Das Jordantal und die Gegend um das Tote Meer waren
geradezu als Schulbeispiele bekannt. Ein deutscher Chemiker schrieb zu Ende des
vorigen Jahrhunderts über das Tote Meer:
"Dieses am tiefsten unter den Ozeanspiegel gelegene Wassertal bildet eine
fast konzentrierte Salzlauge von sich nicht wiederholender Zusammensetzung und
es hat Auswürflinge asphaltischer Massen, die auf solche Weise nirgends wieder
hervortreten..." Wenn Sie die Einrichtung unserer Wasserkräfte besichtigen,
meine Herren, werden Sie erfahren, wie wir uns den Niveauunterschied zwischen
diesem tiefsten Wasserspiegel der Erde und dem Mittelmeer zunutze machten. Aber
das ist eine andere Sache, die Sie später kennen lernen werden. Ich will Ihnen
nur sagen, daß das Tote-Meer-Wasser eine nahezu gesättigte salinische Lauge
vorstellt, wie sie ähnlich nur in Staßfurt vorkommt. Sie haben gewiß von den
Staßfurter Kalisalzwerken gehört, die den Weltmarkt beherrschten. Wir haben das
heute in einem noch viel größeren Umfange am Toten Meer..."
"Fabelhaft !" schrie Kingscourt.
"Gar nicht!" lächelte Reschid Bey. "Das ist alles so selbstverständlich wie
nur möglich. Was man in Staßfurt konnte, kann man doch auch am Toten Meer.
Freilich ist dieses unser Wasser viel reicher als irgend ein anderes der Welt.
Man muß ordentlich an die alten Sagen denken, in denen ein Hort in Fluten
versenkt wurde. Kinder glauben, daß ein solcher Hort nur in güldenen Spangen,
Kelten und Münzen bestehen kann. Aber die Salze des Toten Meeres sind auch Gold.
Der Bromgehalt dieses Wassers wird von keiner anderen natürlichen Lauge
erreicht. Sie wissen doch, welch ein kostbarer Stoff Brom ist. Und was erzeugen
wir sonst noch alles in dem fruchtbarsten Bezirke unseres Landes, der früher der
ödeste, der tote war ! Im Jordantal und am Toten Meer gibt es bituminöse Kalke,
aus denen der anerkannt beste Asphalt der Welt hergestellt wird. Der deutsche
Chemiker Elschner bemerkte aber auch seinerzeit, daß die geologische
Beschaffenheit der Gegend auf das Vorhandensein von Petroleum hindeute. Dieses
wurde tatsächlich erbohrt. Schwefel und Phosphate besitzen wir ebenfalls in
unerschöpften Massen. Die Bedeutung der Phosphate für die Kunstdüngerfabrikation
kennen sie so gut wie ich. Tatsächlich konkurrieren unsere Phosphate erfolgreich
mit den tunesischen und algerischen, und dabei ist ihre Gewinnung weit müheloser
und billiger als zum Beispiel die der Phosphate im amerikanischen Lande Florida.
Die künstlichen Dungmittel, die wir so nahe und wohlfeil haben konnten, trugen
begreiflicherweise zum großartigen Aufblühen unserer Landwirtschaft bei... Aber
ich fürchte, daß Mrs. Gothland sich bei diesen nüchternen Geschichten langweilen
wird."
"Durchaus nicht !" versicherte die Dame liebenswürdig.
Der Professor fügte hinzu:
"Im modernen Leben gibt es solche Zusammenhänge zwischen Industrie und
Landwirtschaft. Sie verstehen? Alles gehört zu allem. Es muß nur der
Unternehmungsgeist und das Wissen da sein, um die Verbindungen herzustellen. Ich
selbst, wie Sie mich da sehen, obwohl ich nur ein Esel der Gelehrsamkeit bin,
ich schaffe auch für die Industrie und Landwirtschaft."
"Wenn Sie mir das erklären können, verehrtester Mikrobenzüchter !" staunte
Kingscourt.
"Sollen Sie haben!" entgegnete Steineck schmunzelnd. "Es war eine bekannte
Tatsache der Bakteriologie, daß der Geschmack verschiedener Käse, das Aroma der
Tabaksarten von solchen Mikroorganismen herrührt, mit denen ich mich
herumzuschlagen pflege. Da haben wir uns also in diesem Institute bemüht, diese
kleinen Ursachen delikater Wirkungen herzustellen, um sie den Käsefabrikanten
und Tabakpflanzern zu liefern. Die Käsesorten unseres Landes wetteifern jetzt an
Güte mit den besten Schweizer und französischen Erzeugnissen. Und im warmen
Jordantale werden Rauchkräuter erzielt, die nicht hinter denen von Havannah
zurückbleiben."
Und er führte nun seine Gaste durch die Laboratorien der Anstalt, die dem
Pariser Institut Pasteur nachgebildet war. Seine zahlreiche Assistenten ließen
sich durch den Besuch nicht sonderlich stören und arbeiteten ruhig mit ihren
Prüfgläscben, Mikroskopen und an ihren Herden weiter, nachdem sie auf die
gestellten Fragen kurz und höflich Antwort erteilt hatten. Einer
schnauzte aber seinen Lehrer Steineck gemütlich grob an:
"Lassen Sie mich in Ruhe, Herr Professor ! Ich habe jetzt für solche
Fragereien keine Zeit. Der Kerl entschlüpft mir sonst wieder."
Steineck zog seine Gäste sofort folgsam aus der Stube und sagte draußen:
"Er hat ganz recht. Der Kerl ist nämlich sein Bazillus. Sie verstehen?"
Er führte sie dann in seine eigene Werkstätte, die ebenso einfach
ausgestattet war, wie die seiner jungen Gehilfen.
"Hier arbeite ich."
"Woran, wenn man tragen darf?" erkundigte sich Friedrich.
Der Blick des Gelehrten wurde träumerisch:
"An der Erschließung Afrikas !"
Die Besucher glaubten, nicht recht gehört zu haben, oder war
der Forscher doch ein bißchen übergeschnappt?
Kingscourt wiederholte mit verdächtigem Augenblinzeln:
"Sie sagen: an der Erschließung Afrikas?"
"Jawohl, Mr. Kingscourt. Ich hoffe nämlich, das Mittel gegen die Malaria
herauszubringen. Hier in Palästina sind wir zwar mit der Malaria ziemlich fertig
geworden. Dank unseren Entsumpfungsarbeiten, Kanalisationen, Dank den
Eukalyptuspflanzungen. Aber die Verhältnisse sind anders in Afrika. Dort sind
alle diese Aufwendungen nicht möglich, weil die Voraussetzung, die
Masseneinwanderung, fehlt. Der weiße Mensch, der Kolonisator, geht dort
zugrunde. Afrika wird für die Kultur erst dann eröffnet sein, wenn die Malaria
unschädlich gemacht ist. Erst dann werden kolossale Gebietsstrecken für die
überproduzierten Bevölkerungen der europäischen Staaten zugänglich. Erst dann
wird den proletarischen Massen ein gesunder Abfluß verschafft. Sie verstehen?"
Kingscourt lachte:
"Sie wollen also die weißen Menschen in den schwarzen
Erdteil
verfrachten. Sie Zauberkünstler?"
Aber Steineck erwiderte ernst:
"Nicht nur die Weißen l Die Schwarzen auch. Es gibt noch eine ungelöste Frage
des Völkerunglücks, die nur ein Jude in ihrer ganzen schmerzlichen Tiefe
ermessen kann. Das ist die Negerfrage. Lachen Sie nicht, Mr. Kingscourt ! Denken
Sie an die haarsträubenden Grausamkeiten des Sklavenhandels. Menschen, wenn auch
schwarze Menschen, wurden wie Tiere geraubt, fortgeführt, verkauft. Ihre
Nachkommen wuchsen in der Fremde gehaßt und verachtet auf, weil sie eine
andersfarbige Haut hatten. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, wenn man mich
auch lächerlich finden mag: nachdem ich die Rückkehr der Juden erlebt habe,
möchte ich auch noch die Rückkehr der Neger vorbereiten helfen."
"Sie irren," sagte Kingscourt; "ich lache nicht. Im Gegenteil — ich finde es
sogar großartig, hol' mich der Deibel ! Sie zeigen mir Horizonte, die ich mir
nicht 'mal im Traume vorgestellt hätte."
"Darum arbeite ich an der Erschließung Afrikas. Alle Menschen sollen eine
Heimat haben. Dann werden sie gegeneinander gütiger sein. Dann werden sich die
Menschen besser lieben und verstehen. Sie verstehen?"
Und Mrs. Gothland sprach in sanftem Tone aus, was sich die drei anderen
dachten:
"Herr Professor Steineck — Gott segne Siel"