Fünftes Kapitel
DIE DAMEN WAREN SCHON IN ABENDTOILETTE. FRAU SARAH SAGTE: "Die Herren
werden wohl hier im Theater nicht etwas sehen wollen, was sie ebensogut in
London, Berlin oder Paris genießen können. Obwohl wir gerade jetzt eine
vorzügliche französische und die beste italienische Schauspielergesellschaft in
Haifa haben. Ich meine, die jüdischen Schauspiele werden Sie mehr
interessieren."
"Es gibt jüdische Schauspiele?" staunte Friedrich.
Kingscourt scherzte: "Haben Sie denn nicht immer jehört und jelesen, daß das
Theater janz und jar verjudet ist?"
Frau Sarah warf einen Blick in die Zeitung: "Man spielt heute im
Nationaltheater ein biblisches Drama: Moses!"
"Das ist eine sehr erhabene Dichtung," erklärte David.
"Aber doch zu ernst. In der Oper gibt man Sabatai Z'wi. In einigen Volkstheatern
werden Possen im Jargon aufgeführt. Die sind lustig, aber nicht sehr
geschmackvoll. Ich würde die Oper empfehlen."
Dafür war auch Mirjam. Es sei das schönste jüdische Tonwerk der letzten
Jahre, die doch so reich waren an musikalischen Hervorbringungen. Aber man müsse
sich beeilen, weil die Fahrt nach dem Opernhause eine halbe Stunde dauere.
"Werden wir noch Plätze kriegen?" fragte Kingsoourt.
David antwortete: "An der Kasse wäre wohl um diese Stunde nichts mehr zu
haben, weil die meisten Genossenschafter heute ihr Bezugsrecht ausgeübt haben
dürften. Aber ich habe von der Gründung des Hauses her meine Loge."
"Auch die Oper eine Genossenschaft?" rief Löwenberg.
"Abonnement, Fritze! Sie nennen das hier Genossenschaft. Wird ähnlich sein
wie bei der Zeitung."
"Ganz ähnlich," lachte David. "Lassen Sie sich nicht verblüffen, Mr. Kingscourt.
Es gibt nichts Neues bei uns, es sieht nur so aus." Er hatte ein paar weiße
Handschuhe hervorgeholt und begann sich sie über die Finger zu ziehen.
Handschuhe ! Und gar weiße. Weder Kingscourt noch Friedrich hatten
welche. Auf ihrer Insel im stillen Ozean waren sie zwanzig Jahre lang
solcher Flausen enthoben gewesen. Aber da' man doch nun wieder in die
verzweifelte Lage geraten war, mit Damen ins Theater gehen zu müssen,
wollte man sich wie ein zivilisierter Mensch benehmen. Kingscourt
fragte, ob man auf dem Wege nach der Oper beim Laden eines
Handschuhmachers vorbeikäme. Nein. Es gebe überhaupt keine derartigen
Läden. Da wäre der alte Herr beinahe böse geworden:
"Uzen Sie mich? Sie haben doch selbst schon die Lederhülsen auf den Daumen.
Oder machen Sie sich die selbst? Sie sind wohl auch in der Genossenschaft der
Handschuhmacher?"
Es war ein Mißverständnis, das unter allgemeiner Heiterkeit aufgeklärt wurde.
Es gab nämlich keine besonderen Geschäfte für Handschuhe, weil man diese wie
alle anderen Bekleidungsgegenstände in den großen Kaufhäusern feilhielt.
Vor der Freitreppe von Friedrichsheim standen zwei Motorwagen bereit, als die
Gesellschaft aufbrach, um nach dem Opernhause zu fahren. Im ersten nahm Frau
Sarah, Mirjam und Friedrich Platz, im zweiten Kingscourt und David. Es war ein
Abend des Südens, an die weichen Nächte der Riviera gemahnend. Unter ihnen lag
das Lichtmeer von Haifa. Im Hafen und auf der Reede bis nach Akko hin gab es
Schwärme von Glühkörperchen im spiegelnden Wasser, das waren die Lampen der
vielen Schiffe.
Als sie am Hause Reschid Beys vorbeikamen, hörten sie den Gesang einer
wundervollen Frauenstimme heraus.
Mirjam sagte:
"Die da singt, ist die Gattin Reschid Beys. Sie ist unsere Freundin, ein sehr
artiges, gebildetes Geschöpf. Wir kommen oft mit ihr zusammen, aber nur in ihrem
Hause. Die mohammedanischen Gebräuche, an denen Reachid festhält, machen es ihr
schwer, zu uns zu kommen."
"Aber Sie dürfen nicht glauben, daß Fatma sich darum nicht wohl fühlte,"
fügte Sarah hinzu.
"Es ist eine vollkommen glückliche Ehe. Sie haben reizende Kinder. Nur tritt
die Frau nicht aus ihrer friedlichen Abgeschlossenheit heraus. Das ist gewiß
auch eine Form der Glückseligkeit.
Ich begreife sie ganz gut, obwohl ich ein vollberechtigtes Mitglied der neuen
Gesellschaft bin. Wenn es der Wunsch meines Mannes wäre, würde ich ohne weiteres
das Leben Fatmas führen."
"Das kann ich bestätigen," ergänzte Mirjam, indem sie ihre Hand liebkosend
auf die Hand der neben ihr sitzenden Schwägerin legte.
Friedrich sprach nachdenklich:
"Ich verstehe. Hier in Ihrer neuen Gesellschaft kann jeder nach seiner Fasson
leben und selig werden."
Sarah erwiderte:
"So ist es, Herr Doktor ! Jeder und jede."
Nun waren sie wieder in den hellerleuchteten Straßen der Stadt. Vor einem
riesigen Gebäude, aus dessen weiten Fensteröffnungen Lichtfluten herausdrangen,
hielten die beiden Wagen. Das war doch nicht etwa die Oper? Nein! Ein Warenhaus
nach Pariser Art war es.
"Das ist ja der "Bon Marche" !" rief Kingscourt.
David lächelte:
"Etwas Ähnliches. Wir haben nur solche Kaufhäuser. Es gibt gar keine kleinen
Läden."
"Was? Die habt ihr alle umgebracht? Die armen kleinen Schufte von Händlern
habt ihr mausetot gemacht?"
"Nicht doch, Mr. Kingsoourt! Wir haben sie nicht zu töten gebraucht, weil wir
sie gar nicht entstehen ließen."
Friedrich, der mit den Damen ein wenig nach den ausliegenden Modeschätzen
geblickt hatte, mischte sich nun in das Gespräch:
"Wie? Sie haben den Kleinhandel verboten? Ist das Ihre Freiheit?" '
"Bei uns ist jeder frei und kann tun und lassen, was er will," entgegnete
David. "Bestraft werden nur dieselben Verbrechen und Vergehen, die man in den
Kulturländern Europas zu ahnden pflegte. Verboten ist bei uns nichts, was nicht
auch dort verboten war. Und wir halten ja den Kleinhandel nicht für eine
Schlechtigkeit, sondern für etwas Unwirtschaftliches. Das war eines der
Probleme, die unsere Gesellschaft lösen mußte. Es war höchst wichtig, besonders
in den Anfängen, weil ja große Massen unserer Leute vom Kleinhandel herkamen.
Mein guter Vater selbst — Sie erinnern sich wohl noch, Herr Doktor - verdiente
sich unser bißchen hartes Brot als Hausierer, und das ist die ärmste,
unglücklichste Art des Kleinhandels. Er ging mit seinem Kästchen von Schenke zu
Schenke."
"Hören Sie mal, Herr Littwak," brummte Kingscourt; "Sie scheinen sich dessen
nicht zu schämen?"
"Ich? Ich bin weit davon entfernt, mich dessen zu schämen. Für mich hat er
sich geplagt und schinden lassen. Da wäre ich doch der letzte Mensch."
"Lassen Sie sich die Hand drücken! das gefällt mir." Und er schüttelte die
Rechte des jungen Mannes ganz energisch.
Während sie nach der Abteilung der Handschuhe weitergingen, forschte
Friedrich noch:
"Wie sind Sie nun der Frage des Kleinhandels beigekommen, wenn nicht durch
ein Gesetz oder Verbot?"
"Ganz einfach! Durch das, was Sie hier sehen: durch das große Warenhaus.
Diese Riesenbasare und Versandgeschäfte mit Zweigniederlassungen an vielen Orten
mußten im Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen entstehen. Es war keinem
Zufall, keinem Genieblitz eines geistreichen Kaufmannes zu verdanken. Es lag
eiserne Notwendigkeit in dieser Entwicklung. Die Art der Massenproduktion
erzwang sich diese Art des Absatzes. Natürlich gingen dabei die kleinen
Geschäftsleute dumpf und fassungslos zugrunde, wie die Fuhrmänner auf der
Landstraße, als die Eisenbahn erschien. Nur pflegten die Kutscher ihr Los
schneller zu erraten, als die Ladenmenschen mit ihrer kurzsichtigen Pfiffigkeit.
— Diese waren übrigens auch viel hilfloser, weil ihr Geschäftchen hauptsächlich
aus ihrem Kapitälchen bestand, und das war in der Regel schon verloren, wenn
ihnen die erste Ahnung der Gefahr aufstieg. Sie waren an ihrem Ruin unschuldig,
die guten Krämerseelen. Sie waren von der neuen Zeit ohne Kriegserklärung
überfallen worden. Bei uns aber - das ist einer der Schlüssel unseres Erfolges -
kam es gar nicht zur Einrichtung der überlebten Wirtschaftsformen. Wir fingen
gleich mit der Neuzeit an. Niemand war so dumm, sich einen kleinen Laden neben
einem großen Kaufhause zu errichten. Niemand ging mehr mit dem Pack auf dem
Rücken von Haus zu Haus oder von Ort zu Ort, wenn er wußte, daß ihm die
Versandgeschäfte mit Preislisten, Mustersendungen und Zeitungsannoncen längst
zuvorgekommen waren. Kleinhandel und Hausierhandel versprachen keinen Gewinn
mehr — darum wandten sich unsere Leute diesen Erwerbszweigen gar nicht erst zu,
als sie in die neuen Verhältnisse kamen. Im alten Europa, das so vielerlei
erworbene Rechte ungleichen Datums zu schützen hatte, war das eine böse Frage.
Der untere Teil des kaufmännischen Mittelstandes geriet durch die großen
Magazine in Todesgefahr. Sollte man die großen Kaufhäuser von Amts wegen sperren
— bei welchem Umfange, begann das Warenhaus "groß" zu sein? Sollte man sie durch
Steuern erschöpfen? Davon hatte der Fiskus eine Kleinigkeit und die Händler
nicht viel. Aber das Publikum wollte, brauchte diese Häuser, wo man ohne
Zeitverlust alle möglichen Gegenstände zu Preisen des Massenumsatzes findet Der
Fabrikant kann den großen Häusern billiger liefern als den kleinen. Kurz:
Produktion und Konsumtion forderten das moderne Warenhaus. Bei uns wurde dadurch
niemand ruiniert, weil das Verkehrsleben erst begann. Dagegen war damit für uns
ein sozialpolitischer Zweck verknüpft: wir konnten so die Seele und den Leib
unserer kleinen Leute von gewissen alten, unwirtschaftlichen und schädlichen
Formen des Handels heilen."
Die Damen gaben leichte Zeichen der Ungeduld, als David so ausführlich
erklärte. Man würde zu spät in die Oper kommen. Aber Kingscourt wollte doch noch
etwas wissen, während er seine großen, roten Hände der Verkäuferin hinhielt, die
sie ihm in die weißen Handschuhe pressen mußte:
"Da stimmt mir etwas nicht. Euer Hochwohlgeboren! Heute, seh' ich, habt ihr
'nen großen Verkehr. Aber so war's doch nicht gleich? Man hat doch nicht diese
Warenpaläste auf die nackte Erde hingestellt, und dann sind plötzlich die Kunden
'reingeströmt. Das können Sie Ihrem Fritzchen erzählen, nicht so 'nem alten
Wüstenpilger wie mir."
"Nein, Mr. Kingscourt, so war es auch nicht. Die Dinge haben sich natürlich
und selbstverständlich entwickelt. Als die Judenwanderung nach Palästina im
großen Maßstabe begann, da war von einem Tage auf den anderen ein enormer
Warenbedarf eingetreten. Wir produzierten noch gar nichts und brauchten alles.
Dieser Zustand war in der ganzen Welt bekannt, weil sich die Juden Wanderung in
größter Öffentlichkeit vollzog. Infolgedessen beeilten sich die Inhaber von
Warenhäusern, an den wichtigsten Punkten Palästinas Zweigniederlassungen zu
errichten. Nicht nur Juden benutzten diese Konjunktur, ihre Ladenhüter
loszuwerden. Deutsche, englische, französische, amerikanische Kaufhäuser waren
im Handumdrehen aufgebaut. Zuerst waren es nur eiserne Baracken. Als mit dem
Strom der Einwanderung die Bedürfnisse sich mehrten und verfeinerten, als es
nicht mehr galt, die armen Ankömmlinge der ersten Zeit zu versorgen, weil sie
anfingen, seßhaft und bemittelt zu werden — da verwandelten sich die Baracken
allmählich in steinerne Kaufhäuser. Die neue Gesellschaft hütete sich davor, sie
zu bedrängen oder zu unterdrücken. Im Gegenteil, sie wurden begünstigt, weil sie
den doppelten Vorteil boten, die notwendigen Massenartikel rasch und billig ins
Land zu schaffen, und unsere kleinen Leute vom unfruchtbaren Handel abzuhalten.
Wir wollen kein Volk von Krämern sein."
"Wirklich?" fragte Friedrich. "Es gibt keine Händler außer den großen
Warenhäusern?"
"O doch!" war die Antwort. "Die Menschen sind ja bei uns nicht reglementiert.
Es gibt weder eine monarchische noch eine sozialistische Tyrannei. Jeder treibt
es, wie er's will. Die kostbarsten und die mindestwertigen Sachen, zum Beispiel
Schmucksachen und aller Trödel, werden von Einzelnen gehandelt. Aber das sind
durchaus nicht lauter Juden. Griechen, Levantiner, Armenier, Perser stellen zu
diesen Beschäftigungen ein ansehnlicheres Kontingent als die Juden, insbesondere
als die Juden, die Mitglieder unserer neuen Gesellschaft sind."
"Wie? Gibt es auch Juden, die nicht zu Ihrer Gesellschaft gehören?"
"Jawohl... Aber nun wollen wir gehen." David wandte sich zur Verkäuferin:
"Was kosten die Handschuhe der beiden Herren?"
"Sechs Schekel."
Kingscourt blickte verwundert:
"Alle Deibel ! Was ist das?"
David lächelle:
"Unsere Währung. Wir haben unsere althebräische Münze neu gewertet. Ein
Schekel ist so viel wie ein französischer Franc. Da Sie nicht vorgesehen sind,
erlauben Sie wohl, daß ich für Sie bezahle."
Er warf ein Goldstück auf den Kassentisch, erhielt einige Silberlinge zurück,
und dann schritten die Damen und Herren dem Ausgange zu.
Kingscourt kniff David in den Arm und schnauzte ihn lustig an:
"Das Jeld habt ihr also nicht abgeschafft in eurer Gesellschaft? Hätte mich
auch von euch gewundert."
David war nun schon mit der Ausdrucksweise des Alten befreundet, und er gab
in ähnlichem Tone zurück:
"Nee, Mister Kingscourt, vom Jelde haben wir uns nicht trennen können.
Erstens, weil wir verdammt habgierige Juden sind. Zweitens, weil das Geld ein
ausgezeichnetes Mittel ist. Man müßte es erfinden, wenn es nicht schon da wäre."
"Jüngling, Sie reden mir aus der Seele! Das hab' ich immer gesagt: das Jeld
ist 'ne gute, schöne Sache. Die Menschen haben es nur verdorben."