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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND
Roman von Theodor Herzl
Wenn ihr wollt,
ist es kein Märchen
DEM ANDENKEN
meines Vaters Jakob Herzl, geb. 17. April 1836, gest. 9. Juni 1902, und
meiner Schwester Pauline Herzl, geb. 10. März 1859. gest. 7. Februar 1878
gewidmet.
ERSTES BUCH:
Ein gebildeter und verzweifelter junger
Mann
Erstes Kapitel
DR. FRIEDRICH LÖWENBERG SASS IN TIEFER
MELANCHOLIE AN DEM runden Marmortische seines Kaffeehauses. Es war eines der
alten gemütlichen Wiener Cafes auf dem Aisergrunde. Er kam seit Jahren
dahin, schon als Student. Mit der Regelmäßigkeit eines Bureaukraten pflegte
er um die fünfte Nachmittagsstunde einzutreten. Der blasse, kranke Kellner
begrüßte ihn ergebenst. Löwenberg machte eine höfliche Verbeugung vor der
ebenfalls blassen Kassiererin, mit der er nie sprach. Dann setzte er sich an
den runden Lesetisch, trank seinen Kaffee, las alle Zeitungen durch, die ihm
der Kellner beflissen brachte. Und wenn er mit den Tages- und
Wochenzeitungen, Witzblättern und Fachjournalen fertig' war, was nie weniger
als anderthalb Stunden in Anspruch nahm, kamen die Gespräche mit Freunden
oder die einsamen Träume.
Das heißt: ehemals waren es Plaudereien
gewesen, jetzt waren es nur noch Träumereien, denn die zwei guten Gesellen,
die jahrelang mit ihm diese eigentümlich leeren und charmanten Abendstunden
im Cafe Birkenreis verbracht hatten, sie waren beide in den letzten Monaten
verstorben. Beide waren älter gewesen als er, und es war wie der eine,
Heinrich, in seinem Abschiedsbrief an Löwenberg schrieb, bevor er sich eine
Revolverkugel in die Schläfe schoß: „es war sozusagen chronologisch
begreiflich, daß sie früher verzweifeln als er". Der andere, Oswald, war
nach Brasilien gezogen, um für eine Ansiedlung jüdischer Proletarier tätig
zu sein, und dort war er unlängst dem gelben Fieber erlegen.
So kam es, daß Friedrich Löwenberg seit
einigen Monaten einsam an dem alten Tische saß und, wenn er sich durch den
Zeitungshaufen durchgeschlagen hatte, vor sich hinträumte, ohne eine
Ansprache zu suchen. Er war zu müde, neue Bekanntschaften zu schließen, als
wäre er nicht dreiundzwanzig Jahre alt, sondern ein Greis gewesen, der schon
zu oft hatte von lieben Leuten Abschied nehmen müssen. Da saß er und starrte
in den leichten Dunst hinein, der die ferneren Winkel des Saales
verschleierte. Um den Billardtisch standen mit langen Stöcken und kühnen
Stoßgeberden einige junge Leute. Die waren nicht unvergnügt, obwohl sie sich
in ähnlicher Lage befanden, wie er: es waren angehende Ärzte, neugebackene
Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die höheren Studien hatten sie
vollendet, und zu tun gab es nichts. Die meisten waren Juden und pflegten zu
klagen, wenn sie nicht gerade Billard oder Karten spielten, wie schwer es
„in dieser Zeit" sei, das Fortkommen zu finden. Einstweilen vertrieben sie
sich diese Zeit mit endlosen Spielpartien. Löwenberg bedauerte und beneidete
zugleich diese Gedankenlosen. Sie waren eigentlich nur bessere Proletarier,
Opfer einer Anschauungsweise, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in den
mittleren Schichten der Judenschaft geherrscht hatte. Die Söhne sollten
etwas anderes werden, als die Väter gewesen. Los vom Handel, von den
Geschäften. Da hatte ein Massenauszug des Nachwuchses nach den „gebildeten"
Berufen stattgefunden. Das Ende war ein jammervoller Überfluss an studierten
Leuten, die keine Beschäftigung fanden, zu bescheidener Lebensführung nicht
mehr taugten, in Ämtern nicht unterschlüpfen konnten, wie ihre christlichen
Kollegen, und sozusagen auf dem Markte lagen. Dabei hatten sie
Standespflichten, ein kümmerlich hochmütiges Standesbewusstsein und recht
mittellose Titel. Die einiges Vermögen besaßen, konnten es langsam
aufzehren, oder sie lebten aus der väterlichen Tasche weiter.
Andere lauerten auf die „gute Partie", mit
der hübschen Aussicht, Eheknecht im Solde eines Schwiegervaters zu werden.
Die dritten unternahmen eine rücksichtslose und nicht immer reinliche
Konkurrenz in Berufen, welche eine vornehmere Lebenshaltung erforderten. So
daß man das wunderliche und traurige Schauspiel hatte, sie, die nicht
einfache Kaufleute sein wollten, als „Akademiker" Geschäfte machen zu sehen:
Geschäfte mit geheimen Krankheiten oder unerlaubten Prozessen. Manche wurden
aus Not Journalisten und handelten mit öffentlicher Meinung. Noch andere
tummelten sich in Volksversammlungen herum, hausierten mit wertlosen
Schlagworten, um bekannt zu werden und parteiliche Beziehungen zu ergattern,
die später Nutzen bringen mochten.
Keinen dieser Wege wollte Löwenberg gehen.
„Du taugst nicht fürs Leben," hatte der arme Oswald ihm vor der Abreise nach
Brasilien in grimmiger Laune gesagt, „denn du ekelst dich vor zu vielen
Dingen. Man muss was hinunterschlucken können, zum Beispiel Ungeziefer,
Unrat. Davon wird man dick und kräftig, und man bringt es zu etwas. Aber du,
du bist nichts als ein feiner Esel. Geh' in ein Kloster, Ophelia!... Daß du
ein anständiger Mensch bist, wird dir niemand glauben, weil du ein Jud'
bist... also was? Du wirst mit den paar Groschen Erbteil früher als mit
deiner Kechlspraxis fertig werden. Dann wirst du doch etwas anfangen müssen,
wovor du dich ekelst — oder dich aufhängen. Ich bitte dich, kauf dir einen
Strick, solange du noch einen Gulden hast. Auf mich kannst du nicht rechnen.
Erstens werde ich nicht hier sein, zweitens bin ich dein Freund."
Oswald hatte ihn bereden wollen, mit nach
Brasilien zu gehen. Friedrich Löwenberg aber konnte sich dazu nicht
entschließen. Den heimlichsten Grund seiner Weigerung nannte er freilich dem
Freunde nicht, der damals hinauszog, um auf fremder Erde früh den Tod zu
finden. Es war ein blonder, schwärmerischer Grund, ein äußerst süßes
Geschöpf. Nicht einmal den beiden vertrauten Freunden wagte er von
Ernestinen zu sprechen. Er fürchtete die Scherze über sein zartestes Gefühl.
Und nun waren die beiden Guten nicht mehr da. Er konnte sie nicht mehr, auch
wenn er wollte, um ihren Rat und ihre Teilnahme bitten. Denn es war eine
schwere, schwere Sache. Er wollte sich vorstellen, was wohl die beiden dazu
gesagt hätten, wenn sie nicht von ihm gegangen wären, sondern noch dasäßen
auf ihren alten Plätzen an dem runden Lesetische. Er schloss die Augen ein
wenig und träumte das Gespräch.
„Meine Freunde, ich bin verliebt — nein,
ich liebe..."
„Armer Kerl!" würde Heinrich sagen.
Oswald aber: „Eine solche Dummheit sieht dir ganz ähnlich, lieber
Friedrich."
„Es ist mehr als eine Dummheit, meine
liebein Freunde, es ist schon ausgewachsener Wahnsinn. Denn Herr Löffler,
ihr Vater, wird mich wahrscheinlich auslachen, wenn ich ihn um die Hand
Ernestinens bitte. Ich bin nichts als ein Advokaturskandidat mit vierzig
Gulden Monatsgehalt. Ich habe nichts, gar nichts mehr. Die letzten Monate
waren mein Ruin. Die wenigen hundert Gulden, die noch von meinem Erbe übrig
waren, sind aufgezehrt. Ich weiß ja, daß es ein Unsinn war, mich so von
allem zu entblößen. Aber ich wollte in ihrer Nähe sein, ihre Anmut sehen,
ihre holde Stimme hören. Da musste ich im Sommer den Kurort besuchen, wo sie
war, und nun Theater, Konzerte. Ich mußte mich auch gut kleiden, um in ihre
Gesellschaften zu kommen. Und jetzt habe ich nichts mehr und liebe sie noch
immer so, nein, mehr als je."
„Und was willst du tun?" würde Heinrich
fragen. „Ich will ihr sagen, daß ich sie liebe, und will sie bitten, ein
paar Jahre auf mich zu warten, bis ich mir eine Existenz geschaffen habe."
Da hörte er im Traume Oswalds höhnisches
Lachen „Jawohl, lass warten! So unvernünftig ist Ernestine Löffler nicht,
daß sie auf einen Hungerleider warten wird, bis sie verblüht ist. Hahaha!"
Aber das Lachen erscholl wirklich neben
Friedrich Löwenberg, und er öffnete bestürzt die Augen, Herr Schiffmann, ein
junger Bankbeamter, den Friedrich im Löfflerschen Hause kennengelernt hatte,
stand vor ihm und lachte herzlich:
„Scheinen gestern spät ins Bett gegangen zu
sein, Herr Doktor, daß Sie jetzt schon schläfrig sind."
„Ich habe nicht geschlafen," sagte Friedrich verlegen.
„Na, heute wird es auch lange dauern. Sie gehen doch zu Löfflers?" Herr
Schiffmann setzte sich ungezwungen an den Lesetisch.
Friedrich konnte den Burschen nicht
sonderlich leiden. Dennoch ließ er sich seine Gesellschaft gefallen, weil er
mit ihm von Ernestinen reden durfte und öfters durch ihn erfuhr, in welches
Theater Ernestine gehen werde. Herr Schiffmann hatte nämlich feine
Beziehungen zu Theaterkassierern und verschaffte Sperrsitze selbst zu den
unzugänglichsten Vorstellungen.
Friedrich sagte: „Ja, ich bin heute auch zu
Löfflers eingeladen."
Herr Schiffmann hatte eine Zeitung in die
Hand genommen und rief aus: „Das ist doch sonderbar!"
„Was denn?"
„Diese Annonce!"
„Ah, Sie lesen auch die Annoncen?" sagte Friedrich, ironisch lächelnd.
„Wie heißt: auch?" erwiderte Schiffmann.
„Ich lese hauptsächlich die Annoncen. Die sind das Interessanteste in der
Zeitung — vom Börsenbericht abgesehen."
„So? Ich habe den Börsenbericht noch nie
gelesen."
„Nun ja, Sie!... Aber ich ich brauche nur
einen Blick auf den Kurszettel, so sag' ich Ihnen die ganze europäische
Lage. Dann kommen aber gleich die Annoncen. Sie haben keine Ahnung, was da
alles drin steht. Das ist, wie wenn ich auf einen Markt geh. Da gibt es eine
Menge Sachen und Menschen zu verkaufen. Das heißt: zu verkaufen ist ja
eigentlich alles in der Welt — nur der Preis ist nicht immer zu
erschwingen... Wenn ich da hereinschau' in den Inseratenteil, erfahr' ich
immer, was es für Gelegenheiten gibt. Alles soll man wissen, nichts soll man
brauchen... Aber da seh' ich schon seit ein paar Tagen eine Annonce, die ich
nicht versteh'."
„Ist sie in einer fremden Sprache?" „Da
sehen Sie her, Doktor!" Schiffmann hielt ihm das Blatt hin und deutete auf
eine kleine Anzeige, die so lautete:
„Gesucht wird ein gebildeter und
verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes
Experiment zu machen. Anträge unter N.O. Body an die Expedition."
„Ja, Sie haben recht," sagte Friedrich,
„das ist ein merkwürdiges Inserat. Ein gebildeter und verzweifelter junger
Mann! Solche sind vielleicht zu finden. Aber der Nachsatz macht die Sache
schwerer. Wie verzweifelt muß einer sein, wenn er mit seinem Leben ein
letztes Experiment wagen soll."
„Er scheint ihn auch nicht gefunden zu
haben, der Herr Body. Ich seh' die Annonce immer wieder. Wissen möcht' ich
aber doch, wer dieser Body mit dem sonderbaren Geschmack ist."
„Das ist niemand."
„Wie heißt niemand?"
„N. 0. Body = nobody. Niemand auf Englisch."
„Ah, so... Ans Englische hab' ich nicht
gedacht. Alles soll man wissen, nichts soll man brauchen... Aber es wird
Zeit, wenn wir nicht zu spät zu Löfflers kommen wollen. Grad' heute muß man
pünktlich sein."
„Warum gerade heute?" fragte Löwenberg.
„Bedaure, kann ich nicht sagen. Bei mir ist
Diskretion Ehrensache ... Aber Sie können sich auf eine Überraschung gefasst
machen ... Kellner, zahlen!"
Eine Überraschung? Friedrich empfand
plötzlich eine unbestimmte Angst.
Als er mit Schiffmann das Kaffeehaus
verließ, bemerkte er einen Knaben von etwa zehn Jahren außen in der
Türnische. Der Junge hatte in seinem dünnen Röckchen die Schultern hoch
hinaufgezogen, die Arme verschränkt an den Leib geklemmt, und er stampfte
mit den Füßen den leicht herangewehten Schnee dieses geschützten Winkels.
Das Hüpfen nahm sich beinahe possierlich aus. Aber Friedrich sah, daß das
arme Kind in den zerrissenen Schuhen bitterlich fror. Er griff in die
Tasche, suchte beim Scheine der nächsten Laterne drei Kupferkreuzer aus dem
Kleingelde hervor und gab sie dem Knaben. Dieser nahm sie, sagte leise mit
fröstelnder Stimme „Dank!" und lief schnell davon.
„Was? Sie unterstützen den Straßenbettel?"
sagte Schiffmann indigniert.
„Ich glaube nicht, daß dieser Kleine sich
zum Vergnügen im Dezemberschnee herumtreibt... Mir scheint auch, es war ein
Judenjunge."
„Dann soll er sich an die Kultusgemeinde wenden oder an die israelitische
Allianz und nicht am Abend bei Kaffeehäusern herumstehen!"
„Regen
Sie sich nicht auf, Herr Schiffmann, Sie haben ihm doch nichts gegeben."
„Mein lieber Doktor," sagte Schiffmann bestimmt, „ich bin Mitglied des
Vereines gegen Verarmung und Bettelei. Jahresbeitrag ein Gulden."
Fortsetzung:
Zweites Kapitel
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